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15.7.1904 - Vor 100 Jahren

1879 war Anton Pavlovic Tschechow 19 Jahre alt. Die Moskauer Zeitschrift "Libelle", eine der ersten der vielen russischen Tageszeitungen oder Monatshefte, die Tschechow belieferte, bezahlte ihm fünfeinhalb Kopeken Zeilenhonorar für seine Geschichten. Sie hießen "Vor der Hochzeit" oder "Die Frau aus der Sicht des Trinkers", mal spielte ein Hund die Hauptrolle, der um keinen Preis Sozialist sein will, mal ein Karpfen, der im Schlamm vergraben Tagebuch schreibt, mal der Mann, der sich spät zu heiraten entschloss:

Von Reinhardt Stumm | 15.07.2004
    Ich bin ein Mensch der gebildeten Klasse, nicht ohne Geld... ...gute Sache, seufzte die Ehestifterin.

    Das war leicht, witzig, scharfsinnig und schnell geschrieben - er schaffte 150 bis 180 solcher Erzählungen im Jahr! Mit den Honoraren ernährte der Student der Medizin Anton Tschechow - Staatsexamen und Doktorat 1884 - sich, Eltern und Geschwister.

    1899 kaufte der Verlag Marks in Moskau die Autorenrechte an Tschechows Texten für 75.000 Rubel. Damals kostete der Rubel in Deutschland 3 Mark 25. Tschechow war reich. Er reiste in Europa, engagierte sich für Bildung und Schulen, sein Buch über den Strafvollzug in Sachalin wurde berühmt.
    Der gleichaltrige Lyriker und Romancier Dimitri Mereschkowskij, ein Symbolist, fand bei Tschechow ein aussergewöhnlich weites und mystisches Gefühl für alles Lebendige bei gesundem und nüchternem Realismus, und ein humanes Verhältnis auch zu den allergewöhnlichsten Menschen. Mereschkowskijs Lieblingsfiguren bei Tschechow: Die erfolglosen Träumer.

    Wir kennen sie aus seinen Stücken. Der unglückliche Dorfschullehrer Platonov. Ivanov, der sich aus Angst erschießt. "Die Möwe", "Onkel Wanja", "Drei Schwestern", "Kirschgarten" - Leere, Banalität, der Rausch der folgenlosen Reden und der Katzenjammer, das tödliche, nivellierende Gleichmass, der hoffnungslose Trost.

    Was sollen wir machen? Wir müssen leben! Wir werden weiterleben, Onkel Wanja. Eine lange Reihe von Tagen und endlosen Abenden. Wir werden geduldig alle Prüfungen ertragen, die das Schicksal uns noch auferlegt; wir werden arbeiten für andere Menschen, jetzt und im Alter ohne Rast und Ruhe.

    Der Autor bleibt kühl, ersäuft nicht im Gefühl, er ist nicht Teilhaber, sondern Beobachter, der keinen Moment die Kontrolle verliert. Damals wurden Tschechows Menschen verstanden als Angehörige einer untergehenden Gesellschaft. Hundert Jahre später wissen wir, dass sich nichts geändert hat, nur das Getöse ist lauter, so laut, dass man die Stille nicht mehr hört, in der nichts geschieht.

    Auch wenn alle im Theater heulten, Tschechow nannte seine Stücke hartnäckig Komödien. Diese Menschen reden, reden, reden - und tun nichts. Fast nichts. Sie sind durchaus nicht blind, aber rührend komisch. Stanislawskij, der in seinem Moskauer Künstlertheater alles zur Uraufführung brachte, was Tschechow schrieb, verstand es anders. Nach der Uraufführung des "Kirschgarten" am 17. Januar 1904, Tschechows 44. Geburtstag, schrieb er ihm:

    Das ist keine Komödie, keine Farce, wie Sie geschrieben haben, das ist eine Tragödie, welchen Ausweg Sie auch immer im letzten Akt zugunsten eines besseren Lebens zeigen wollen. Der Eindruck ist gewaltig, und erreicht ist das mit Halbtönen, zartesten Aquarellfarben.

    Es war das erste Mal, dass Tschechow zu einer Uraufführung im Theater war. Stanislawskij organisierte die Geburtstagsfeier für den schon Todkranken, der mit Geschenken überhäuft wurde.


    Im Juni reiste er mit seiner Frau Olga nach Badenweiler. Am 15. Juli meldete der Leichenschauer Karl Brombacher dem Standesbeamten Hermann Eberhardt, dass der Schriftsteller Anton Tschekhoff, 44 Jahr alt, orthodoxer Religion, wohnhaft in Moskau, Russland, um drei Uhr vormittags im Hotel Sommer verstorben sei.