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100 Jahre Rumänienfeldzug
Der vergessene Krieg

Erst seit kurzer Zeit findet der Rumänien-Feldzug im Ersten Weltkrieg eine größere Beachtung in der europäischen Historiographie. In internationalen Initiativen wird der Versuch unternommen, eine Erinnerungskultur anzustoßen, die über eine bloß nationale siegergeschichtliche Betrachtung hinausgeht.

Von Norbert Seitz | 01.09.2016
    Ein typisches Dorf in Siebenbürgen, Rumänien, mit Dorfstraße und Steinhäusern.
    Ein Dorf in Siebenbürgen (imago / chromorange)
    Wer vom Ersten Weltkrieg redet, denkt meist an die Westfront, an die Schlachten von Verdun, an der Somme oder Ypern. So bewegt sich auch der Tourismus überwiegend zu den Schauplätzen in Frankreich. Dass an der Ostfront ebenso Millionen von Menschen umgekommen sind, gerät dabei meist in den Hintergrund. 1916 fand zum Beispiel der sogenannte Rumänien-Feldzug um Regionen wie Siebenbürgen, den Banat und die Bukowina statt. Beide Kriegsparteien - die Mittelmächte wie die Entente - fuhren dabei mit großen militärischem Einsatz auf, um dort in einem offensiven Bewegungskrieg eine vorzeitige Entscheidung für ganz Europa zu erzwingen.
    Doch am Ende, als 1918 die Pariser Friedensverträge geschlossen wurden, waren die Gewinner der Rumänienschlacht, das kaiserliche Deutschland wie die Donaumonarchie, die Verlierer, während den unterlegenen Rumänen der größte Landgewinn zugesprochen wurde.

    "Es war, als gingen wir mitten in ein altes Bild hinein und würden ein Teil davon (…) Fast hätten wir daneben einen schön gesäuberten und gebleichten Totenkopf übersehen, auf dem noch verwegen die Rumänenmütze sitzt."
    So schildert der Dichter und Bataillonsarzt an der Ostfront, Hans Carossa, in dem 1924 erschienenen "Rumänischen Tagebuch" seine Erlebnisse an einem südosteuropäischen Schauplatz des Ersten Weltkriegs, der in der westlichen Welt über Jahrzehnte nahezu vergessen schien. Den Beginn jenes Rumänien-Feldzuges markiert der Politologe Herfried Münkler in seinem Werk "Der große Krieg":
    "Am 17. August 1916 unterzeichnet Rumänien mit Frankreich und Russland ein Abkommen, wonach ihm Siebenbürgen, die Bukowina und das Banat – alles Territorien der Donaumonarchie – zufallen sollten; das war ein sehr viel attraktiverer Preis, als ihn Deutschland und Österreich zu bieten vermochten, die nur Zugewinne gegenüber Russland in Aussicht stellen konnten. Am 27. August erklärte Rumänien den Mittelmächten den Krieg."
    Doch so außergewöhnlich schien dieser Winkelzug nicht, mit dem Rumänien seine Neutralität damals aufgab. Denn etliche Staaten waren erst im Laufe der Jahre in diesen Krieg eingetreten - neben den Rumänen auch die Italiener, die Bulgaren oder die Griechen, die jeweils abwogen, auf welcher Seite sie mit ihren ökonomischen und territorialen Zielen besser aufgehoben waren – auf Seiten der Mittelmächte um Deutschland, oder der Donaumonarchie oder auf Seiten der Entente um Frankreich, Großbritannien. Dazu der Historiker Ernst Piper, Autor der Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs "Nacht über Europa":
    "Für die Rumänen, die Territorien sich einverleiben wollten, die in österreichischem Besitz waren, war es nicht sehr naheliegend, auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg einzutreten, obwohl der rumänische König das am Anfang wollte. Aber der Ministerpräsident Antonianu hat sich von Anfang an dagegen gewandt und eben einen Neutralitätskurs durchgesetzt. Also der König ist von seinem eigenen Kronrat überstimmt worden. Auch so etwas hat es damals gegeben. Und im Grunde genommen war auch für die Entscheidung gar nicht sosehr ausschlaggebend: Wollen wir lieber mit den Engländern oder Franzosen kämpfen oder mit den Deutschen und Österreichern, sondern es waren die eigenen Interessen und die Gegnerschaft zu Bulgarien".
