Samstag, 20. April 2024

Archiv

20 Jahre nach der Katastrophe
Istanbul und die Erdbebengefahr

Im August 1999 erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,6 die Nordtürkei und die Region Istanbul. Häuser stürzten ein, meist wegen Baupfusch. 18.373 Menschen starben, rund 50.000 wurden verletzt. Experten befürchten: Ein noch stärkeres Beben steht kurz bevor. Darauf vorbereitet ist die Türkei aber nur bedingt.

Von Christian Buttkereit und Marion Sendker | 13.08.2019
A soldier stands in front of a demolished building where there is no chance to found a survivor in Avcilar near Istanbul, Friday, 20 August 1999 after the earthquake that hit Turkey. New after shocks panicked the population last night. (Digitale Fotografie) dpa |
Beim Erdbeben 1999 in der Türkei stürzten viele Häuser ein - auch weil Baupfusch betrieben worden war (AFP/epa)
17. August 1999, Türkei: Es ist kurz nach drei Uhr nachts, als die Erde plötzlich bebt. Für etwa 45 Sekunden. Danach wird nichts mehr sein, wie es einmal war. Das Epizentrum des Bebens der Stärke 7,6 ist in Izmit, einer Stadt etwa 100 Kilometer östlich der Millionenmetropole Istanbul. Die Erschütterung war sogar in der 400 Kilometer entfernten Hauptstadt Ankara zu spüren. Später werden die Behörden bekannt geben, dass 18.373 Menschen durch das Erdbeben ihr Leben verloren haben. Fast 50.000 wurden verletzt.
Selbst jetzt, 20 Jahre danach, weiß jeder noch, wo er oder sie in dieser Nacht gewesen ist. So auch die heute 39-jährige Ömür Kinay. Das Bild, wie sie quasi einbetoniert in den Trümmern ihres Hauses neben einem anderen Frauenkörper liegt, geht in den Tagen danach um die Welt:
"Die Frau neben mir auf dem Foto ist meine Mutter. Als wir das Erdbeben bemerkten, hielten wir uns in unterschiedlichen Zimmern auf. Wir sind dann beide aufeinander zu gerannt und haben uns im Wohnzimmer getroffen und umarmt."
Ömür Kinay sitzt im Rollstuhl.
Ömür Kinay ist seit dem Erdbeben von 1999 querschnittsgelähmt. Sie kämpft weiter um Entschädigung. (ARD / Marion Sendker)
Ömür und ihre Mutter waren erst eine Woche zuvor in das Haus im Istanbuler Stadtteil Sefaköy gezogen. Ihre Wohnung lag in der sechsten von sieben Etagen. Wie sich später herausstellte, waren laut Bebauungsplan aber nur fünf Etagen erlaubt. Regungslos lag Ömür neben ihrer genauso regungslosen Mutter in den Trümmern, bis endlich Hilfe kam:
"Als ich merkte dass sie mich hören und sie anfingen gegen den Schutt zu schlagen, dirigierte ich sie: Nicht dahin schlagen, das ist zu nah an meinem Kopf. Macht hier dies, macht jenes."
Wenige Kilometer entfernt erlebte Avram Kutlu das Erdbeben mit ihrer kleinen Schwester Bilge und Verwandten in deren Sommerhaus vor den Toren Istanbuls. Wie die meisten Menschen in der Region lag Evrim im Bett und schlief, als sie wach wurde, weil das Haus kräftig wackelte:
"Und ich war die ganze Zeit am überlegen: Moment mal, wir bewegen uns, das ist wirklich? Du kannst Dir vorstellen, fast 1,5 bis 2 Meter ging das Ding hin und her und ich war ja im Halbschlaf. Wie kann es sein, dass dieses steinerne, betonhaltige schwere Ding sich so bewegt? Ich habe da die ganze Zeit philosophiert. Bilge schrie dann nach mir: Abla, Abla komm runter."
A man meditates on a grave 21 August 1999 at the Yalova cemetery (south of Istanbul) after the burial of victims of the devastating earthquake that hit Turkey 17 August. The death toll of the quake stands over 12.000 dead and 33.500 wounded according to figures released today by the Turkish government crisis center. (ELECTRONIC ) dpa |
18.373 Menschen verloren bei dem schweren Erdbeben 1999 in der Türkei ihr Leben (AFP / dpa )
Menschen gruben mit bloßen Händen nach Verschütteten
Als "Abla", das ist das türkische Wort für große Schwester, unten war, hatten sich da schon die Nachbarn versammelt. Die ganze Dramatik dieser Nacht wurde Evrim und ihrer Familie erst klar, als sie mit dem Auto zum Bauernhof des Onkels, weit außerhalb der Stadt, fuhren. Wenn Evrim sich heute daran erinnert, wird sie immer noch nervös, bekommt glasige Augen, klopft unbewusst mit den Händen auf den Tisch.
"Da mussten wir ja durch Kücükcekmece durch, durch Avcilar, Belikdüzü und dann weiter. Das war so schlimm. Also ich kriege immer noch Gänsehaut. Da sah man wirklich Menschen, die mit bloßen Händen nach Leuten gegraben haben, ne, oder geschrien haben."
