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1.6.1804 - Vor 200 Jahren

Es gibt kaum ein Lexikon, in dem er nicht mit diesem Ehren-Titel bedacht wird: Michail Iwanowitsch Glinka, der "Vater der russischen Musik”.

Von Michael Stegemann | 01.06.2004
    Gäbe es so etwas wie einen 'musikhistorischen Vaterschaftstest’, würde man wohl feststellen, dass andere vor ihm diesen Ehren-Titel wenigstens ebenso sehr verdient hätten. Schaut man freilich auf seine 'Nachkommenschaft’ - vor allem auf Modest Mussorgsky, Nikolai Rimsky-Korssakow und die anderen Komponisten des so genannten "Mächtigen Häufleins” -, so war es tatsächlich Glinka, der ihnen den Weg zur national-russischen Musik geebnet hatte.

    Der Morgen graute schon, als ich am 1. Juni 1804 in Nowospásskoje (im Gouvernement Smolensk) auf dem Gut meines Vaters geboren wurde.

    Michail Glinkas Aufzeichnungen aus meinem Leben. Das Buch ist in seiner fast naiven Unmittelbarkeit eine der reizvollsten Autobiographien der Musikgeschich-te, die sich ein bisschen wie eine Folge von Variationen über drei immer wieder-kehrende Themen liest: Als hypochondrisches Protokoll zahlloser echter und eingebildeter Krankheiten, als "Register” ständig wechselnder Liebschaften und Affären eines russischen Don Juan, und schließlich als Lebenschronik eines von Natur aus eher trägen Komponisten, der - jenseits aller materiellen Sorgen des Broterwerbs - die Musik aus der höchst bequemen Perspektive eines Liebhabers betrachten und betreiben konnte, eines "Dilettanten”. Viele Jahre lang war Glinka kreuz und quer durch Europa gereist - durch Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien - und hatte im Komponieren bloß einen angenehmen Zeitvertreib gesehen, bevor ihn Mitte der 1830er Jahre der Ehrgeiz packte, Russland ein "großes, durch und durch nationales Kunstwerk” zu schenken.

    Ich will, dass meine Landsleute sich im Theater wie zu Hause fühlen sollen - und auch, dass man mich im Ausland nicht als verunglückten Bastard und eitlen Prahlhans ansieht, der ebenso lächerlich ist wie eine Krähe, die sich mit Pfauenfedern schmückt.

    Der große Wurf gelang ihm gleich zweimal: 1836 mit der "vaterländisch heroisch-tragischen Oper” Iwan Ssussanin - Ein Leben für den Zaren und sechs Jahre später mit Russlan und Ludmilla, einer fünfaktigen "Zauberoper” nach dem gleichnamigen Märchenpoem von Alexander Puschkin.

    "Das ist ja Kutschermusik!”, protestierte anfangs das adlige, an den italienischen Belcanto-Stil gewöhnte Publikum - aber nicht lange, und Glinkas Opern wurden nachgespielt und nachgeahmt. Ihr national-russischer Tonfall findet sich auch in einigen Orchesterwerken, Kammer- und Klaviermusik und vor allem in rund einhundert Liedern.

    Dennoch war sich Glinka seiner kompositions-handwerklichen Grenzen bewusst. So reiste er 1856 ein zweites Mal nach Deutschland, um bei dem Berliner Musiktheoretiker Siegfried Dehn Unterricht zu nehmen und "die alten Kirchen-tonarten zu studieren”. Auf dem Weg zu einem Festkonzert bei Hofe, in dem Giacomo Meyerbeer ein Terzett aus Iwan Ssussanin dirigierte, zog sich Glinka (der das kalte Klima des Nordens immer gefürchtet hatte) eine schwere Erkältung zu, an deren Folgen er am 15. Februar 1857 in Berlin gestorben ist. Sein letztes Werk war eine Valse-Fantaisie für Orchester - das Urbild all jener russischen Walzer (von Tschaikowsky bis Schostakowitsch), das noch einmal die Rechtmä-ßigkeit seines Ehren-Titels "Vater der russischen Musik” unterstreicht.