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100 Jahre Erster Weltkrieg
Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts?

Nicht erst seit dem 11. November 1918, dem Tag, an dem in Westeuropa die Waffen schwiegen, ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer wieder als Zäsur beschrieben worden, als Abschied von einer insgesamt stabilen europäischen Friedensordnung zwischen 1871 und 1914 und als Beginn eines "Zeitalters der Extreme", das von Bolschewismus und Faschismus sowie dem noch blutigeren Zweiten Weltkrieg gekennzeichnet war.

Von Robert Gerwarth | 20.04.2014
    Pünktlich zum 100. Jahrestag der Julikrise ist sie erneut entbrannt: die Kontroverse über den Ersten Weltkrieg und seinen Platz in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Als der konservative britische Bildungsminister Michael Gove vor einigen Wochen in einem Aufsatz für die Boulevardzeitung "Daily Mail" den mangelnden Patriotismus vieler seiner Landsleute im Umgang mit dem Ersten Weltkrieg beklagte, fühlte er sich zu einer Klarstellung über die "wahren" Gründe des Kriegsausbruchs verpflichtet:
    "Der rücksichtlose Sozialdarwinismus der deutschen Eliten, ihre erbarmungslose Vorgehensweise in den besetzen Gebieten, ihre aggressiv expansionistischen Kriegsziele und ihre Verachtung für die internationale Ordnung führten zum britischen Kriegseintritt. [...] Was wir erinnern sollten, ist dass unsere Freiheit, über den Krieg diskutieren und unsere eigenen Schlussfolgerungen ziehen zu können, eine unmittelbare Konsequenz der Taten jener tapferen Männer und Frauen ist, die für Großbritannien kämpften, weil sie in die besondere Freiheitstradition dieses Landes glaubten."
    Goves Aufsatz, in dem es weniger um historische Nuancen und komplexe Sachverhalte als um patriotische Erbauung geht, steht in deutlichem Widerspruch zu den Analysen über die Entstehung der Julikrise, wie sie jüngst etwa der australische Historiker Christopher Clark in seinem internationalen Bestseller "Die Schlafwandler" vorgelegt hat, und ist sicher auch als Antwort auf dieses Buch zu verstehen.
    Die jüngsten Debatten in Westeuropa über die Bewertung des Ersten Weltkriegs, seine Ursachen und Folgen haben eines deutlich gemacht: Einen europäischen Konsens über die Ereignisse von 1914 - 18 und ihre Bedeutung für das 20. Jahrhundert gibt es auch hundert Jahre später nicht. Dass der Erste Weltkrieg bis heute im kollektiven Gedächtnis der beteiligten Nationen eine höchst unterschiedliche Rolle spielt, hat viele Ursachen. Wichtiger noch als die Tatsache, dass es 1918 Gewinner und Verlierer gab, ist, dass der Krieg in einigen Ländern ganz zentral für das eigene Nationsverständnis ist, in anderen Ländern hingegen von nachfolgenden historischen Ereignissen überschattet wird. In Großbritannien und Frankreich, wo der "große Krieg" sehr viel verlustreicher war als der Zweite Weltkrieg, neigen konservative Politiker und Historiker bis heute dazu, die horrenden Opferzahlen durch die Feststellung zu rechtfertigen, dass der Konflikt ein gerechter Krieg gegen deutsches Hegemonialstreben war.
    Anfang vom Ende des imperialen Zeitalters
    Die Regierungen der britischen Kolonien, insbesondere jene Australiens und Neuseelands, gedenken bis heute der katastrophalen Landung von Gallipoli als Feuertaufe und Geburtsstunde der eigenen Nation innerhalb des britischen Empires. Im postkommunistischen Polen und in den baltischen Staaten wird der Krieg wiederum als Anfang vom Ende des imperialen Zeitalters gedeutet, das 1918 in die nationale Unabhängigkeit führte, die dann von Stalin und Hitler brutal unterdrückt wurde.