"Ich habe gedacht, ich sterbe jetzt"
Auch mitten in Istanbul war das Beben zu spüren. Der Historiker Orhan Esen erinnert sich noch genau an die drückend heiße und schwüle Augustnacht. Er kam kurz vor Beginn des Bebens nach Hause, in seine Wohnung nahe des Taksim-Platzes.
"Ich habe mich immer unwohler gefühlt und irgendwie in dem Moment dachte ich, es stimmt irgendetwas mit meinem Körper nicht. Kriege ich einen Herzanfall? Ich dachte ich platze, mein Körper platzt irgendwie. Ich habe so zehn Minuten lang so mit mir selber gerungen. Ich war eigentlich entschlossen, jetzt rufe ich einen Krankenwagen an. Ich dachte irgendwie, ich sterbe jetzt. Also ich hatte echt so Schweißausbrüche und alles. Und dann hat es angefangen.
Dabei war die Erschütterung in Städten wie Gölcük und Yalova auf der anderen Seite des Marmarameeres viel massiver.
Während Orhan unter Schock stand, versuchten freiwillige Helfer stundenlang im fahlen Licht der nun hereinbrechenden Dämmerung Ömür aus den Trümmern zu bergen. Die damals 19-Jährige war so sehr eingeklemmt, dass die Rettungskräfte kaum an sie herankamen. Sie konnte sich weder bewegen noch ihren Körper fühlen. Doch sie erkannte ihren Nachbarn Bayram Abi.
"An ihn kann ich mich sehr genau erinnern, denn er hatte mich gefragt: ‘Wie soll ich dich hier rausholen?’ Und ich sagte ihm, er solle mir die Haare abschneiden. Er sagte: ‘Wie soll ich bloß die Haare abschneiden?’ Ich darauf: ‘Willst du mich lieber hierlassen?’"
Das wollte Bayram Abi nicht und schnitt mit einem Messer blindlings zwischen Schutt und Möbelresten um Ömürs Kopf herum. Als die Helfer sie aus den Trümmern herausholten, bedeckten sie Ömür die Augen. So konnte sie keinen Blick mehr auf ihre Mutter werfen, die tot im Schutt des eingestürzten Hauses lag.
"Ich erinnere mich, wie ich danach in den Krankenwagen gelegt wurde. Sie brachten mich ins Staatskrankenhaus nach Bakirköy. Von allen Seiten wurden Menschen hergebracht wegen der Ereignisse in Avcilar."
Die Türme des Sanierungsprojekt in Zeytinburnu im Rohbau.
Angeblich werde bei Neubauten mittlerweile auf Erdbebensicherheit geachtet - doch gebaut wird nur, wenn es sich für den Bauunternehmer wirklich lohnt (ARD / Marion Sendker)
Baumängel und illegale Veränderungen an Gebäuden
Avcilar ist ein Istanbuler Vorort am westlichen Ende der Stadt. Vor dem Beben säumten vor allem Möbel- und Autohäuser sowie Cafés und Billiardsalons die Hauptstraße. Die Erschütterung ließ fast alle Häuser einstürzen. Gründe waren vor allem Baumängel und nachträgliche und illegale Veränderungen an den Häusern: Um mehr Gewerbefläche zu bekommen, hatten Geschäftsleute nämliche tragende Säulen aus den Erdgeschossen herausgeschlagen. Mit dramatischen Folgen: Die Hauptstraße Avcilars wurde binnen Sekunden zum Massengrab: Hier starben die meisten der Istanbuler Erdbebenopfer, etwa 1.200 Menschen. Wer überlebt hatte, suchte mit bloßen Händen nach Verschütteten.
"Ich habe bewusst natürlich nicht auf die Leichen geschaut. Ich habe keine Gesichter gesehen, ich konnte nicht. Weil wenn du dann so einen Kinderarm siehst und die buddeln da weiter und Du sagst: ‘Ich habe jemanden gefunden und Du weißt nicht, ob das Kind lebt oder nicht, dann drehst du dich schon um, weil du das nicht gucken willst."
Staatliche Institutionen waren unvorbereitet
20 Jahre später sitzt Nasruh Mahruki im großzügigen Garten seines Einfamilienhauses. Wo heute Wasser aus dem Brunnen plätschert und Hähne krähen, waren nach dem Erdbeben die Zentrale und das Materiallager der Hilfsorganisation AKUT, die Mahruki kurz zuvor mit anderen Ehrenamtlichen gegründet hatte, eigentlich um verschollene Bergsteiger zu suchen oder Verschüttete nach Grubenunglücken zu bergen. Schnell galt AKUT mit seinen mehr als 1.000 Freiwilligen als eine der wenigen effektiven Hilfsorganisationen. Ganz im Gegensatz zu anderen, viel größeren Einrichtungen.
"Der Rote Halbmond hat damals nicht geleistet, was man von ihm erwartete, auch alle staatlichen Institutionen waren unvorbereitet. Es kamen sehr viele Hilfsgüter von überall in der Welt und alle wollten sie an AKUT liefern. Sie wollten es keinem anderen geben."

