Donnerstag, 18. April 2024

Archiv


1000 Jahre Gastfreundschaft in luftiger Höhe

Der Große Sankt Bernhard ist einer der berühmtesten Alpenübergänge von der Schweiz nach Italien. Schon im 11. Jahrhundert wurde auf dem Pass ein Hospiz errichtet, das bis heute im Winter bis zu 6000 Gäste anzieht.

Von Joachim Dresdner | 28.10.2012
    Bei der Bahn sind alle Anschlüsse getaktet wie ein Schweizer Uhrwerk: Zürich, Bern, Spiez, Visp, Martinigy. Dann Schmalspur ab Gleis 50! Einmal umsteigen bis Orsières, auf 900 Metern Höhe gelegen. Dann auf den St. Bernhard.

    Irgendwann, auf halber Strecke, zweigt die Hauptstraße in Richtung Tunnel ab, die Andere führt weiter hinauf zum Pass. In der Senke verläuft, zwischen Steinen und Gräsern, ein schmaler Weg.
    Am Abend ist es geschafft: Ich bin auf dem großen Sankt Bernhard, dem berühmten Pass an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien! Fast 2.500 Meter hoch. Draußen sind es zwölf Grad Celsius.

    Im schlichten Speiseraum, gleich hinter der Küche, gießt der Augustiner Chorherr Frederic schwungvoll Tee aus einer Aluminiumkanne in die Trinkschalen der Neuankömmlinge.

    "Und sie sind dort für zwei Tage? Zwei Nächte. Abendessen um 19:15 Uhr und Frühstück um acht. Wir haben eine Messe um Viertel nach sechs, wenn sie möchten. Das Gebet ist freiwillig. Also: Es ist ein Vierbettzimmer, aber sie sind allein in diesem Zimmer, ganz ruhig."

    Frederic, schmales Gesicht, dunkle Augen, kurzes Haar, erklärt gestenreich und originell und routiniert.

    "Im zweiten Stock gibt es einen Salon zu lesen, noch einen Stock höher, im dritten Stock, dann geradeaus ist das Zimmer: 310."

    310. Ein langes, schmales Zimmer mit einem kleinen Fenster. Helle, sehr einfache Möbel mit eingebrannten Jahreszahlen: 1563 oder 1786. Von der Treppe aus kurz über den Gang mit dem Felsplattenboden. Für die wuchtige, mehrgeschossige Herberge gibt es weder einen Zimmerschlüssel noch einen Hausschlüssel.

    "Er ist verloren in 1050, seit wir in der Arbeit waren, um dieses Gebäude zu bauen. Seit 1050 ist das Hospiz immer offen! Tag und Nacht, Winter wie Sommer, nie geschlossen seitdem und immer mit Bernhardinern!""

    Der eigentliche Bernhardiner, nicht der Hund, das bin ich, verblüfft Frederic stolz seine Gäste:

    ""Ich bin ein Bernhardiner! Der erste Sinn der Bernhardiner ist der religiöse, vom großen Sankt Bernhard. Im Duden vor 20 Jahren habe ich gelernt: Duden - Bernhardiner: Erster Sinn sind die Religiösen vom Großen Sankt Bernhard. Ich bin ein Bernhardiner! Echter! Aber die Deutschsprachigen lachen immer, wenn wir sagen, ich bin ein Bernhardiner, weil sie immer an den Hund denken. Bis später und um 19:15 Uhr das Abendessen, hier."

    Das Abendessen beginnt mit einer geschmackvollen Tomatensuppe, dann steht Kartoffelauflauf mit geschmortem Kammfleisch auf dem langen Tisch und zum Schluss Grießpudding. Jeder nimmt aus Topf oder Schüssel. Wir kommen miteinander in Gespräch. Mit Markus zum Beispiel. Er stammt aus der Schweiz, aus Thun, ist Ende Zwanzig und hat als Pilger ein klares Ziel:

    "Das Ziel selber ist Rom. Ich bin auf der Via Francigena unterwegs. Das ist der Pilgerweg, der von Canterbury bis nach Rom runtergeht."