    Der Kontrast zu den Verliererstaaten des Weltkriegs könnte also kaum größer sein: In Deutschland bleiben die Diktatur Hitlers und die vom Nationalsozialismus begangenen Verbrechen der zentrale historische Bezugspunkt des 20. Jahrhunderts. Selbst in der Fischer-Kontroverse der 1960er Jahre - dem Höhepunkt der öffentlichen Auseinandersetzung in Deutschland mit dem Ersten Weltkrieg - ging es weniger um die Ereignisse von 1914 bis 1918 als um die Frage, ob es eine Kontinuität deutscher Außenpolitik von Wilhelm II. zu Hitler gegeben habe.
    In der untergegangenen Sowjetunion wiederum galt der Krieg als imperialistischer Konflikt zwischen Zar und Kaiser; die historische Zeitrechnung begann hier jahrzehntelang erst mit Lenins Machtergreifung. Und auch in der republikanischen Geschichtsdeutung der Türkei wird der Kriegseintritt des Osmanischen Reiches an der Seite des Kaiserreiches als Fehler eines untergegangenen Staates gedeutet, in dessen Tradition man sich selbst nicht sieht.
    Ein globaler Konsens scheint allein in einem Punkt zu bestehen: dass der Kriegsausbruch vom August 1914 eine Zeitenwende markiert, in deren Folge die politischen, kulturellen und sozialen Karten neu gemischt wurden. Der verstorbene britische Historiker Eric Hobsbawm, der 1917 in Ägypten zur Welt kam und als Teenager in Berlin Hitlers Machtübernahme erlebte, sprach von einem "Zeitalter der Extreme", das mit dem Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand und der Julikrise begonnen habe. Die Ereignisse des Sommers von 1914 läuteten, so Hobsbawm, eine der schwärzesten Epochen in der Geschichte ein:
    "Ein Jahrhundert, das uns allen die Macht der menschlichen Barbarei klargemacht hat: die Unfähigkeiten, die Fehleinschätzungen, die fast grenzenlose Fähigkeit zur Selbsttäuschung unserer Führer, die Dummheit, die Ignoranz, die Blindheit ihrer Völker."
    Abschied vom bürgerlichen Zeitalter
    Hobsbawms stark autobiografisch geprägte Deutung des 20. Jahrhunderts war vom Wissen nachfolgender Ereignisse gekennzeichnet, doch bereits Zeitgenossen war die welthistorische Bedeutung des Kriegsausbruchs gegenwärtig.
    Nicht erst seit dem 11. November 1918, dem Tag, an dem in Westeuropa die Waffen schwiegen, ist der Ausbruch des Ersten Weltkriegs immer wieder als Zäsur beschrieben worden, als Abschied vom bürgerlichen Zeitalter und einer insgesamt stabilen europäischen Friedensordnung zwischen 1871 und 1914. Schon unmittelbar nach Beginn der Feindseligkeiten hatten hellsichtige Zeitgenossen wie der britische Außenminister Edward Grey eine Katastrophe ungekannten Ausmaßes vorhergesehen:
    "In ganz Europa gehen die Lichter aus; wir alle werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen."
    Die Realität des Krieges mit seinen Materialschlachten und schier unvorstellbaren Opferzahlen sollten Greys düstere Prognose noch übertreffen: Mehr als 17 Millionen Menschen verloren in den folgenden vier Jahren kriegsbedingt ihr Leben, weitere 20 Millionen Soldaten wurden verwundet, oft mit lebenslangen Folgewirkungen. Die Zahl der Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelten, der Opfer von Hungersnöten und Seuchen lässt sich ebenfalls nur in Millionen messen. Und auch im Hinblick auf die Langzeitfolgen markiert der Weltkrieg einen Wendepunkt in der neueren Geschichte Europas:
    Weder die russische Revolution und die Machtergreifung Lenins noch der Aufstieg Mussolinis und Hitlers sind ohne die sozialen, politischen und kulturellen Verwerfungen, die der Krieg bedingte, erklärbar. Auch wenn es des Zweiten Weltkriegs bedurfte, um im Ersten Weltkrieg die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" zu sehen, wie es der amerikanische Diplomat George Kennan formulierte, war bereits Zeitgenossen der Zwischenkriegszeit klar, dass die Jahre nach 1914 die Welt grundlegend verändert hatten.
    Anzeichen eines entgrenzten "totalen" Kriegs
    Die ersten deutschen Soldaten überqueren zu Beginn des 1. Weltkriegs 1914 die französische Grenze.
    Etwa 60 Millionen junge Männer wurden als Soldaten mobilisiert. (picture alliance / dpa)
    Die Besonderheit und Schrecklichkeit des Ersten Weltkrieges, an dem sich bis 1918 etwa 40 Staaten direkt oder indirekt beteiligten, und in dem etwa 60 Millionen junge Männer als Soldaten mobilisiert wurden, lässt sich nicht allein in Statistiken messen, sondern auch in der Art der Kriegsführung, die den Prinzipien der Haager Landkriegsordnung von Anfang an zuwiderlief: Die Missachtung der belgischen Neutralität, die zum Kriegseintritt Großbritanniens führte, Gewalt gegen Kriegsgefangene, der Einsatz von Giftgas und die gegen deutsche Zivilisten gerichtete alliierte Seeblockade als Antwort auf den uneingeschränkten deutschen U-Boot-Krieg waren allesamt Anzeichen eines entgrenzten "totalen" Krieges, der nicht nur Soldaten, sondern die Gesamtbevölkerung der am Konflikt beteiligten Gesellschaften mobilisierte und damit vieles von dem vorwegnehmen sollte, was den noch blutigeren Zweiten Weltkrieg kennzeichnen sollte.
    Dennoch wäre es falsch, den Zweiten Weltkrieg als notwendige Folge des Ersten zu deuten. George Moss' Anfang der 90er Jahre formulierte "Brutalisierungsthese" - die einflussreiche und viel zitierte Idee, dass die Gewalterfahrung des Ersten Weltkriegs zu einer Verrohung der deutschen Gesellschaft führte, die eine entscheidende Voraussetzung für den Aufstieg Hitlers und den Holocaust darstellte - wird von Historikern in ihrer Pauschalität seit einiger Zeit infrage gestellt. Obwohl sich kaum bestreiten lässt, dass das massenhafte Töten und Sterben an der Front eine psychologisch deformierende Wirkung auf die Kriegsteilnehmer gehabt haben dürfte, lassen sich daraus keine Schlussfolgerungen ableiten, warum die politische Kultur in einigen ehemaligen Kombattantenstaaten "brutalisiert" wurde, in anderen hingegen nicht.
    Denn das Fronterlebnis britischer oder französischer Soldaten unterschied sich ja nicht fundamental von dem deutscher Kriegsteilnehmer, ohne dass es in Großbritannien oder Frankreich zum Aufstieg einer faschistischen Partei gekommen wäre. Außerdem ist mittlerweile erwiesen, dass in den radikalsten Organisationen des Dritten Reiches - etwa in der SS - nicht ehemalige Kriegsteilnehmer dominierten, sondern diejenigen, die zu jung gewesen waren, um sich in den "Stahlgewittern" zu beweisen. Für die sogenannte "Kriegsjugendgeneration" war es weniger der Erste Weltkrieg, der sie "brutalisierte" als die Erfahrung der Niederlage von 1918 und die deutsche Novemberrevolution, die sie als Verrat empfanden.
    Ernst von Salomon, der während des Ersten Weltkriegs eine Kadettenanstalt besucht hatte, wurde zum inoffiziellen Chronisten dieser jungen nationalistischen Radikalen, die als selbst ernannte Avantgarde des nationalen Widerstands gegen die Weltrevolution und die vermeintlich Verantwortlichen für die Niederlage kämpften. Salomon, der 1922 an der Ermordung des deutschen Außenministers Walther Rathenau beteiligt war, schilderte seine erste Begegnung mit Revolutionären in Berlin im November 1918 als politisches Erweckungserlebnis:
    "Ich fühlte, wie sehr ich bleich wurde, ich biß die Zähne zusammen und sagte mir 'Haltung' [...] [Ich] ahnte Wirre und Tumult. Eine riesige Fahne wurde einem langen Zug vorangetragen, und die Fahne war rot. [...] Der Fahne nach wälzten sich müde Haufen, reglos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten über spitzen Knochen [...] Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit stumpfen, zermürbten Gesichtern [...] So zogen sie, die Streiter der Revolution.Aus diesem schwärzlichen Gewusel da sollte also die glühende Flamme springen, sollte der Traum von Blut und Barrikaden sich verwirklichen? Unmöglich, vor denen da zu kapitulieren. [...] Ich steifte mich und dachte 'Kanaille' und 'Pack' und 'Mob' und 'Pöbel' und kniff die Augen zusammen und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten; wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf ihren Rücken tragen [...]."
