Donnerstag, 28. März 2024

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125 Jahre Rentenversicherung
Eine Grundfeste des Sozialstaats

Am 1. Januar 1891 trat im Deutschen Kaiserreich das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" in Kraft. Von hier bis zur gesetzlichen Rentenversicherung der Bundesrepublik war es ein weiter Weg. Bis heute bildet sie eine wichtige Säule des deutschen Sozialstaats.

Von Bernd Ulrich | 01.01.2016
    Eine ältere Frau zählt und stapelt Geldstücke
    Ihre Anfänge verdankt die gesetzliche Rentenversicherung der industriellen Revolution und den dadurch ausgelösten sozialen Umwälzungen. (Imago)
    Ein "Königtum der sozialen Reformen" – davon träumte der Staatsrechtler und Nationalökonom Lorenz von Stein schon 1850. Mit diesem monarchischen war der preußische Staat gemeint. Die Forderung von Steins an diesen Staat lautete:
    "Er muss endlich mit seiner Macht den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt aller seiner Angehörigen fördern, weil zuletzt die Entwicklung des Einen stets die Bedingung und eben so sehr die Consequenz der Entwicklung des Anderen ist; und in diesem Sinne sprechen wir von dem socialen Staate."
    Wie nebenbei formulierte der Ahnherr der sozialen Demokratie auch erstmals die Idee eines "socialen Staates", durchaus schon so gemeint und definiert wie wir ihn heute haben. Zu seinen Grundfesten gehört nach wie vor die gesetzliche Rentenversicherung, in der die Jungen für die Alten zu sorgen haben. Heute ist daraus das bei weitem größte soziale Sicherungssystem in unserer Republik geworden.
    "Was ist aber eine sociale Reform, was hat sie zu leisten?"
    Ihre Anfänge verdankt die gesetzliche Rentenversicherung der industriellen Revolution und den dadurch ausgelösten sozialen Umwälzungen. Sie vermehrten im Verlaufe des
    19. Jahrhunderts zum einen die alle Generationen betreffende Armut. Ja, sie schufen gar neue Formen, etwa innerhalb des nahe am Existenzminimum oder noch darunter vegetierenden Industrieproletariats. Die traditionell mit der Armenfürsorge befassten Gemeinden und Kommunen waren angesichts dieser zunehmenden Verelendung restlos überfordert.
    Zum anderen gewann der soziale Protest in den Industrieregionen rasant an Gewicht – und nahm seit 1863 in der zunehmend stärker werdenden Sozialdemokratie Gestalt an. Der Ruf nach Reformen wurde unüberhörbar. Gustav Schmoller, einer der damals führenden Nationalökonomen, erhörte diesen Ruf und versuchte 1872 eine Antwort:
    "Was ist aber eine sociale Reform, was hat sie zu leisten? Ihr allgemeines Ziel ist klar. Es besteht in der Wiederherstellung eines freundlichen Verhältnisses der socialen Klassen unter sich, in der Beseitigung oder Entäußerung des Unrechts, in der größeren Annäherung an das Prinzip der vertheilenden Gerechtigkeit, in der Herstellung einer socialen Gesetzgebung, die den Fortschritt befördert, die sittliche und materielle Erhebung der unteren Klassen garantiert."
    Von hier bis zur kaiserlichen Botschaft Wilhelms I. im Jahre 1891 war es aber noch ein weiter Weg – ein Weg, dessen Verlauf völlig unterschiedlichen Interessen unterlag. In der kaiserlichen Botschaft hieß es, "dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde."
    Die Sozialistengesetze von 1878, das heißt, die Unterdrückung der Arbeiterbewegung, und die Einrichtung staatlich geförderter Versicherungen – beides bildete nur zwei Seiten einer Medaille. Der eigentliche Erfinder dieser Politik aus "Zuckerbrot und Peitsche", Reichskanzler Otto von Bismarck, machte daraus auch keinen Hehl. In seiner Reichstagsrede vom 15. März 1884 führte er aus:
    "Bei Einbringung des Sozialistengesetzes hat die Regierung Versprechungen gegeben dahin, dass als Zugabe des Sozialistengesetzes die ernsthafte Bemühung für eine Besserung des Schicksals der Arbeiter Hand in Hand mit demselben gehen sollte. Das ist meines Erachtens das Komplement für das Sozialistengesetz."
    Am 22. Juni 1889 beschlossen, trat am 1. Januar 1891 das "Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung" in Kraft. Es bildete nach den zuvor erlassenen Gesetzen zur Unfall- und Krankenversicherung die vorerst dritte Säule der Sozialversicherungen. Allerdings waren die Voraussetzungen für die Auszahlungen von Renten noch äußerst restriktiv. Der kürzlich verstorbene Sozialhistoriker Gerhard A. Ritter wies zu Recht darauf hin, dass die Rentner damals "über 70 Jahre alt sein und mindestens 30 Jahre lang Beiträge geleistet haben mussten. Man muss sich jedoch vergegenwärtigen, dass im Durchschnitt der Jahre 1901 bis 1910 nur 27 Prozent der Männer überhaupt ein Alter von 70 Jahren erreichten."
    Das änderte jedoch nichts daran, dass der eingeschlagene der richtige Weg war. Es sollte indessen noch bis 1927 dauern, bis auch noch eine staatlich geförderte Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde.