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100 Jahre Attentat von Sarajewo
"Wir brauchen ein Konzept von der Zukunft Europas"

Der langjährige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher fordert von westlichen und russischen Politikern eine Verständigung über gemeinsame Ziele. Für manche sei 1989 nicht die Teilung Europas geendet, sondern nur nach Osten verlagert worden, gab der Doyen der deutschen Außenpolitik im Deutschlandfunk zu bedenken.

Hans-Dietrich Genscher im Gespräch mit Christoph Heinemann | 27.06.2014
    Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher gestikuliert.
    Der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher bei der Verleihung der Martin-Buber-Plakette. (picture alliance / dpa / Marcel Van Hoorn)
    Entwicklungen wie sie nach der Juli-Krise 1914 zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führten, ließen sich zukünftig verhindern, glaubt der FDP-Politiker. Im Deutschlandfunk sagte er, notwendig dafür sei ein "Konzept von der Zukunft Europas". Er nannte den KSZE-Prozess und einen seiner Vorläufer, den Harmel-Bericht von 1967 zu den Hochzeiten des Kalten Krieges, als gutes Beispiel dafür. Die damalige Idee des westlichen Bündnisses, eine gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen, habe sich als "erstaunliches und weit in die Zukunft weisendes Konzept" erwiesen.
    Widerspruch zur Gauck-Forderung
    Mit Blick auf die von Bundespräsident Joachim Gauck angestoßene Debatte um eine stärkere militärische Rolle Deutschlands in der Welt, sagte Genscher, Deutschland habe bereits in der Vergangenheit Verantwortung übernommen. Dazu zähle nicht nur die Westbindung der Bundesrepublik, sondern auch das Anstoßen des Verständigungsprozesses und der Öffnung gegenüber dem Osten.
    Davon abgesehen sei über den Einsatz militärischer Mittel zu entscheiden, wenn solche Entscheidungen anstünden. Er glaube nicht, dass die Haltungen jetziger oder vergangener Bundesregierungen in dieser Frage einer Korrektur bedürfen.
    Hans-Dietrich Genscher wurde am 21. März 1927 in Reideburg/Saalkreis geboren. Ab 1943 wurde er als Flakhelfer im Zweiten Weltkrieg eingesetzt, 1952 siedelte er aus der DDR nach Bremen über. 1968 wurde er stellvertretender FDP-Vorsitzender und ein Jahr später, mit Bildung der sozialliberalen Koalition, Bundesinnenminister. Nach dem Wechsel der Kanzlerschaft von Willy Brandt zu Helmut Schmidt übernahm Genscher 1974 das Außenressort, das er auch unter der schwarz-gelben Koalition unter Helmut Kohl noch bis 1992 innehatte.

    Das Interview in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Joachim Gauck hat eingeladen, Historiker, Diplomaten, Politiker werden heute im Schloss Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, über den Ersten Weltkrieg diskutieren, am Vorabend der Schüsse von Sarajevo, des Attentats eben auf den österreichischen Thronfolger und seine Frau. Die Historiker werden unter anderem die unterschiedlichen Blickwinkel zur Sprache bringen, unter denen die Geschichte des Ersten Weltkriegs bis heute in den verschiedenen Ländern erzählt werden – Stichwort Kriegsschuld-Frage. Joachim Gauck selbst wird eine Rede halten unter der Überschrift "Der lange Weg durch ein Jahrhundert von Krieg und Frieden. Hat Europa aus dem Ersten Weltkrieg gelernt?"
    Vor dieser Sendung haben wir Hans-Dietrich Genscher erreicht und ich habe mit dem früheren Bundesaußenminister das folgende Gespräch geführt:
    Herr Genscher, als Sie eingeschult wurden, gelangten die Nazis an die Macht. Was haben Sie in Ihrer Schulzeit über den Ersten Weltkrieg und über seine Ursachen gelernt?
    Hans-Dietrich Genscher: Nun, in der Grundschule im Grunde gar nichts. Da wurde das nicht behandelt. Und als ich 1937 dann auf die Oberschule kam, kam ich auf eine Schule, wo unser Geschichtslehrer ein Gegner der Nazis war. Für ihn fanden diese Themen nicht statt, weil er das, was er für richtig hielt, nicht sagen konnte. Insofern habe ich kein Bild davon, wohl aber von meinem Großvater – mein Vater war gestorben, als ich neun Jahre alt war -, der immer wieder sagte, dieser Krieg hätte nicht sein müssen.
    Heinemann: Wie kann man solche Entwicklungen verhindern?