    Furcht vor der bolschwistischen Weltrevolution
    Für junge Männer wie Salomon, die es auch in anderen Ländern wie Finnland, Italien, Ungarn, der Ukraine oder den baltischen Staaten zu Zehntausenden gab, war es weniger der Krieg an sich, der das "Zeitalter der Extreme" einleitete, als die Probleme, die er aufwarf, ohne sie zu lösen.
    Die erfolgreiche Übernahme und Konsolidierung der Macht in Russland durch eine entschlossene, revolutionäre Minderheit im Winter 1917/18 war aus der Perspektive vieler Europäer eines dieser Probleme. Denn die durch den Weltkrieg erst ermöglichte Revolution und der folgende verheerende Bürgerkrieg, der über drei Millionen Menschen das Leben kostete, hatten unmittelbare Auswirkungen auf den Rest Europas. Die Furcht, der weltweit erste kommunistische Staat werde mit seiner Parole der Weltrevolution und seinen Appellen an die internationale Solidarität des Proletariats die kriegsmüden Soldaten in ganz Europa gegen ihre Regierungen mobilisieren, verbreitete sich schnell.
    Diese Furcht führte zu einer massenhaften Mobilisierung von rechts gegen die vermeintliche Bedrohung durch die bolschewistische Weltrevolution. Das geschah nicht nur in Regionen, wo diese Gefahr durchaus plausibel war - also in den baltischen Staaten, der Ukraine, Ungarn und Teilen Deutschlands -, sondern auch in Frankreich und Großbritannien, wo das Entstehen einer kommunistischen Partei und der spürbare Anstieg von Streiks die Gewaltbereitschaft des Establishments deutlich erhöhten. Dass es weder in Frankreich noch in Großbritannien zu signifikanten Gewaltausbrüchen kam, hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass der Sieg im Ersten Weltkrieg das politische System in beiden Ländern legitimierte und stärkte. Jeder Angriff auf die Demokratie - ob von links oder rechts - wurde von der Mehrheit der Bevölkerung als Verrat am Opfer der gefallenen Soldaten gesehen, die für eben dieses politische System ihr Leben gelassen hatten.
    In den Staaten Mittel-, Süd- und Osteuropas, die den Krieg verloren hatten, verschärfte die Bolschewismusfurcht hingegen eine ohnehin prekäre Lage. Im Kontext der militärischen Niederlage und des Zerfalls etablierter politischer Obrigkeit versuchten radikale und bis zu den Zähnen bewaffnete paramilitärische Organisationen wie die Freikorps in Deutschland und ihre funktionalen Äquivalente in Österreich, Ungarn, Finnland, Polen oder dem Baltikum, das temporäre Machtvakuum für ihre eigenen Zwecke auszunutzen.
    Krieg als "einzige Hygiene der Welt"
    Was diese Gruppen ungeachtet aller regionalen Unterschiede einte, war der Glaube, Gewalt könne die Nation läutern, reinigen oder regenerieren. Obwohl ihre politischen Ziele vorerst nur vage skizziert waren, sahen sie sich als idealistische Avantgarde, die für die moralische Erneuerung der Nation kämpfte. Gewalt als Mittel der Reinigung wurde auch von manchen Intellektuellen wie Gabriele D'Annunzio in Italien oder Ernst Jünger in Deutschland ästhetisiert. Bereits vor dem Weltkrieg hatten italienische Futuristen wie Filippo Tommaso Marinetti Gewalt als einzige Form der wahren innergesellschaftlichen Erneuerung gefordert. So hieß es im 1909 veröffentlichten Futuristischen Manifest:
    "Wir wollen den Krieg glorifizieren - die einzige Hygiene der Welt -, den Militarismus, den Patriotismus, den destruktiven Akt der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt [...]."
