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100. Geburtstag von Charlotte Salomon
Gemälde wie ein Film ohne Kamera

Das Werk von Charlotte Salomon, die mit 26 Jahren in Auschwitz ermordet wurde, ist einzigartig in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts: Ihre gemalte Autobiografie, ein Bilderzyklus von 869 Gouachen mit dem Titel "Leben? Oder Theater? Ein Singespiel" entstand im Exil in Südfrankreich. Vor 100 Jahren wurde sie in Berlin geboren.

Von Eva Pfister | 16.04.2017
    Besucher betrachten im Jüdischen Museum in Berlin das Selbstporträt der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon aus dem Jahr 1940.
    Besucher betrachten im Jüdischen Museum in Berlin das Selbstporträt der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon aus dem Jahr 1940. (picture alliance / dpa / Stephanie Pilick)
    "Die Entstehung der vorliegenden Blätter ist sich folgendermaßen vorzustellen: Ein Mensch sitzt am Meer. Er malt. Eine Melodie kommt ihm plötzlich in den Sinn."
    So führt Charlotte Salomon in ihr Werk ein, in diese gemalte Lebensgeschichte aus leuchtenden und auch düsteren Farben. Sie nannte es "Leben? Oder Theater? – Ein Singespiel", schrieb viel Text in die Bilder hinein und gab zu manchen Szenen eine Musikbegleitung an. Das konnten Schlager sein, Nazimärsche oder Musik von Bach, Mozart und immer wieder Schubert.
    Bilder wie in einem Comic Strip
    Unter den 869 Gouachen gibt es expressionistisch anmutende Panoramen, es gibt liebevolle oder auch karikierende Porträts und viele dramatische Szenen, oft in seriellen Folgen wie in einem Comic Strip. Als der niederländische Regisseur Frans Weisz in Amsterdam eine Ausstellung der Bilder sah, kam ihm sofort die Idee, daraus einen Film zu machen.
    "Ich hatte gleich das Gefühl, dass ich durch ein Szenario bin, ein Storyboard, als ob jemand ein Film versucht hat zu machen ohne Kamera."
    Die Frau, die diesen Film ohne Kamera geschaffen hat, wurde am 16. April 1917 in Berlin geboren. Ihr Vater Albert Salomon war ein erfolgreicher Chirurg. Als Charlotte neun Jahre alt war, beging ihre Mutter Selbstmord. Vier Jahre später wurde die Sängerin Paula Lindberg ihre Stiefmutter, sie spielt in der gemalten Autobiographie eine große Rolle.
    "Charlotte liebte mich, und ich liebte sie, natürlich, so war es eigentlich, als gehörten wir immer zusammen, oder war sie meine Tochter oder ich ihre Mutter, das war alles ausgeglichen."
    In Südfrankreich vom Krieg eingeholt
    In Wirklichkeit war das Verhältnis ambivalent, denn Charlotte verliebte sich in den Gesangslehrer ihrer Stiefmutter, der seinerseits aber die Sängerin anhimmelte. Da waren die Nationalsozialisten schon an der Macht, und nur weil ihr Vater im Ersten Weltkrieg Frontkämpfer war, durfte die Jüdin Charlotte Salomon noch an der Kunstakademie studieren. Im Januar 1939 sah Albert Salomon seine Tochter zum letzten Mal, als sie zu ihren Großeltern nach Südfrankreich abreiste – ins vermeintlich sichere Ausland.
    "Sie sah sehr reizend aus, und wir waren voller Hoffnung, dass wir uns gesund wiedersehen würden. Sie war scheu und schüchtern. Umso mehr war ich erstaunt, als wir ihre Bilder später sahen, von deren Existenz wir nichts wussten."
    So erinnerte sich der Vater später. Während die Eltern in Holland untertauchen konnten und überlebten, wurde Charlotte Salomon in Südfrankreich vom Krieg eingeholt. Zusammen mit ihrem Großvater war sie vorübergehend in einem Lager für deutsche Emigranten interniert, die Großmutter hatte sich schon vor dem Einmarsch der Wehrmacht das Leben genommen. Erst da hatte Charlotte erfahren, dass nicht nur ihre Mutter, sondern auch deren Schwester und noch andere Verwandte Selbstmord begangen hatten. Einen "Familienfluch" nannte es der Großvater. In dieser deprimierenden Situation entstand die Idee zu ihrem Werk:
    "Und sie sah sich vor die Frage gestellt, sich das Leben zu nehmen oder etwas ganz verrückt Besonderes zu unternehmen."
    18 Monate für die gemalte Lebensgeschichte
    So steht es in "Leben? Oder Theater?" geschrieben. Von Augenzeugen hörte der Filmemacher Frans Weisz, wie sehr sich Charlotte in die Arbeit vergraben hatte.
    "Man sah überhaupt nicht mehr, dass sie noch geschlafen hatte. Jede Nacht war das Licht in ihrem Zimmer an. Und was wir gemacht haben, ist nur, eine Teller mit Suppe next to the door zu setzen, und das einzige, was wir sahen, am nächsten Morgen war der Teller leer, das war alles."
    Nach 18 Monaten war die gemalte Lebensgeschichte vollendet. Charlotte Salomon wusste, wie wertvoll ihr Werk war.
    "Sie hat es richtig in ein Suitcase gemacht, in eine Valise, sie hat irgendwo angeklingelt, sie hat gesagt: Gardez-ça bien – behalten Sie das, es ist mein ganzes Leben. Dass sie schon sagte, das ist mein ganzes Leben, - ich habe noch nie etwas gemacht, dass ich denke, das ist mein ganzes Leben."
    1943, die deutsche Wehrmacht hatte Südfrankreich schon besetzt, heiratete Charlotte Salomon einen österreichischen Emigranten. Als sie im Oktober in Auschwitz ermordet wurde, war sie 26 Jahre alt – und schwanger.