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20 Jahre "Ein Land, zwei Systeme"
Hongkongs ungewisse Zukunft

Pferderennen, Linksverkehr und Doppelstock-Busse: Auch 20 Jahre nach der Rückgabe an China spürt man in Hongkong das britische Erbe der ehemaligen Kronkolonie. Doch die geistigen Hinterlassenschaften sind in Gefahr.

Von Steffen Wurzel | 26.06.2017
    Fassaden des Gebäudes "Chungking Mansions" im Stadtteil Tsim Sha Tsui von Hongkong.
    Fassaden des Gebäudes "Chungking Mansions" im Stadtteil Tsim Sha Tsui von Hongkong. (imago/Westend61)
    Das Pferderennen im Hongkonger Happy Valley gehört zu den sichtbarsten Überbleibseln der britischen Kolonialzeit. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird hier gewettet, Bier getrunken – und es geht natürlich um sehen und gesehen werden.
    "Something that is very similar to those I go at home."
    "For example I don’t really feel like I’m out of Britain when I’m on this racecourse."
    Die beiden Londoner Auschtausch-Studentinnen Jenny und Charlotte fühlen sich hier auf der Rennbahn fast ein bisschen wie zu Hause.
    Zahlreiche Alltagsdinge in Hongkong erinnern 20 Jahre nach der Übergabe an China an das koloniale Erbe der Stadt: der Linksverkehr, die klobig-dreipoligen Stromstecker, die doppelstöckigen Busse. Viele immaterielle Erbschaften wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit sind nach Ansicht vieler Hongkonger allerdings zunehmend in Gefahr.
    "After the Handover Hong Kong had a period that was free of intervention by mainland China. That was the promise in 'One country, two systems'."
    "Seit 2003 verfolgt Peking eine andere Politik"
    Unmittelbar nach der Übergabe der Stadt an China habe es eine Phase gegeben, in der die Stadt tatsächlich frei gewesen sei von jeglicher Einmischung durch Festlandchina – eben wie im Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" verankert und versprochen, sagt Nathan Law. Der 24-Jährige hat vor drei Jahren die pro-demokratischen Regenschirm-Proteste mitorganisiert und sitzt inzwischen im Parlament der Stadt, als Abgeordneter der vor einem Jahr gegründeten Partei "Demosisto".
    Nathan Law, Abgeordneter der Partei "Demosisto".
    Nathan Law, Abgeordneter der Partei "Demosisto". (Deutschlandradio / Steffen Wurzel)
    "Seit 2003 verfolgt Peking eine andere Politik gegenüber Hongkong. Es wurde eine Art zweite Regierungsgewalt aufgebaut, direkt der Pekinger Zentralregierung unterstellt, um direkt und massiv in die Angelegenheiten Hongkongs einzugreifen."
    Beispiele für diese Einmischungen gibt es viele. So kaufen chinesische Firmen und Geschäftsleute Medienkonzerne in Hongkong und schwächen so die Pressefreiheit in der Stadt. Auch auf dem Immobilienmarkt wächst der festlandchinesische Einfluss, offen pekingkritische Firmen oder Vereine werden von chinesischen Vermietern vor die Tür gesetzt.
    Auch sind inzwischen mehr oder weniger offensichtlich festlandchinesische Sicherheitsbehörden in Hongkong aktiv. Auch wenn das nach dem Grundgesetz der chinesischen Sonderverwaltungszone eigentlich unzulässig ist.
    "Heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt"
    Im Büro von Anson Chan. Die 77-Jährige war während der Zeit der Übergabe der Stadt an China die Nummer zwei der Hongkonger Regierung: zuerst als Verwaltungschefin für die Briten, dann für die erste selbstverwaltete Hongkonger Regierung.
    "Das China, das damals über die Übergabevereinbarung verhandelt hat, ist ein komplett anderes China als heute. Das Land ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, der wirtschaftliche Einfluss Chinas wächst. Und um das Geschäfte-Machen willens vermittelt der Rest der Welt der chinesischen Führung den Eindruck, dass sich diese fast alles herausnehmen darf und benehmen kann, wie sie will."