    Der Weltkrieg und die Russische Revolution bestärkten diese Tendenzen noch, da sich viele Revolutionsgegner in einem existenziellen Kampf wähnten, in dem nur extreme Gewalt die eigene Vernichtung verhindern und den Bestand der Nation sichern könne. Nach dem Sturz der von Béla Kun geführten Revolutionsregierung in Budapest formulierte so etwa ein ungarischer Ex-Offizier:
    "Wir werden dafür sorgen, [...] dass die Flamme des Nationalismus hochlodert [...] Wir werden auch strafen. Jene, die über Monate abscheuliche Verbrechen begangen haben, müssen ihre Strafe bekommen. Es ist absehbar, [...] dass die Kompromissler und Magenschwachen jammern und klagen werden, wenn wir [...] rote Verbrecher und Terroristen an die Wand stellen. Die falschen Parolen des Humanismus und anderer Ismen haben schon früher beigetragen, das Land in den Ruin zu treiben. Dieses Mal werden sie vergebens jammern."
    Neu an solchen Gewaltfantasien war nach 1918 eine explizite Koppelung anti‑revolutionärer Unterdrückungsbestrebungen mit einem aggressiv vorgetragenen säkularen Antisemitismus. Der vergleichsweise hohe Anteil jüdischer Mitglieder in russischen revolutionären Organisationen war von ihren Gegnern von Anfang an zu Propagandazwecken genutzt worden. Sie bauten auf den verbreiteten russischen Antisemitismus, als sie Judentum und Kommunismus kurzerhand gleichsetzten und in der Folge massenhaft Pogrome entfesselten, denen in Westrussland, der Ukraine und Polen mindestens 50.000 Menschen zum Opfer fielen.
    Verknüpfung von radikalem Antikommunismus und gewaltbereitem Antisemitismus
    Kaiser Nicolaus II mit Repräsentanten anderer Länder des 1. Weltkriegs.
    Zar Nicolai II. mit Repräsentanten anderer Länder des I. Weltkriegs. (picture alliance / Itar-Tass)
    Es dauerte nicht lange, bis sich das Bild vom "jüdischen Bolschewisten" über die Grenzen Russlands hinaus verbreitete und durch die prominente Rolle Rosa Luxemburgs, Kurt Eisners und Béla Kuns in einigen der folgenden mitteleuropäischen Revolutionen noch verstärkt wurde. Selbst Winston Churchill, der sonst selten durch antisemitische Äußerungen hervortrat, bekundete in einem berüchtigten Zeitungsartikel von 1920:
    "Von der Zeit Spartacus-Weishaupts über Karl Marx bis hin zu Trotzki (Russland), Béla Kun (Ungarn), Rosa Luxemburg (Deutschland) und Emma Goldman (Vereinigte Staaten) ist die weltweite Verschwörung zum Sturz der Zivilisation und die Umgestaltung der Gesellschaft [...] stetig gewachsen [...] Sie war Hauptquell jeder subversiven Bewegung im 19. Jahrhundert; und nun hat diese Gruppe [...] aus der Unterwelt der Großstädte Europas und Amerikas das russische Volk am Schopf gepackt und sich praktisch zu unbestrittenen Herren des riesigen Reiches aufgeschwungen.Es besteht keine Notwendigkeit, den Anteil zu übertreiben, den internationale und größtenteils atheistische Juden an der Schaffung des Bolschewismus und dem tatsächlichen Herbeiführen der russischen Revolution hatten. Es ist sicherlich ein sehr großer Anteil; vermutlich überwiegt er alle anderen."