    Deutschland hatte wirtschaftliche und geostrategische Interessen in der Region, vor allem wegen des Zugangs zum Schwarzen Meer und darüber hinaus zum Bosporus und den Dardanellen. Mit revanchistischem Herzblut hätten dagegen die Rumänen und Bulgaren dort weitergemacht, wo sie am Ende des zweiten Balkankriegs von 1913 stehen geblieben waren, hebt Deniza Petrova hervor, Historikerin an der FU in Berlin:
    "Bulgarien hat Ansprüche erhoben auf den südlichen Teil der Dobrudscha, eine Region, die bekannt ist als Kornkammer. Es ging vor allem um Ressourcen, die kriegsentscheidend waren, die Ressourcen Getreide, Öl und aus ganz Rumänien waren für die Mittelmächte kriegswichtig. Man hat ausgerechnet, dass man drei Jahre den Krieg hätte fortführen können, für den Fall, dass man sich diese Ressourcen voll- kommen zunutze machen kann".
    Der Rumänien-Feldzug begann mit der Einnahme Siebenbürgens, jenem Vielvölkergebiet, das lange Zeit zum Kronland Ungarn und zur Donaumonarchie gehört hatte und das wegen seiner spezifischen Minderheitenproblematik besonders hart umkämpft war. Olivia Spiridon, in Hermannstadt geboren, ist Literaturwissenschaftlerin am Tübinger Institut für die Geschichte der Donau-schwaben. Sie betont, wie sehr in Siebenbürgen der Kampf des Nationalstaats gegen den Vielvölkerstaat getobt habe:
    "Bezogen auf den Ersten Weltkrieg hatte das schon eine ganz wichtige Rolle. Denn ein deutscher Offizier aus der 9. Armee, von Falkenhayn, der hat in seinem Kriegsbericht aus Siebenbürgen und aus Rumänien eben dieses Erstaunen geäußert über die Siebenbürgische Front, die ganz anders war, sagte er, anders als die im Osten und anders als im Westen. Er hat auch an der Westfront gekämpft und war auch in Serbien und hatte die rumänische Front in Siebenbürgen als sehr dynamisch erlebt. Man ging sehr schnell voran und war nicht in diesem Stellungskrieg wie im Westen. Noch nicht zumindest. Und er hat natürlich auch die Exotik dieser Region wahrgenommen."
    Die Mittelmächte beantworteten den rumänischen Angriff auf Siebenbürgen mit einer Offensive in der Dobrudscha, jenem Gebiet am Unterlauf der Donau hin zum Schwarzen Meer, das die Rumänen seit dem Balkankrieg besetzt gehalten hatten. Unter der Leitung des deutschen Generals Mackensen drängte eine Heeresgruppe aus deutschen, österreichischen, bulgarischen und osmanischen Soldaten die rumänischen und russischen Truppen zurück.
    Deniza Petrova: "Also die Schlacht um Tutracan oder Turturcaia ist die Auftaktschlacht der Offensive in der Dobrudscha von Mackensens Armee. Diese Auftaktschlacht war ziemlich entscheidend, wer die Initiative für sich nutzen kann. Es endete mit einer verheerenden Niederlage für Rumänien mit über 8.000 Toten von beiden Seiten".
    Auch die Entscheidungsschlacht um die Hauptstadt Bukarest im Dezember 1916 nahm militärisch einen desaströsen Ausgang für die rumänische Armee. Von dreiundzwanzig Divisionen waren noch sechs an der Seite Russlands übrig geblieben. Es war eine gigantische Fehleinschätzung der Entente, man könne mit Rumänien auf seiner Seite den gesamten Ersten Weltkrieg vorentscheiden, indem man die militärisch schwächelnde Donaumonarchie zur Kapitulation zwingt. Doch die deutschen Militärs sollten diese Erwartung enttäuschen, konstatiert die Historikerin Gundula Gahlen von der FU Berlin:
    "Der Rumänien-Feldzug gilt gerade nicht als Abnutzungskrieg von deutscher Seite oder von Seiten der Mittelmächte, sondern als kurzer gelungener Offensivkrieg. Hier konnte sich deutsche Taktik und deutsche Operationskunst zeigen, das Selbstbewusstsein der Deutschen nochmals zu heben und zu zeigen, dass zumindest vom militärischen Können die deutsche Armee sehr gut aufgestellt war. Gleichzeitig wurde der Rumänien-Feldzug auch oft behandelt, da er als Lehrstück für künftige Operationen galt".
    Die Deutschen sahen sich in diesem Konflikt zunächst in einer eher nüchternen Beobachtungsrolle.
