Samstag, 20. April 2024

Archiv


18.6.1924 - Vor 75 Jahren

Über Jürgen Habermas, der am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren wurde und heute zu den auch international renommiertesten deutschen Gelehrten zählt, zu reden, ohne lediglich zu wiederholen, was man in einer Flut von Publikationen über ihn längst nachlesen kann, ist nicht leicht. Der heute in Starnberg lebende emeritierte Sozialphilosoph ist in einem Maße zum Gegenstand öffentlicher Erörterungen und Ehrungen geworden, dass man Gefahr läuft, die berühmten Eulen nach Athen zu tragen, wenn man sich anheischig macht, über ihn noch ein Wort zu verlieren. Sei's drum.

Von Hans-Martin Lohmann | 18.06.2004
    Habermas, der noch als Fünfzehnjähriger zum "letzten Aufgebot" des untergehenden Dritten Reiches gehörte, hat sich später selbst als ein Produkt der reeducation bezeichnet. Er studierte nach dem Krieg in Göttingen, Zürich und Bonn Philosophie, Geschichte, Psychologie, Literatur und Ökonomie und wurde von Erich Rothacker mit einer philosophischen Arbeit über Schelling promoviert. In den späten fünfziger Jahren wurde er Forschungsassistent am von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geleiteten Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main, ehe er sich bei Wolfgang Abendroth in Marburg mit der inzwischen legendären Schrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit habilitierte. Fortan zählte Habermas zu den wenigen linken Professoren in Westdeutschland, seine Publikationen – etwa Erkenntnis und Interesse und Technik und Wissenschaft als "Ideologie", beide 1968 erschienen – sind von der studentischen Protestbewegung begierig aufgegriffen worden. Freilich sollte ihn sein Diktum vom "linken Faschismus", adressiert an den Voluntarismus eines Rudi Dutschke, und von der "Scheinrevolution und ihren Kindern" viele Sympathien auf Seiten der Linken kosten.

    Vollends nach dem Tod Adornos sollte sich zeigen, dass Habermas etwas anderes im Sinn hatte als die radikale studentische Linke, aber auch als Adorno selbst, der seine schwarze Diagnose von der Unversöhnlichkeit von Gesellschaft, Individuum und Natur mit ins Grab genommen hatte. Damals schrieb Habermas über Adorno:

    Gegenüber 'Teddy' konnte man umstandslos die Rolle des 'richtigen' Erwachsenen spielen; denn dessen realitätsgerechte Immunisierungs- und Anpassungstrategien sich anzueigenen ist Adorno nie imstande gewesen. In allen Institutionen ist er ein Fremder gewesen...

    Vielleicht darf man sagen, dass Habermas, anders als Adorno, ein "richtiger Erwachsener" geworden ist, der sich als Gesellschaftstheoretiker fortan auf das Realistische und Praktikable im Rahmen der bestehenden Verhältnisse kaprizierte. SeinProjekt der Moderne beruht, vereinfachend gesagt, auf der Kritik vereinseitigter Rationalisierungsprozesse und der Hoffnung auf Freisetzung zwangloser Kommunikation, die nicht auf das "ganz Andere", sondern eher auf die Abschaffung kommunikativer Pathologien und die sukzessive Verbesserung sozialer Verhältnisse zielt.

    Die von Habermas in den siebziger Jahren vollzogene sprachtheoretische Wende der Gesellschaftstheorie, kulminierend in seinem Hauptwerk zur Theorie des kommunikativen Handelns von 1981, markiert den Übergang zu einem Theorietypus, den Christoph Türcke einmal bissig als "gesellschaftsfähig", d.h. als prinzipiell kompatibel mit dem real existierenden Kapitalismus charakterisiert hat. Es spricht nicht gegen Habermas, der sich längst von einem absoluten philosophischen Wahrheitsanspruch verabschiedet hat, wenn er diesen Sachverhalt mit der ihm eigentümlichen Selbstironie kommentiert.

    Dass Habermas zu dem öffentlichen Intellektuellen der Bundesrepublik hat werden können, sagt viel über ihn, aber auch über diese Republik. Klarer und früher als andere hat er erkannt, dass die deutschen Verhältnisse, so wie sie sind, zu einer Revolution nicht taugen und dass es schon eine enorme historische Errungenschaft bedeutet, dass Deutschland das Niveau des bürgerlichen Verfassungsstaates nach amerikanischem, britischem und französischem Vorbild erreicht hat. So verstehen sich Habermas' öffentliche Interventionen gegen Geschichtsrevisionisten und Vergangenheitsbeschwichtiger, gegen all die Noltes, Stürmers und Walsers, letztlich als emphatische Verteidigung einer republikanischen Vernunft gegen ihre Verächter. Das, wahrlich, ist nicht wenig.