    Solche Ansichten wurden durch die weite Verbreitung der gefälschten "Protokolle der Weisen von Zion" noch weiter befeuert, die ab 1919 in zahlreiche Sprachen übersetzt und in aller Welt gelesen wurden. Die nahtlose Verknüpfung von radikalem Antikommunismus und gewaltbereitem Antisemitismus, die in den folgenden Jahrzehnten zu einem zentralen Merkmal nationalistischer Bewegungen in Europa werden sollte, gehört zu den tragischen Vermächtnissen der Umbruchszeit um 1917/18. Sie sollte nicht die Einzige bleiben.
    In der Wahrnehmung der Zeitgenossen erwuchsen aus dem Kriegsende neben der Gefahr einer Weltrevolution weitere Probleme, die zumeist mit den Pariser Vorortsverträgen von 1919 in Verbindung gebracht werden. Vielen Beobachtern erschienen die Ergebnisse der Friedenskonferenz, zu der im großen Unterschied zum Wiener Kongress von 1814-15 kein Vertreter der Besiegten eingeladen worden waren, als ein "Diktat" der Alliierten, das einen künftigen Krieg absehbar machen würde. Solche Anschuldigungen kamen nicht nur aus Berlin, Wien und Istanbul, sondern auch aus Frankreich und Großbritannien. So schrieb etwa der französische Literaturnobelpreisträger Anatole France:
    "Der fürchterlichste aller Kriege hatte einen Friedensvertrag zur Folge, der kein Vertrag des Friedens ist, sondern die Fortsetzung des Krieges. Europa wird durch ihn zugrunde gehen, wenn es nicht die Vernunft zu seinem Ratgeber wählt."
    Keynes beklagte "Karthago-Frieden"
    Der englische Ökonom John Maynard Keynes, der selbst Teilnehmer der Friedenskonferenz in Paris gewesen war, deutete die Ergebnisse der Pariser Vorortsverträge in seiner 1920 erschienenen Schrift "Krieg und Frieden" als "Karthago-Frieden", der Deutschland durch unbestimmte Reparationsforderungen versklaven, Europa wirtschaftlich ruinieren und deshalb weitere Kriege zur Folge haben werde.
    Keynes Kritik war sicherlich überzogen und sein Fokus auf die Frage der Reparationen irreführend. Denn das Kernproblem der Friedenschlüsse von 1919, das in den kommenden Jahrzehnten für jede Menge politischen Sprengstoff sorgen sollte, war die radikale territoriale Neuordnung Europas, die sich aus der Zerschlagung der multi-ethnischen Reiche ergab.
    Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs im Spätherbst 1918 und dem Sieg der Alliierten verschwanden die drei jahrhundertealten Großimperien der Osmanen, der Habsburger und der Romanovs von der Landkarte Europas. Ein viertes Imperium, das Reich der Hohenzollern, verlor sämtliche überseeische Besitzungen und wurde quasi über Nacht in eine parlamentarische Demokratie verwandelt.
    Der Zerfall jahrhundertealter Großreiche in Mittel-, Ost- und Südeuropa in aggressiv-nationalistische Kleinstaaten, die mit Ausnahme der Tschechoslowakei allesamt binnen vierzehn Jahren von totalitären Regimen regiert werden sollten, barg einiges an Konfliktpotenzial innerhalb Europas. Dies lag nicht zuletzt an der ethnischen Zusammensetzung der imperialen Nachfolgestaaten, die allesamt nach ethnischer Homogenität strebten, letztlich aber nicht weniger multi-ethnisch waren als die Imperien, aus denen sie hervorgegangen waren. Das Versprechen des US-Präsidenten Woodrow Wilson, die Landkarte Europas im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker neu zu ordnen, war dem Geiste des liberalen Idealismus entsprungen. Doch die Logik des ethnischen Nationalismus, dass nur die homogene Nation eine gesunde Nation sei, musste angesichts der Vielfalt Mittel- und Osteuropas früher oder später in die Katastrophe führen.