    Der Kulturweg verband im Römischen Reich die Hauptstadt mit dem Norden Europas. Er wurde im Mittelalter eine wichtige Handelsachse und zu einer der wichtigsten Pilgerrouten.

    "Wir hatten gestern vier, fünf Stunden reine Marschzeit mit einem Höhenunterschied von irgendwie 900 Metern und das ist genug."

    Acht Etappenorte und der große Sankt Bernhard liegen in der Schweiz.

    "Vor vier, fünf Monaten habe ich mich entschlossen diesen Weg zu gehen, einfach aus dem Grund heraus, ich möchte Zeit für mich haben, möchte mir Gedanken machen über die Zukunft, wie es beruflich weiter gehen soll. Ich möchte unter Umständen den Beruf wechseln und ich bin einfach der Meinung, dass ich viel Zeit dazu benötige, mir Gedanken darüber zu machen, in welche Richtung das gehen soll."

    Pilgern als Hoffnung sich selbst zu finden, das kann klappen, erfahre ich später von Markus. Jetzt laden die Chorherren zur Abendmesse. Sie treffen sich in der Krypta. Zu dem Gebetsraum führen Stufen hinunter.

    Das schlichte, alte Gewölbe mit guter Akustik bildet das Fundament für die Kirche genau darüber. Der Lieblingsort des Priors Jose Mittaz:

    "Ja, es ist in Krypta, wo ich gerne bin, weil das Krypta ist die Kirche des 13. Jahrhunderts. Ganz hinten gibt es eine Steinmauer und das ist eine Steinmauer vom 11. Jahrhundert. Wenn ich ganz müde bin, bete ich gegen diese Mauer und es ist für mich eine Kraft, die 1.000 Jahre hat."

    Sie bilden eine kleine Gemeinschaft: der Prior, der Erstere, die beiden Chorherren und zwei Oblatinnen, Mitschwestern, deren Ordensgemeinschaft auch im Dienst der Gastfreundschaft steht.

    "Ich bin der Prior von einem Hospiz, das 1000 Jahre hier ist und ich bin 40 Jahre alt und wir sind eine kleine Gemeinschaft von fünf Personen, mit Freunden und Angestellten. Wir fühlen uns sehr klein und demütig, um diesen Dienst zu machen."

    Die Gastfreundschaft, das Begleiten von Menschen, die Hilfe, das habe ihnen Bernhard aufgetragen. Der Heilige Bernhard ist Schutzpatron der Alpenbewohner und Bergsteiger Der Alpenübergang des Mont-Joux, des großen Sankt Bernhard, zwischen dem Wallis und dem Aostatal war gefährlich, wurde aber dennoch von vielen Reisenden und Pilgern genutzt. Und so gründete Bernhard von Menthon das Hospiz, als eine der ersten Bergrettungsstationen.

    Im Laufe der Zeit hat sich vieles geändert. Es gibt Telefon, Internet und seit 1964 den Autotunnel. Dennoch suchen gestresste Wanderer immer wieder die Stille und Geborgenheit des Hospizes:

    "Es ist für mich eine Freude und auch eine Art Gott zu treffen. Hier möchten wir alle Pilger, alle Reisenden aufnehmen wie Jesus Christus, das heißt durch Reisende, die hierherkommen, bekommen wir ein Geschenk und auch Vertrauen von diesen Personen."

    Das sichtbare Zeichen Gottes ist jedes menschliche Gesicht. Das war die älteste Regel. Diese Regel funktionierte eines Tages nicht mehr. Am Anfang des 20.Jahrhunderts kamen ungefähr 300 Personen am Tag, die wollten gratis zu Mittag essen(!). Touristische Vereine, Reisebüros boten diese Ausflüge an. Die Reisenden bezahlten für das, was die Chorherren ihnen schenkten.