    Der Stichtag vom 20-jährigen Jubiläum ist am 1. Juli.
    Der Stichtag vom 20-jährigen Jubiläum ist am 1. Juli. (Deutschlandradio / Steffen Wurzel)
    Das größte Streit-Thema der Stadt ist die Frage, ob und wie das politische System Hongkongs demokratisiert werden soll. Bisher wird das Parlament der Stadt nur teilweise frei gewählt und auch der Regierunschef beziehungsweise die Regierungschefin wird von einem nicht-demokratisch legitimierten Wahlleutegremium benannt. Und das tickt mehrheitlich pekingtreu. He Wen vom regierungsnahen vom Institut für Ostasien-Studien, einem regierungsnahen Thinktank in Shanghai:
    "Ob es künftig freie Wahlen geben wird in Hongkong, liegt einzig und allein an der Opposition. Die muss begreifen, dass Hongkong eine Sonderverwaltungszone Chinas ist und nur auf dieser Grundlage Demokratie eingeführt werden kann. Hongkong kann nicht einfach das demokratische System anderer Staaten einführen, die wirschaftlich und politisch komplett unabhängig sind."
    "Ein Land" oder "zwei Systeme"?
    Dieses Argument beschreibt das Grundproblem aller politischen Streitfragen in Hongkong sehr gut: Die beiden politischen Lager deuten das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" unterschiedlich. Für die pekingtreuen Kräfte ist "Ein Land" das Entscheidende, die Prodemokraten betonen die "zwei Systeme".
    "We have a lot of housing problems, we have a lot of education problems, we have a lot of health problems."
    Carrie Lam, die neue Regierungschefin Hongkongs. Am 1. Juli wird sie vereidigt. Sie hat den Bürgern versprochen, die drei drängensten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme der Stadt anzupacken: die Wohnungsnot und die Mängel im Erziehungs- und Gesundheitswesen. Doch viele in Hongkong nehmen Carrie Lam das Versprechen nicht ab.
    "Carrie Lam is in a similar mode. I don’t think she will think out of the box and do anything drastic."
    Andy Xie, Wirtschaftsanalyst in Hongkong
    Andy Xie, Wirtschaftsanalyst in Hongkong (Deutschlandradio / Steffen Wurzel)
    Andy Xie, unabhängiger Wirtschaftsanalyst in Hongkong: Er vermutet, Carrie Lam werde wohl genauso so weiter wurschteln wie ihre Vorgänger. Mutige, drastische Reformen traut er der neuen Regierungschefin nicht zu. Vor allem nicht, dass sie sich mit den mächtigen Immobilien-Tycoonen der Stadt anlegt. Stattdessen rechnet er mit neuen Protesten gegen die Regierung und mit Blockade-Aktionen wie vor drei Jahren, als Hunderte vor allem junge Menschen wochenlang Straßen und Plätze im Hongkonger Finanzdistrikt Central lahmgelegt haben.
    "Die Hoffnung liegt in der jungen Generation"
    "Wenn sie sich auf die Straße setzen wollen, dann lasst sie doch! Irgendwann werden sie müde und gehen nach Hause. Das scheint mir die Strategie der Regierung zu sein. Das ist traurig! Weil so eine ganze Generation erledigt wird. Sie wird ohne Hoffnung groß werden!"
    Auch Anson Chan, die ehemalige Nummer zwei der Hongkonger Regierung, rechnet mit neuen Protestaktionen. Und langfristig werde das der ehemaligen britschen Kolonie guttun.
    "Pessimistisch zu sein, ergibt keinen Sinn, oder? Also: Es braucht Hoffnung. Und die liegt vor allem in der jungen Generation. Die hat ja bereits bewiesen, dass sie Mut und Überzeugung hat. Und sie ist bereit, sich aufzulehnen und sich Gehör zu verschaffen."