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101 Jahre nach Genozid
"Alle Armenier sollten vernichtet werden, aber wir sind immer noch da"

Der Genozid an den Armeniern ist auch nach 101 Jahren Teil der armenischen Identität. Schon kleinen Kindern wird davon erzählt, Künstler, Politiker, Wirtschaftsleute und Intellektuelle berufen sich darauf, auch beim Blick auf die Zukunft.

Von Werner Bloch | 21.09.2016
    Außenminister Frank-Walter Steinmeier (l, SPD)am 23.10.2014 in Eriwan (Armenien) bei der Kranzniederlegung vor dem Genozid-Mahnmal Tsitsernakaberd.
    Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor dem Genozid-Mahnmal in Eriwan. (picture alliance / dpa / Rainer Jensen)
    Das Genozid-Mahnmal in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens. Ein 44 Meter hoher Zacken aus Beton, auf einem Hügel hoch über der Stadt. Von hier sieht man den Ararat, den heiligen Berg der Armenier, doch der ist praktisch unerreichbar: Er liegt auf türkischem Gebiet.
    Eine Gruppe 5- bis 6-jähriger Jungen und Mädchen hat sich vor dem Genozid-Mahnmal aufgestellt. Vor einem unterirdischen Feuer legen die Kinder Blumen nieder. Schon den ganz Kleinen wird hier beigebracht, wie wichtig der Genozid an den Armeniern vor 101 Jahren ist. Die Betreuerin:
    "Wir sind ein Kindergarten aus Eriwan und sind hier, um das 25-jährige Gründungsjubiläum des modernen Armeniens zu feiern. Die Kinder sollen schon früh etwas vom Genozid an den Armeniern erfahren, denn viel zu lange wurde dieser Völkermord verschwiegen."
    "Dies ist kein Konzert, dies ist Rache"
    Unten, in der Rotunde des Genozid-Museums, sind Fotos und erschreckende Texte ausgestellt. Besonders auffällig die Brutalität: das Abhacken von Gliedern, das Verbrennen von Kindern, die massenweise Kreuzigung armenischer Christen während des Genozids. Methoden, wie sie heutzutage der IS anwendet. Der Journalist Ara Tadevosyan:

    "Der 100. Jahrestag des Genozids war für viele von uns Gelegenheit, neu nachzudenken. Die Botschaft ist die: Der Jahrestag bedeutet, dass wir gesiegt haben. Alle Armenier sollten damals vernichtet werden, aber wir sind immer noch da. Wir haben jetzt ein freies, unabhängiges Land. Es gab da einen sehr emotionalen Moment. Am Vorabend des Jahrestages, am 23. April 2015, gab System of a Down ein Konzert auf dem Platz der Republik, eine amerikanische Band, die aus Armeniern besteht. Der Gitarrist sagte vorher: Dies ist für unsere Mörder. Dies ist kein Rock’n Roll-Konzert, sondern dies ist Rache – weil es uns Armenier immer noch gibt."
    Eine Besuchergruppe nähert sich dem Genoziddenkmal in Eriwan
    Genoziddenkmal in Eriwan (Deutschlandradio/Werner Bloch)
    Die Armenier wollen nicht mehr Opfer sein, sondern in die Zukunft blicken. Zwar ist Armenien kein Musterland; es gibt häufig Demonstrationen, die mit Gewalt niedergeknüppelt werden. Erst vor wenigen Tagen erst musste der Premierminister wegen Korruption zurücktreten.
    Der beste Schadensersatz wäre deutsche Hilfe
    Doch Armenien will nach vorn. Das Land hat keine Bodenschätze, kein Öl oder Gas, aber seine wichtigste Ressource ist das Brain Capital, das intellektuelle Potential. Die IT-Industrie ist im letzten Jahr um 25 Prozent gewachsen. Armenier sind als Ingenieure, Wissenschaftler, Geschäftsleute, in der ganzen Welt bekannt.

    Zu dieser Gruppe gehört auch der reichste armenische Unternehmer, Ruben Vardanyan. Mit 22 Jahren ging er nach Moskau und gründete dort die erste Investitionsbank. Inzwischen steckt er sein Vermögen in soziale und künstlerische Projekte. Ruben Varganyan:
    Kinder stehen an einem Denkmal
    Genoziddenkmal in Eriwan (Deutschlandradio/Werner Bloch)
    "Die ganze Familie meines Großvaters wurde im Genozid ermordet, nur mein Großvater hat durch die Hilfe amerikanischer Missionare überlebt. Wir sind ganz unmittelbar betroffen. Die Anerkennung des Genozids durch Deutschland ist ehrlich gesagt nicht so sehr für uns Armenier wichtig, sondern für die Deutschen. Sie haben ja die Massaker gefördert, sie sind mitverantwortlich und erkennen das endlich an. Das ist gut. Die beste Art der Wiedergutmachung ist aber eine Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Armenien, die uns mehr Wohlstand erlaubt. Die Deutschen können uns helfen, in Ausbildung und Technologie zu investieren, das wäre der beste Schadensersatz – aber das sollten sie freiwillig tun, ohne äußeren Druck und Zwang."
    "Die Wahrheit erzählen - darauf kommt es an"
    In seinem Büro im Parlament sitzt der Abgeordnete Tevan Poghosyan, ein unscheinbarer kleiner Mann mit schwarzen Augen und schwarzen Haaren. Er leitet einen Think Tank zur Zukunft Armeniens. Doch der Genozid ist Teil der armenischen Identität, immer wieder geht der Blick auch auf den Umgang mit der Vergangenheit. Poghosyan klagt: Nur 26 Staaten haben den armenischen Genozid bisher anerkannt.
    "Die Wahrheit erzählen – darauf kommt es an. Wenn mich die internationalen Medien fragen, sage ich immer: Schreiben Sie unsere Geschichte auf, so wie sie ist. Denn jedes Mal, wenn ein Artikel erscheint, hat das Auswirkungen auf die türkische Öffentlichkeit. Es gibt ja kaum noch demokratische Zeitungen in der Türkei, aber die meisten der 70 Millionen Türken können Facebook und Twitter lesen. Die Welt hat sich geändert, kein autokratisches System kann sich mehr abschotten."