    Genscher: Wir brauchen ein "Konzept von der Zukunft Europas"
    Genscher: Man kann verhindern, indem man ein Konzept hat von der Zukunft Europas, wenn ich jetzt über uns als Europäer spreche. Ich glaube, dass das westliche Bündnis mit seinem großen Ziel des Hammel-Berichts von 1967, nämlich eine gesamteuropäische Friedensordnung zu schaffen. Ein solches politisches Konzept war ein erstaunliches und weit in die Zukunft weisendes politisches Konzept und die KSZE war eine Verständigung in schwierigster Zeit des Kalten Krieges über eine künftige Friedensordnung, wobei so wichtig war, dass die Vereinigten Staaten als Garanten europäischer Stabilität daran beteiligt waren.
    Wir hatten zwei, im Wesentlichen übereinstimmende Konzepte, einmal der westlichen Partnerschaft, auf der anderen Seite einer sich entwickelnden Ost-West-Partnerschaft, die es ermöglicht haben, die Teilung Europas friedlich zu überwinden und den Kalten Krieg abzulösen durch neue Entwicklungen in Europa.
    Heinemann: Nun haben auch die Diplomaten im Juli 1914 miteinander gesprochen, und zwar intensiv miteinander gesprochen. Das belegen unzählige Akten. Trotz dieser enger Kontakte rutschte Europa in einen Krieg. Was folgt daraus für heutige, für künftige Außenpolitik?
    Genscher: Zunächst einmal waren das nicht nur Diplomaten. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass die meisten Akteure ja geradezu enge Verwandte waren in den europäischen Herrscherhäusern. Trotzdem: Das alles hat nichts genützt, weil man Entwicklungen zugelassen hatte, wo niemand mehr am Ende Herr der eigenen Entwicklung war, schon gar nicht etwa der Möglichkeit des Einflusses auf die andere Seite.
    Das ist heute ganz sicher anders. Das haben wir selbst in Krisensituationen der letzten Monate erlebt. Aber wir müssen zurückkommen zu einer neuen Kultur des Zusammenlebens in Europa, wie wir es in sehr positiven Einsätzen ja schon gehabt haben über den KSZE-Prozess und in der Zeit danach.
    Heinemann: Trotzdem wird in Europa zurzeit geschossen und gestorben: in der Ukraine.
    Ukraine-Krise ist "eine schreckliche Entwicklung"
    Genscher: Das ist eine schreckliche Entwicklung und deshalb ist es auch wichtig, dass wir uns darüber verständigen, was ist unser Ziel und gibt es ein gemeinsames Ziel. Als die Mauer fiel, haben das eigentlich alle als Ende der Teilung Europas verstanden. Ist das wirklich so, oder hat es auch Leute gegeben, die darüber nachgedacht haben, ob man die Teilung nicht beendet, wohl aber die Teilungsgrenze aus der Mitte Europas in den Osten verlegt?
    Das heißt, wie ist das westliche Ziel über eine Kooperation mit Russland und wie stellt sich Russland ein auf eine ebenbürtige und gleichberechtigte Kooperation mit den westlichen Staaten, auch mit der Akzeptanz von Staaten, die einmal unter der Vorherrschaft Russlands standen, die aus der Schlussakte von Helsinki natürlich das Recht haben, ihr eigenes Schicksal zu gestalten und dieses nicht abhängig zu machen von einem großen Nachbarn.
    Heinemann: Der Bundespräsident hat jetzt noch einmal bekräftigt, dass im Kampf für Menschenrechte oder für das Überleben unschuldiger Menschen es auch für Deutschland manchmal notwendig und erforderlich sei, im Verbund mit den Partnern der EU oder der NATO zu den Waffen zu greifen. Stimmen Sie, Herr Genscher, Herrn Gauck zu?
    "Das war die wichtigste Menschenrechtsinitiative, die ich mir vorstellen kann"
    Genscher: Ich glaube, dass man zunächst einmal die Diskussion, was ist die Rolle Deutschlands, führen muss. Da höre ich oft, wir müssen endlich Verantwortung übernehmen. Deutschland hat Verantwortung übernommen. Hier in Deutschland hat sich entschieden, nach dem Zweiten Weltkrieg – und das war das besiegte Deutschland –, damals durch die weitsichtige Entscheidung der ersten Bundesregierung für die Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und für das westliche Bündnis, dass Deutschland endgültig und definitiv seinen Platz eingenommen hat im Kreis der westlichen Demokratien und damit auch für Menschenrechte.