    "Sie fühlten sich nicht komplett bedroht, es gab kein allgemeines Gefühl der Angst, Überforderung, so wie wir es in Belgien oder Nordfrankreich 1914 hatten, was daher massiv dann die Kriegsverbrechen von deutscher Seite befördert hat".
    Der Rumänien-Feldzug lieferte ein weiteres barbarisches Beispiel an entgrenzter Gewalt, vor allem unter den verfeindeten Nachbarn Bulgarien und Rumänien, nicht zu vergessen Russlands Politik der verbrannten Erde. Und die deutschen Soldaten?
    "Das innig nüchterne Handeln, zu dem auch wir hinstreben, hier geschah es inmitten ungeheurer Zerstörungen still und klar":
    Mit derart befremdlichem Dichterton verklärt hier Schriftsteller und Frontarzt Hans Carossa den Krieg aus der damaligen deutschen Verblendung heraus als eine willkommene Prüfung, die trotz des täglichen Gemetzels niemals als solche in Frage gestellt werden durfte. Kritischer beurteilt Gundula Gahlen die deutschen Soldaten:
    "Also im Hinblick auf die deutschen Soldaten ist feststellbar, dass diese sich massiv an Lebensmittelplünderungen in Rumänien beteiligten. Und hier lässt sich durchaus von einer Enthemmung der Soldaten gegenüber der Zivilbevölkerung sprechen. Und befördert wurden diese Plünderungen durch die Vorgabe von allen Kriegsparteien, dass sie sich aus dem Lande ernähren sollten".
    Dass der Rumänien-Feldzug bis heute historiografisch unterbelichtet blieb, ist nach hundert Jahren kaum nachvollziehbar, wie der Historiker Jörn Leonhard in seinem Werk über den Ersten Weltkrieg "Die Büchse der Pandora" ernüchtert darlegt:
    "Die viermonatigen Kämpfe im Osten markieren nicht nur im Blick auf Opferzahlen, sondern vor allen hinsichtlich der strukturellen, militärischen und politischen Konsequenzen einen viel tieferen Einschnitt für den weiteren Kriegsverlauf als Verdun und Somme, denen während des Krieges und bis heute eine ungleich größere Aufmerksamkeit zu Teil wurde".
    Stichwort Opferzahlen - in Rumänien und in Bulgarien:
    Gundula Gahlen: "Wenn man jetzt direkt auf die Armeen hinschaut, muss man sagen, dass Rumänien die Kriegspartei war, die die zweithöchste Opferzahl hatte, also die einzige, die noch darüber geht, ist Serbien. Aber bei Rumänien geht man davon aus, dass vierzig Prozent Verluste im Rumänien-Feldzug der Fall waren, während es bei den Mittelmächten man höchstens von zwanzig Prozent ausgeht."
    Deniza Petrova: "Bulgarien hatte zu Ende des Krieges 1918 800.000 Soldaten mobilisiert, bei einer Bevölkerung von knapp vier Millionen. Die Kriegsverluste betrugen mehr als 200.000".
    Nachdem der Rumänien-Feldzug von 1916 im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Welt kaum mehr vorgekommen war, scheint nunmehr eine Wende in Sicht.
    Gundula Gahlen: "Erst seit wenigen Jahren findet hier der Feldzug mit innovativen Ansätzen eine stärkere Beachtung. Und hier spielt eine entscheidende Rolle, dass sich die westliche Forschung zunehmend bemüht, den Ersten Weltkrieg als globalen Konflikt zu untersuchen."
    Der Historiker Ernst Piper nennt Gründe dafür, warum diese Schlacht in Vergessenheit geraten konnte. Zum einen gab es in diesem Bewegungskrieg außer Tutracan keinen prominenten Erinnerungsort. Außerdem taten sich die dort neu entstandenen Staaten, wie zum Beispiel Polen, schwer mit der Erinnerung:
    "Es kommt zum Weiteren hinzu, dass in der russischen Memorialliteratur der Erste Weltkrieg eigentlich von Anfang an konsequent ausgeblendet worden ist. Das war ein zaristischer Krieg, mit dem wollte die Sowjetunion sowieso nichts zu tun haben. Er war ja auch nicht glorreich, er ist verloren worden".
    Aber auch die deutsche Geschichtsschreibung weist beim Thema Rumänien-Feldzug Lücken auf, sagt Gundula Gahlen:
    "Wenn ich mir jetzt die deutsche Gedenkkultur in den letzten beiden Jahren anschaue und was auch in den kommenden Jahren geplant hat, führt der Rumänien-Feldzug immer noch zu Unrecht ein Randdasein. Es wird nach wie vor zu wenig in Dokumentationen, in Ausstellungen, in Gedenkveranstaltungen berücksichtigt. Hier muss noch eine Menge Forschungsarbeit insgesamt geleistet werden".
