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100 Tage Kanzlerschaft

Am 13. August 1923 trat die erste Große Koalition der Weimarer Republik ihr Amt an. Reichskanzler wurde Gustav Stresemann. Seine Kanzlerschaft dauerte kaum mehr als drei Monate, doch sie legte die Fundamente für die relative Stabilität der Weimarer Republik in den folgenden vier Jahren.

Von Volker Ullrich | 13.08.2008
    Große Koalitionen sind in parlamentarischen Demokratien eher die Ausnahme als die Regel. Meistens kommen sie zustande, wenn es keine anderen Möglichkeiten der Mehrheitsbildung gibt oder wenn besondere politische Umstände eine breite parlamentarische Basis erforderlich machen. Das war bereits in der Weimarer Republik der Fall.

    Am 13. August 1923 wurde die erste Große Koalition aus SPD, Zentrum, Deutscher Demokratischer Partei und Deutscher Volkspartei gebildet. Der österreichische Botschafter berichtete aus Berlin:

    "Noch niemals hat eine Regierung ihr Amt in einem schwierigeren Augenblick übernommen als dem gegenwärtigen."

    Die Probleme, vor denen der Reichskanzler der Großen Koalition und Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, Gustav Stresemann, stand, waren tatsächlich gewaltig. Denn seitdem französische Truppen im Januar 1923 das Ruhrgebiet besetzt hatten und die Reichsregierung als Antwort darauf den "passiven Widerstand" proklamiert hatte, war die Inflation völlig außer Kontrolle geraten Der Wert der Mark fiel ins Bodenlose. In seiner "Geschichte eines Deutschen" erinnert sich Sebastian Haffner:

    "Im August erreichte der Dollar die Million. Wir lasen es mit leichtem Atemstocken, als ob es die Ansage eines unglaublichen Rekords gewesen wäre. Vierzehn Tage später neigten wir schon dazu, darüber zu lachen... Im September hatte die Million keinen praktischen Wert mehr und die Milliarde wurde die Zahlungseinheit."

    Als erstes verkündete Stresemann am 26. September 1923 den Abbruch des "passiven Widerstands" an der Ruhr. Von der politischen Rechten wurde er daraufhin als Verräter nationaler Interessen verunglimpft. Die bayerische Staatsregierung verhängte den Ausnahmezustand und übertrug die vollziehende Gewalt einem "Generalstaatskommissar", Gustav Ritter von Kahr. Das kam einem Akt der Auflehnung gegen die Reichsregierung gleich.

    Das Ende des Ruhrkampfes war jedoch unumgänglich, wollte die Große Koalition ihr wichtigstes Ziel erreichen: Geldstabilität. Am 15. Oktober wurde die "deutsche Rentenbank" errichtet, deren Kapital den Grundstock für die einen Monat später ausgegebene "Rentenmark" bildete. Für die neue provisorische Währung wurde ein Umtauschverhältnis von 1 zu 1 Billion Papiermark festgelegt. Der Kabarettist Otto Reutter kommentierte das auf seine Weise:

    "Bei der Inflationsmisere/war’n wir alle Milliardäre./Auch beim Ärmsten hat’s gereicht,/ das war leicht./ Doch seit Rentenscheine gelten,/ da ist eine Mark schon selten./ Werd’n Sie jetzt mal Milliardär./ Das ist schwer."

    Vor Einführung der Rentenmark musste die Regierung der Großen Koalition allerdings noch schwere Belastungsproben bestehen. Die Spitze der KPD glaubte im Herbst 1923 die Zeit reif für einen revolutionären Aufstand. Die Einheitsfrontregierungen mit der SPD in Sachsen und Thüringen sollten dafür das Sprungbrett bieten. Doch die Ende Oktober vollzogene "Reichsexekution", also die Absetzung der sächsischen Regierung durch Reichswehrtruppen, machte derlei Plänen ein Ende.

    Wesentlich weniger energisch gingen Regierung und Reichswehr gegen das abtrünnige Bayern vor. Hier konnte von Kahr zunächst weiter machen und die extreme Rechte ungestört Umsturzpläne schmieden. Aus Protest gegen die ungleiche Behandlung der Fälle Sachsen und Bayern traten die sozialdemokratischen Minister am 2. November 1923 aus der Regierung der Großen Koalition aus - wenige Tage bevor der "Führer" der NSDAP, Adolf Hitler, mit seinem Putsch in München scheiterte. Stresemanns Rumpfkabinett amtierte noch bis zum 23. November: Dann wurde es durch ein Misstrauensvotum gestürzt.

    Nur rund hundert Tage währte Stresemanns Kanzlerschaft. Dennoch war Beachtliches erreicht worden: Die parlamentarische Demokratie hatte sich in ihrer bislang schwersten Krise behauptet. Die Inflation war eingedämmt und damit die Voraussetzung für eine wirtschaftliche Erholung geschaffen worden. Schließlich waren mit dem Abbruch des Ruhrkampfes die Weichen gestellt für eine Verständigung mit Frankreich, die Stresemann als Außenminister in den folgenden Jahren zielstrebig verfolgen sollte. In einem Rückblick des Jahres 1928 hat er seine Politik noch einmal nachdrücklich verteidigt:

    "Wir haben es vorgezogen, lieber Popularität und Mandate zu verlieren, als die bequemen Wege der Opposition zu gehen. Wir haben dem Volke versprochen, nationale Realpolitik zu treiben, und haben es getan nach außen und innen. Und nur ein Tor kann leugnen, dass das Deutschland von heute ein anderes ist als das Deutschland, in dem vor fünf Jahren um die Beendigung der Ruhrpolitik gekämpft wurde."