    "Also heute für uns ist die Gastfreundschaft immer gratis, wenn jemand braucht gratis hier zu bleiben, es ist gratis, aber das gratis, ist auch unsere Zeit zu verbringen, damit Personen sprechen können, ein wenig Liebe bekommen, wenn jemand über sein Leben sprechen kann, seine Ängste -ja, das ist unser Dienst."
    Dafür steht das Hospiz auf dem Großen Sankt Bernhard seit über 1000 Jahren immer offen. Jugendgruppen, Wallfahrer, Wanderer. Die Chorherren bringen den Durchreisenden gern den Sinn und die Bedeutung ihres Hauses näher.

    Manches wirkt nach, wenn zum Beispiel Gäste eine E-Mail an den Prior schreiben, oder wenn sich Besuche ankündigen:

    "Weil wir 6000 Personen bekommen im Winter. 6000, die hier übernachten! Sie kommen mit Tourenski, mit Schneeschuh und so weiter. Hier sagen wir gerne, dass wir zwei Jahreszeiten haben, der vorige Winter und der zukünftige Winter."

    Der Sommer sei einfach zu kurz. Wenn Jose Mittaz das alles zu viel wird, dann zieht er sich für ein paar Tage in ein Kloster zurück. Immer wieder beklagten auch die Chorherren Opfer am Berg, zuletzt im Frühjahr 1991 am Petit Mont-Mort, dort, wo sich seit Menschengedenken noch nie eine Lawine löste:

    "Der letzte Mitbruder, der gestorben ist unter Lawinen, das war ein Mitbruder, der in einer Schule arbeitet und er war mit Studenten hier auf dem Mont Morte. Morte, das heißt sterben, Mont Morte und sieben Personen waren tot, sind gestorben unter der Lawine."

    Im Sinne des Heiligen Bernhard beten sie jeden Tag für die Kletterer in den Bergen, dass sie geschützt sein mögen und heil in die Gemeinschaft zurückkehren.

    Nach der Messe in der Krypta wird es Nacht im Hospiz auf dem Sankt Bernhard. Durch den Flur auf der dritten Etage schweben Flötentöne. In einem der Zimmer übt jemand noch eine Weile vor sich hin, dann ist es still!

    Durch das kleine Fenster sehe ich, wie Mondlicht den Felshang beleuchtet.
    Kein Plätschern, kein Flügelschlag, kein Motorengeräusch.
    Stille bis zum Morgen.

    Da beginnt jemand leise zu trommeln.

    Immer mehr Musiker kommen hinzu. Aus dem Etagenlautsprecher tönt der, sich zu einem kräftigen Finale aufschwingende, "Bolero" von Maurice Ravel. Als das Stück am Schluss jäh abbricht, ruft die Hausglocke zum "Frühstück".

    Kurz darauf sitze ich wieder an der langen Tafel.
    Eine Alleinreisende möchte innere Ruhe finden. An der Frühstücksbank gelingt ihr das noch nicht so recht. Sie hat sich mit José Mittaz zu einem Gespräch verabredet, der begrüßt uns alle herzlich und erinnert sie an das Treffen.

    Ein junges Wanderpaar unterhält sich mit uns auf Deutsch, Englisch und Französisch. Es macht sich auf den Weg nach Rom. Vielleicht, schätzen die beiden, kommen sie heute bis Aosta. Sie machen einen frischen Eindruck.

    Auf der engen Passstraße herrscht Betrieb: Reisebusse, Motorräder, Rennräder, schnelle Autos. Bergstiefel, Wanderschuhe und Sandaletten. Pullover mit Kapuzen und leichte Sommerkleidung. Kurze Rast zwischen Hospiz und Hotel mit Souvenirshop und Hundezwinger.

    Reto Sommer, stammt aus Biel, ist jetzt Bergfüher in Verbier. Er findet die Hundezwinger lenkten von der eigentlichen Geschichte, vom eigentlichen Zweck des Hospizes ab:

    "Das eigentlich dazu da war, dieses Grenzgängertum, Räubertum und weiß der Teufel, Schmuggler, ganze Schmugglergeschichte einzudämmen und das eben sich Napoleon auch mal mit einer ganzen Armee hier drüber gewagt hat, das geht auch 'n bisschen vergessen, weil das eben alles auf den Hund fokussiert wird, aber bist ja auch schön, der Hund verkauft sich gut."

