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1.400 Jahre arabische Geschichte
Eine Sprache, viele Kulturen

Die "Geschichte der arabischen Völker" des 1993 verstorbenen Oxford-Historikers Albert Hourani ist ein Klassiker. Jetzt ist das Werk neu erschienen - weitererzählt von Malise Ruthven bis zum Arabischen Frühling. Eine literarische Reise durch 1.400 Jahre arabischer Geschichte.

Von Jan Kuhlmann | 20.10.2014
    Flaggen von Mitgliedsländern der Arabischen Liga
    Flaggen von Mitgliedsländern der Arabischen Liga (dpa / picture alliance / Youssef Badawi)
    Albert Hourani war nicht einfach nur ein Historiker. Der Oxford-Professor gehörte zu den wenigen Denkern, die man mit gutem Gewissen als Universalgelehrte bezeichnen konnte. Als Sohn libanesischer Einwanderer kam er 1915 in Manchester auf die Welt. Houranis Familie hatte es mit Baumwollhandel zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Seine Leidenschaft galt der Geschichte des Nahen Ostens. Aber er war auch sehr vertraut mit Philosophie, europäischer Geistesgeschichte, Soziologie und Ökonomie. Das findet sich in seinen Büchern wieder, in denen er immer wieder den großen Rahmen zeichnete. Damit hat er seine Zunft über Jahrzehnte geprägt, sagt der Historiker Eugene Rogan, Houranis Nachfolger in Oxford:
    "Albert Hourani war der größte Nahost-Historiker, den ich je gekannt habe. Als ich 1991 meine Stelle in Oxford antrat, lebte er noch. Wir trafen uns jeden Donnerstag. Unsere Diskussionen haben mir sehr viel über mein Handwerk als Historiker beigebracht. Ich fühlte mich sehr privilegiert, mit jemandem zusammenarbeiten zu dürfen, der ein solches Wissen besaß - nicht nur über die arabische Geschichte, sondern auch über die Rolle der arabischen Historie in der Weltgeschichte."
    Houranis Opus Magnum ist die Geschichte der arabischen Völker, die jetzt erneut auf Deutsch aufgelegt wurde. Es ist das Standardwerk zu dem Thema - ein Buch, das für jeden Studenten des Fachs bis heute eine Pflichtlektüre darstellt. Der Band besticht durch Houranis eleganten Erzählstil, aus dem seine ganze Gelehrsamkeit spricht. Hourani legt die politische Geschichte der Region seit dem Auftreten des Propheten Muhammad im 7. Jahrhundert dar. Aber er blickt genauso auf die Wirtschaft, die Entwicklung der arabischen Gesellschaften und die Geistesgeschichte, die große Philosophen und Denker hervorgebracht hat. Vor allem aber beschreibt er ausführlich, wie sich im Mittelalter der Islam ausformt, auf den der Sohn einer protestantischen Familie mit Respekt schaute - und in dem Buch gegen Kritiker verteidigt.
    "Einige nichtmuslimische Wissenschaftler [...] sagen, der Koran enthält wenig mehr als Entlehntes jener Vorstellungen und Ideen, die Muhammad in seiner Zeit und an seinem Ort zugänglich waren. Wer das behauptet, missversteht jedoch, was Originalität bedeutet: Was immer von der religiösen Kultur der damaligen Zeit Übernommenes war, wurde so abgewandelt und umgeformt, dass für alle, die die Botschaft annahmen, die vertraute Welt neu erschaffen war."
    Hourani verstrickt sich nicht im Kleinklein. Sein Wissen verwebt er in dem Buch so meisterlich miteinander, dass die großen Linien hervortreten und ein klares Muster entsteht. Immer wieder geht es um den Aufstieg und Fall von Dynastien. Seine Leitidee findet er bei Ibn Chaldun, einem der größten arabischen Gelehrten im Mittelalter. Von Ibn Chaldun übernimmt Hourani das Konzept der Asabiya. Das Wort lässt sich auf Deutsch als Gemeinschaftsgeist oder Clandenken übersetzen - für Hourani seit Jahrhunderten das wichtigste Machtinstrument eines absoluten Herrschers in der arabischen Welt.