    Deutschland hat auf der anderen Seite aber auch mit seiner Entspannungspolitik den Weg der Öffnung gegenüber dem Osten bewirkt und damit auch erreichen können, dass wir über die friedlichen Freiheitsrevolutionen die Menschenrechte durchsetzen konnten.
    Das war die wichtigste Menschenrechtsinitiative, die ich mir vorstellen kann, die KSZE-Schlussakte. Das heißt, in der Frage der Menschenrechte hat es an Verantwortung bei uns nicht gefehlt, und ich denke, dass immer am Anfang die Politik stehen muss über die Frage, ob man Militär einsetzen muss. Wofür ist zu entscheiden, wenn eine solche Entscheidung ansteht.
    Aber ich weiß nicht, ob die Haltung, die die Bundesregierung, und zwar alle Bundesregierungen unternommen haben, einer Korrektur bedürfen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir der Meinung seien, in der Vergangenheit hätten wir das nicht ernst genommen.
    Die Menschenrechtsinitiative KSZE ist ein Beispiel dafür, wie man mit einer klugen verantwortungsvollen Politik das durchsetzen kann, und darauf würde ich auch in Zukunft das Gewicht unserer Außenpolitik legen.
    Heinemann: Politiker der Linkspartei haben den Bundespräsidenten wegen seiner Haltung als "widerlichen Kriegshetzer" und als "NATO-Nagelbombenrepräsentanten" beschimpft. Ist denn der Krieg nach den Erfahrungen von 1914 bis _45 tatsächlich noch ein Mittel der Politik?
    Genscher: Zunächst einmal finde ich das inakzeptabel, was da zum Bundespräsidenten gesagt wird. Man kann ja unterschiedlicher Meinung sein, aber diese Art, wie über das Staatsoberhaupt, und zwar das frei gewählte Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland geredet wird, halte ich persönlich für inakzeptabel. Im Übrigen aber glaube ich, dass der Vorrang der Politik wichtig ist. Dass schnelle Entscheidungen für militärische Einsätze zu verheerenden Folgen führen können, erleben wir ja gerade im Irak als Folgewirkung dessen, was eine frühere Entscheidung schon gebracht hat, ...
    Heinemann: Die US-Invasion von 2003?
    "Die Waffe muss das letzte Mittel bleiben"
    Genscher: Das meine ich natürlich. Und ähnliches Lehrgeld haben ja auch andere zahlen müssen. Man darf hier nicht, wenn man über so etwas redet, nur die Vereinigten Staaten sehen. Andere haben auch so etwas erlebt. Die Waffe muss das letzte Mittel bleiben. Sie darf nicht sozusagen als eines neben anderen Mitteln betrachtet werden.
    Heinemann: Herr Genscher, die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union sind gestern nach Ypern gereist. Das war eines der schrecklichsten Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges. Sind solche Lokaltermine wichtig?
    Genscher: Ich glaube, dass dies eine Entscheidung war, der ich persönlich hundertprozentig zustimmen kann und die ich für großartig halte, weil wir immer wieder den Menschen ins Bewusstsein rufen müssen, wie leicht es ist, den Übergang aus einer friedlichen Umwelt in eine kriegerische Entwicklung zu bewirken, und wie schwer es ist, einen Zug im letzten Moment noch zum Halten zu bringen oder umzulenken. Und dieser Ort mit den schrecklichen Ereignissen aus dem Ersten Weltkrieg ist hier ein besonders eindrucksvoller Symbolort. Ich habe es außerordentlich begrüßt, dass man ein solches Treffen dort abhält.
    Ich hoffe, dass der Geist dieses Treffens auch so sein wird. Das heißt, dass man die Konsequenzen zieht aus der damaligen Entwicklung und dass man diese großartige Entwicklung in Europa als etwas betrachtet, was uns zutiefst verpflichtet, nämlich Europa zu verstehen als eine Versuchswerkstatt für eine neue Weltordnung, die darauf beruht, dass die Völker, ob groß oder klein, mit gleichen Rechten, mit gleicher Würde einander gegenübertreten und gemeinsam leben und handeln können. Das ist wichtig.
    Die Zeit der Vorherrschaft großer Staaten ist ebenso vorbei wie der Versuch, mit militärischer Macht die Welt zu verändern. Die Welt wird verändert durch die Durchsetzung von Menschenrechten und Menschenwürde und ihrer glaubwürdigen Vertretung.
    Heinemann: Das Gespräch mit Hans-Dietrich Genscher haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.