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100. Geburtstag von Roland Barthes
Präziser analytischer Blick

Das intellektuelle Paris stand Kopf, als dieses Werk erschien. "Fragmente einer Sprache der Liebe" ist Roland Barthes persönlichstes und populärstes Werk in vielen Neuauflagen bis heute geblieben. Soeben ist im Suhrkamp Verlag eine um bislang unbekannte Fragmente erweiterte Neuausgabe erschienen.

Von Hajo Steinert | 12.11.2015
    Der französische Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes (1915-1980), aufgenommen am 21.6.1977.
    Der französische Philosoph und Schriftsteller Roland Barthes (1915-1980) (AFP)
    Roland Barthes, geboren heute vor hundert Jahren in Cherbourg, gestorben in Paris am 26. März 1980, war und ist ein großer geistiger Animateur. Einer, der uns lehrt, wie wir unseren Alltag, nicht nur den von den Künsten geprägten, verstehen können.
    Ausgebildet an der Sorbonne in Klassischer Literatur, angeregt von den Philosophen des Existenzialismus in den frühen Fünfzigerjahren, verbunden mit den literarischen Vertretern des "nouveau roman" - einer literarischen Schule, die sich eng an einer visuellen Formensprache orientierte -, angetreten, mit dem sogenannten "Strukturalismus" à la Ferdinand de Saussure , einer dezidiert auf die Sprache und Zeichensysteme eines Kunstwerks ausgerichteten Ästhetik für eine philologische Revolution zu sorgen, erklomm er Stufe für Stufe olympische Höhen des westeuropäischen Geisteslebens.
    Dabei waren es auf den ersten Blick banale, ganz alltägliche Dinge wie Mode, Fotografie, Massenmedien, Automarken, der Striptease oder die steile
    Anmutung des Eiffelturms, die ihn faszinierten. Dinge, auf die er seinen präzisen analytischen Blick richtete. "Mythen des Alltags" hieß das 1957 erschienene, in deutscher Übersetzung 1964 heraus gekommene Werk. Es war Roland Barthes besonders daran gelegen, gewohnte Blickrichtungen auch in der Kunstbetrachtung einer Korrektur zu unterziehen. Das tat er in ebenso scharfzüngigen wie glänzend geschriebenen Essays.
    Nichts war bei ihm selbstverständlich. Auch nicht die Autorschaft eines Buches. 1970 erschien "Der Tod des Autors". Ich erinnere mich noch gut an die kontroversen Diskussionen in den germanistischen Seminaren noch am Ende des Jahrzehnts. Waren wir es gewohnt, eine gelesene Erzählung, einen Roman stets auch im Hinblick auf die Biografie des Verfassers einer Interpretation zu unterziehen, so vernahmen wir jetzt eine vehemente Kritik an dem, was Roland Barthes als "Biografismus" abschätzig beschrieb. Einem literarischen Werk, so Barthes, könne man gerecht werden, wenn der Leser es losgelöst von seinem Erschaffer betrachte.
    Für Barthes ist Schreiben ein Raum, in dem die Subjektivität des Autors hinter dem Kunstwerk bis hin zu seiner, des Urhebers Unsichtbarkeit verschwinde. Barthes spricht von einer "Dekonstruktion" des Autors. Ein Text emanzipiere sich von ihm in dem Moment, in dem der Leser sich das Geschaffene zu Eigen macht. Dabei bezieht sich Barthes auf seine Vorbilder, die Dichter Mallarmé und Valéry. Bereits Stéphane Mallarmé schrieb, dass nicht der Autor, sondern die Sprache, autonom wie sie sei, für sich selbst spricht. Paul Valéry nannte die Hinwendung des Lesers auf die vermuteten Intentionen eines Autors bei Schreiben einen "Aberglauben". Mit unseren heutigen Worten: einen Holzweg!
    Was hier einigermaßen fundamentalistisch klingen mag, liest sich allerdings mit intellektueller Lust, die ihrerseits von einer Lusterzeugung des Autors angeregt wird, die man als Formulierungslust bezeichnen darf. Nicht von ungefähr heißt sein 1973 in deutscher Übersetzung erschienener anderer Klassiker "Die Lust am Text". All diese Bücher sind heute noch als Taschenbücher erhältlich. Auch das für mich schönste Buch, das Roland Barthes je geschrieben hat: "Fragmente einer Sprache der Liebe", erstmals erschienen 1977.
    Das intellektuelle Paris stand Kopf, als dieses Werk erschien. "Fragmente einer Sprache der Liebe" ist Roland Barthes persönlichstes und populärstes Werk in vielen Neuauflagen bis heute geblieben. Kaum ein anderer Autor hat so scharfsinnig und differenziert über die diversen Ausrichtungen, Absonderlichkeiten, Körperlichkeiten und gelegentlich die Höhen der Metaphysik erreichenden Spielarten eines merkwürdigen Gefühls geschrieben wie Roland Barthes. Soeben ist im Suhrkamp Verlag eine neue, um bislang unbekannte Fragmente erweiterte Neuausgabe erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Horst Henschen und Horst Brühmann. – Heute wäre Roland Barthes, der sein letztes Buch, "Die helle Kammer", seiner Mutter, der er ein Leben lang seine Homosexualität verschwieg, gewidmet hat, hundert Jahre alt geworden.