    Das finden wohl auch die schweizer Radiokollegen von DRS 1, die an diesem Vormittag Live vom großen Sankt Bernhard senden.

    "Ihre Geschichte und die Geschichte des Hundes"

    sagt Reto über die Chorherren,

    "das geht ja miteinander. Anfang waren es ja sie, die mit den Hunden die Leute, wenn sie dann hier oben mal irgendwie stecken geblieben sind gerettet haben, weil sie auch die Einzigen sind, die das ganze Jahr hier oben bleiben."

    Fast 2500 Meter über dem Meeresspiegel. Von Italien ziehen Wolken herüber, wie Nebelstreifen hüllen sie das Bergmassiv ein. Leichter Regen fällt. Der Nebel kommt näher, erreicht das Eisenkreuz auf halber Berghöhe. Graugrüne, zerklüftete Felsen, gewaltig ineinander gerückt, die sich öffnende Mulde in der Mitte ist von Schnee bedeckt. Der hellt den sonst trüben Tag auf.

    "Jeder, der halt dann irgendwie hier oben am Wandern ist und vom schlechten Wetter überrascht wird, der kann sich im Hospiz dann verpflegen, wird auch betreut. Ist natürlich nicht mehr wie früher, wir haben jetzt Helikopter und die ganzen Rettungsleute usw., die sind dann viel schneller hier als die Mönche, wenn sie zu Fuß kommen."

    Schwer einzuschätzen die Wetter hier oben. Reto hat das schon erlebt: am Abend grüne Wiesen und am Morgen 20 Zentimeter Neuschnee. Selbst im Sommer schneit es hier manchmal. Schmelzwasser rinnt von den Hängen, frischer Wind kommt auf. Reto zeigt bergwärts:

    "Das sind Lawinenhänge. Da haben sie auch die Steine und es kann gut sein, dass die nicht alle hier waren, letztes Frühjahr. Das sind dann halt schon Kräfte, die ungemein gefährlich sind und eben auch Ehrfurcht einflößen."

    In der Nähe von Chamonix am Mont Blanc starben neun Menschen bei einem Lawinenunglück, in der gleichen Gegend erfroren wenige Tage später zwei Bergsteiger und am Lagginhorn bei Saas-Grund stürzten fünf Bergsteiger in den Tod. 16 Tote in 14 Tagen! Im Sommer.

    "Man sollte eigentlich auf der Piste bleiben, aber das ist in dieser Gegend relativ schwierig, weil hier oben gibt's keine Pisten! Und da kommt wieder irgend so ein englischer Raser: - Die haben keine Berge zuhause."

    Ich denke an Markus, den Rom-Pilger: gutes Wanderwetter! Doch Reto warnt, es könnte schnell auch anders kommen:

    "Dieses Stück der Via Francigena von ganz unten von Saint-Maurice bis nach Aosta, das sind ja acht Tage, die sie machen können. Das muss dann auch stimmen, weil, wenn sie hier oben sind und es schneit, dann ist das nicht lustig!"

    Den Pass hatte Markus bei günstigem Wetter gemeistert. Als ich ihn am Ziel wähne, kommt eine E-Mail.
    Er sei, schreibt Markus, wieder zuhause und wäre zuvor bis Vercelli der alten Bischofsstadt im italienischen Piemont gekommen. Zwar hätte sein rechtes Fußgelenk schon seit dem Sankt Bernhard geschmerzt, er habe aber weitere 10 Tage durchgehalten. Eben bis Vercelli!

    Er fand auf seiner Tour heraus, was für ihn wichtig sei und will den Weg zu Theologiestudium und Pfarramt einschlagen.

    Pilger seien Suchende zu Fuß, hatte ich irgendwo gelesen, sie suchten sich selbst. Markus, scheint mir, hat seinen neuen Weg gefunden.