    Es ist nachvollziehbar, dass durch den späteren Ausgang des Ersten Weltkriegs der Rumänien-Feldzug in der Geschichtsschreibung unterschiedlich akzentuiert wurde.
    Ernst Piper: "Es hängt nur damit zusammen, dass die Entente insgesamt diesen Krieg gewonnen hat. Rumänien hat eigentlich unter militärischen Gesichtspunkten eine sehr schwache Vorstellung geliefert. Was sicher auch mit dem Ausbildungsstand dieser Armee zusammenhängt. Und denen konnten auch die russischen Truppen, die da zu Hilfe gekommen sind, nicht helfen".
    Der Schlachtenverlierer Rumänien ging hernach mit beträchtlichem Landgewinn als Sieger aus den Pariser Friedensverhandlungen von 1918 hervor. Umgekehrt die Situation in Bulgarien.
    Deniza Petrova: "Bulgarien hat eine eigene Dolchstoßlegende entwickelt nach der Niederlage 1918, also "im Felde unbesiegt". Man ging davon aus, dass es ist keine militärische, sondern eine diplomatische, eine politische Niederlage gewesen oder ein Versagen in den bulgarischen politischen Regierungseliten und weniger des Militärs. Und aus diesem Ausgangspunkt dann hat man die Siege im Ersten Weltkrieg, inclusive gegen Rumänien, genutzt, um eine Erinnerungskultur aufzubauen, die verstärkt auf Heldentum geblickt hat, auf Aufopferung der Soldaten natürlich auch".
    Ganz anders die Erinnerungskultur in Siebenbürgen. Olivia Spiridon:
    "In der siebenbürgischen Literatur ist so typisch der Topos von der "eingeinselten, gefährdeten Welt", und dann heißt es, "umgeben vom rauschenden Völkermeer". Das ist typisch für diese Welt Siebenbürgens, dass der Krieg eben das Multiethnische sehr stark lädiert hat".
    Verstärkte Anstrengungen in Bulgarien und Rumänien zum hundertsten Jahrestag sind kaum zu übersehen, zum Beispiel sozialgeschichtliche Untersuchungen, Regionalstudien, Generationenforschung, die individuellen Leidensgeschichten und Familienschicksale, etwa die Aufarbeitung der Feldpostbriefe. Dennoch: Eine siegergeschichtliche Annäherung an den Feldzug und seine Konsequenzen ist in Rumänien noch immer präsent:
    Gundula Gahlen: "Das sieht man daran, dass jetzt zum Beispiel zum hundertjährigen Jubiläum auch ein großes EU-Projekt in Rumänien verwirklicht wurde, das heißt: 'the road of the glory of the romanian army'."
    Nach 1990 und dem Ende der kommunistischen Herrschaft in der Region änderte sich auch die Geschichtsschreibung. Im Mittelpunkt steht seitdem nicht mehr der imperialistische Bösewicht Deutschland. Deniza Petrova:
    "Man versucht vielmehr jetzt die Perspektiven auch unter dem Schwerpunkt Diversität der Erfahrung, Diversität der Erinnerung zueinander in Verbindung zu stellen. Die Forschung in Bulgarien begreift sich jetzt an der Schwelle, mit anderen internationalen Forschungsprojekten sich in Kontakt zu setzen und an einer gemeinsamen europäischen Erinnerung des Ersten Weltkriegs zu forschen".
    Auf dem Weg dorthin findet Ende September in Bulgarien ein internationaler Kongress mit Wissenschaftlern aus den damals kriegsteilnehmenden Ländern statt. Mit federführend dabei ist auch ein Historiker-Team von der FU in Berlin, darunter Deniza Petrova und Gundula Gahlen:
    Deniza Petrova: "Ich würde mir wünschen, vor allem mehr bilaterale oder trilaterale Projekte, mehr internationale Forschungsprojekte, die sich mit der Geschichte von Leuten, mit Erfahrungshorizonten, Wahrnehmungen des Anderen beschäftigen würden".
    Gundula Gahlen: "Die internationale Tagung möchte insgesamt eine Plattform bieten, um die in den letzten Jahren erzielten Forschungsergebnisse zum Rumänien-Feldzug vorzustellen, zu diskutieren und zueinander in Beziehung zu setzen".