    Bereits unmittelbar vor 1914, in den beiden Balkankriegen von 1912 und 1913, hatte sich gezeigt, dass eine Politik der ethnischen Entflechtung - in diesem Fall der blutigen Vertreibung von abertausenden Muslimen aus Südosteuropa - nur durch Gewalt erreicht werden konnte. Dass viele dieser muslimischen Vertriebenen sich während des Weltkriegs an dem armenischen Genozid beteiligten, liegt in der Logik der ethnischen Gewaltzyklen des 20. Jahrhunderts. Oft waren die ethnischen Säuberungen, die nach Ende des Ersten Weltkrieges weiter zunahmen, von älteren sozialdarwinistischen Metaphern der Gefahren rassischer oder nationaler Degeneration und des Ideals einer gereinigten, gesunden Gemeinschaft inspiriert. Die Verinnerlichung der Gewalt nach 1918, also die Verwandlung eines zwischenstaatlichen Krieges in Bürgerkriege, war ein Kernmerkmal der Übergangszeit nach 1918, in der ethnische Konflikte - etwa zwischen Polen und Deutschen in Schlesien oder Muslimen und Christen im auseinanderbrechenden Osmanischen Reich - zur Norm wurden.
    "Bereinigte Gesellschaften" als Ziel
    Russische Infanterie im Einsatz
    Russische Infanterie im Einsatz (picture alliance / dpa / Itar-Tass)
    Eben hierin liegt ein weiteres zentrales Vermächtnis der unmittelbaren Nachkriegszeit: in der wahrgenommenen Notwendigkeit, "gemeinschaftsfremde Elemente" zu entfernen, bevor eine utopische neue Gesellschaft entstehen könne, und all jene auszumerzen, die als schädlich für das Gleichgewicht der Gemeinschaft galten. Diese neue Gewaltlogik stellte in Europa von 1917 bis in die ausgehenden 1940er Jahre eine zentrale Gemeinsamkeit radikaler Bewegungen von links und rechts dar. Als solche ist sie ein wesentlicher Schlüssel, um die Gewaltzyklen zu verstehen, die viele der inner- und zwischenstaatlichen Konflikte in Europa nach 1917 prägten.
    Ihren umfassendsten Ausdruck fanden diese Vorstellungen von "bereinigten Gesellschaften" in den multi-ethnischen Staaten Mittel- und Osteuropas in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg, also zwischen 1918 und der erzwungenen Pazifizierung dieser Region in der Frühphase des Kalten Krieges, in der ethnische Minderheiten vertrieben und Klassengegner unterdrückt, verschleppt oder ermordet wurden.
    Die dritte zentrale Langzeitfolge des Ersten Weltkriegs wird aufgrund der engen Fokussierung vieler Historiker auf Europa oft übersehen: Der Weltkrieg sollte einen langwierigen Prozess der Dekolonisierung einleiten. Denn auch die siegreichen westeuropäischen Staaten bekamen die Folgen der Umwälzungen durch einen Krieg zu spüren, der nationale Emotionen befeuert und im Namen der Rechte kleiner Nationen geführt worden war. In Irland wurde so nach einem blutigen Guerillakrieg gegen britische Militäreinheiten die Unabhängigkeit erkämpft. Gleichzeitig hatte London größte Mühen, koloniale Unruhen in Ägypten, Afghanistan und Indien niederzuschlagen. Die Erschießung Hunderter unbewaffneter Demonstranten, die in der Stadt Amritsar im Punjab gegen ein Ausgangsverbot verstoßen hatten, löste dabei einen allgemeinen Schrei der Empörung aus und wurde zu einem zentralen Referenzpunkt der indischen Kongressbewegung, die alsbald nicht mehr Autonomie innerhalb des Empires zum Ziel hatte, sondern nationale Unabhängigkeit forderte. Hinzu kamen Spannungen in den neu gewonnenen Mandaten des Völkerbunds. In Palästina etwa warf das von London während des Krieges sowohl an jüdische Siedler als auch an arabische Aufständische abgegebene Versprechen auf einen eigenen Staat Probleme auf, die den Nahen Osten bis heute umtreiben.