    "Ein solcher Herrscher konnte sich nur durchsetzen, wenn es ihm gelang, eine Gruppe von Anhängern zu bilden und zu beherrschen, die asabiya besaßen, das heißt, Gemeinschaftsgeist, der sich darauf richtete, Macht zu erlangen und zu bewahren [...] eine Gruppe konnte zusammengehalten werden durch Abhängigkeiten oder das Gefühl einer tatsächlichen oder fiktiven gemeinsamen Herkunft."
    Hochaktuelle Leitmotive
    Mit dieser Leitidee ist das Buch hochaktuell. Durch dieses Clandenken erklärt es Hourani, dass despotische Regime in der arabischen Welt im 20. Jahrhundert über Jahrzehnte mehr oder weniger stabil ihre Herrschaft ausüben konnten - etwa die Assad-Familie in Syrien oder Mubarak in Ägypten. Der arabische Aufstand 2011 war der Versuch, diese politische Ordnung zu brechen - allerdings weitestgehend erfolglos. Syrien versinkt seitdem in einem blutigen Bürgerkrieg, weil der Assad-Clan nicht nachgeben will. In Ägypten hat das Militär die Islamisten wieder von der Macht vertrieben - in einem Bündnis mit Polizei, Verwaltungseliten, Wirtschaftsbossen und Justiz. Zusammengehalten werden sie durch einen Gemeinschaftsgeist, der in den Muslimbrüdern eine Gefahr für die eigene Macht und die eigenen Privilegien sah. So kam der irische Autor Malise Ruthven in seinem Vorwort zur englischen Neuauflage des Buches schon vor zwei Jahren zu einem ernüchternden Fazit:
    "Trotz des Sturzes der Regime in Tunesien, Ägypten, Libyen und im Jemen ist keineswegs ausgemacht, dass das Clandenken tatsächlich auf dem Rückzug ist oder dass es nicht in neuen Formen wiedererstehen könnte. [...] Trotz der Überlagerung durch moderne Regierungs- und Verwaltungssysteme hat asabiya sich als ein erstaunlich hartnäckiges Phänomen erwiesen."
    Weitergeschrieben im Sinne des Autors
    Die erste Auflage von Houranis Buch erschien 1991 auf Englisch. Malise Ruthven kommt die Ehre zuteil, das Buch für die Neuauflage weiterzuerzählen. Das ist angesichts der herausragenden Qualität des Bandes eine gewaltige Aufgabe, die Respekt einflößt. Ganz im Sinne Houranis blickt Ruthven auf die Entwicklung der arabischen Gesellschaften. Dabei beklagt er vor allem das Bildungsdefizit in fast allen arabischen Ländern. Das allgemeine Bildungsniveau bleibe etwa deutlich hinter dem Ostasiens zurück, so Ruthven:
    "Die Auswirkungen der höheren Analphabetenrate zeigen sich auch im weiteren kulturellen Kontext: Araber lesen weniger Bücher und Zeitschriften als andere Völker. So wurden weniger als fünf Bücher pro eine Million Menschen ins Arabische übersetzt, gegenüber 500 pro eine Million in Ungarn [...] Ähnliche Ergebnisse ergibt ein Vergleich des arabischen Verlagswesens. Mit 3500 publizierten Büchern pro Jahr bleiben die arabischen Länder weit hinter Lateinamerika mit insgesamt 42.000 Titeln zurück."
    Ruthven erzählt die Geschichte der arabischen Völker seit Anfang der 1990er Jahre gewissenhaft weiter. Er deckt alle wichtigen Länder und Ereignisse ab: die Golfkriege, den Sturz Saddams Husseins im Irak, den Nahostkonflikt und natürlich den Ausbruch des arabischen Aufstands. An die Qualität Houranis aber reicht er nicht heran - weder sprachlich noch intellektuell. Seine Darstellung bleibt konventionell - ein neuer großer Gedanke zur Erklärung vor allem der jüngsten Ereignisse fehlt. Houranis Buch aber braucht eine derartige Weitererzählung gar nicht - auch mehr als 20 Jahre nach seinem ersten Erscheinen liest man es mit allergrößtem Gewinn.
    Albert Hourani: "Die Geschichte der arabischen Völker"
    Weitererzählt bis zum Arabischen Frühling von Malise Ruthven

    Übersetzung: Manfred Ohl, Hans Sartorius, Michael Bischoff
    S. Fischer Verlag, 704 Seiten, 34 Euro
    ISBN: 978-3-100-31836-7