    Auch Frankreich musste seine imperiale Macht gleich an mehreren Fronten verteidigen: Zu massiven und nur mühsam unterdrückten Aufständen gegen die französische Kolonialherrschaft kam es in den 20er Jahren in Indochina und Syrien. Aufkeimende antikoloniale Bewegungen wurden vor allem durch Wilsons Diskurs über nationale Selbstbestimmung in ihrer Hoffnung auf Unabhängigkeit bestärkt. Wilsons Ideen beflügelten etwa den jungen Ho Chi Minh, der damals noch unter dem Namen Nguyen Tat Thanh in Paris als Tellerwäscher arbeitete und am 18. Juni 1918 in einer Petition forderte, Wilsons Ideen vom Selbstbestimmungsrecht der Völker auch in Indochina zu verwirklichen.
    Krieg warf Probleme auf, ohne sie zu lösen
    Von Irland bis Indien wurde der imperiale Staat zunehmend als illegitim angesehen, während der Nationalstaat zunehmend als einzige legitime Organisationsform staatlichen Zusammenlebens betont wurde. Zwar sollte es noch weitere Jahrzehnte dauern und eines neuerlichen Weltkriegs bedürfen, um den Prozess der vollständigen imperialen Auflösung einzuleiten und abzuschließen. Doch der Erste Weltkrieg und der von Wilson angestoßene globale Diskurs über nationale Selbstbestimmung waren in diesem Prozess eine Wasserscheide.
    Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen erscheint die neuerlich entbrannte Debatte über die Kriegsschuldfrage stark verengt, weil sie zumindest implizit von einer Kontinuität zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg ausgeht. Im Falle des eingangs zitierten britischen Bildungsministers ist die These, dass Großbritannien zweimal im 20. Jahrhundert einen gerechten Krieg gegen totalitäre Unterdrückungsregime geführt hat, eine Argumentationslinie, in der die eklatanten Unterschiede zwischen dem wilhelminischen Deutschland und Drittem Reich nahezu vollständig verblassen.
    Die Debatte in Deutschland ist nicht unähnlich, wenn auch unter spiegelverkehrten Vorzeichen. Denn hierzulande geht es - wie bereits in den 1960er Jahren - um die Frage, ob Deutschland nicht zweimal im 20. Jahrhundert nach der Weltmacht gegriffen hat. Eine unmittelbare und lineare Kontinuität zwischen 1914 und 1939 gibt es jedoch nicht. Die komplexe Situation von 1914 ist mit dem Angriff der Wehrmacht auf Polen im Sommer 1939 ebenso wenig zu vergleichen wie das Kaiserreich mit der Diktatur Hitlers, dessen Aufstieg außerdem keineswegs das zwangsläufige Ergebnis der deutschen Kriegsniederlage von 1918 war.
    Wenn wir uns auf die Suche nach den tieferen Ursachen des Zweiten Weltkriegs begeben wollen, sind wir gut beraten, uns nicht auf die Ursachen für 1914 oder das Kriegserlebnis allein zu konzentrieren, sondern auch die Probleme in den Blick zu nehmen, die der Krieg aufwarf, ohne sie zu lösen: die Schwächung des Gewaltmonopols in den Verliererstaaten, der Zerfall jahrhundertealter Großreiche in Mittel-, Ost- und Südeuropa in aggressiv‑nationalistische, dabei aber ethnisch keineswegs homogene Kleinstaaten, und das Problem des Revanchismus. Zusammengenommen mit dem Aufstieg des Bolschewismus und dem langen Schatten, den die Russische Revolution auf Europa warf, liegen hier, in den Weichenstellungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Schlüssel für ein besseres Verständnis der katastrophalen Fehlentwicklung der europäischen Politik in den folgenden Jahrzehnten.
    Robert Gerwarth, deutscher Historiker und Sachbuchautor. Aufgenommen am 15.10.2011 auf der Frankfurter Buchmesse.
    Robert Gerwarth, geboren 1976, Historiker, Professor für Moderne Geschichte am University College Dublin und Gründungsdirektor des dortigen Zentrums für Kriegsstudien (seit 2010). 2012 wurde er zum Mitglied der Royal Irish Academy gewählt. Gerwarth studierte Geschichte in Berlin und Oxford und promovierte an der University of Oxford mit einer 2005 publizierten Studie zum Bismarck-Mythos.