Auch Monate nach dem Beben hatten viele Istanbuler noch Notfall-taschen mit Keksen, Decken, Taschenlampe und Trillerpfeife am Bett stehen - aus lauter Angst vor einem weiteren Beben. Das kam dann wenige Monate später, im November in Düzce, einer Provinz östlich von Istanbul. Seitdem ist es, abgesehen von kleineren Beben, ruhig geblieben. Doch internationale Seismologen sind sich einig: Ein erneutes, schweres Beben ist nur eine Frage der Zeit. Und noch eines gilt als sicher: Beim nächsten Mal wird das Epizentrum noch viel näher an die Millionenmetropole Istanbul herangerückt sein. Denn auf dem Grund des Marmarameeres lauere bereits die nächste Gefahr, sagt Heidrun Kopp, Projektleiterin und Professorin am Helmholtz-Institut für Ozeanforschung in Kiel, denn ihr Team hat herausgefunden:
"Dass also beide tektonischen Platten - Eurasien auf der einen Seite, und die Arabische Platte auf der anderen Seite, nicht mehr glatt aneinander vorbeigleiten können, sondern sich ineinander verhakt haben. Dabei kommt es dann zu einem Spannungsaufbau von tektonischer Spannung. Man kann sich das vorstellen, dass die Gesteine, die darin involviert sind, natürlich einem erheblichen Druck unterliegen im Zuge dieses Spannungsaufbaus und das wird sich irgendwann in einem Erdbeben lösen."
Wahrscheinlichkeit für ein erneutes starkes Erdbeben steigt
Das Foto zeigt eine Landkarte des Marmarameeres mit Istanbul und die Umgebung im Nordwesten der Türkei
2,4 Millionen Menschen könnten von dem nächsten starken Erdbeben in der Türkei betroffen sein (dpa-Bildfunk / Envisat / ESA)
Festgestellt werden konnte diese Spannung mit Hilfe von Sensoren, die deutsche, türkische und französische Wissenschaftler erstmals am Meeresgrund befestigt haben. Dahingegen haben Forschungen an der Meerenge der Dardanellen ergeben, dass sich dort die Platten weiterhin bewegen - anders als vor Istanbul:
"Und das deutet darauf hin, dass sich die Wahrscheinlichkeit für ein Erdbeben dort deutlich erhöht. Und anhand der Messdaten, die wir nun haben, können wir prognostizieren, dass dieses Erdbeben eine Magnitude erreichen kann jenseits von 7 auf der Richterskala bis hin zu 7,5."
Nur wann das Beben kommt, das kann kein Wissenschaftler vorhersagen. Die Vorwarnzeit liegt bei gerade einmal drei Sekunden.
: Sena Bulte (C-L) an earthquake survivor is hugged by a relative 21 August 1999 in Izmit (over 100 kilometers east of Istanbul). Bulte was taken out of the rubbles of her house yesterday. The death toll of the quake stands over 12.000 dead and 33.500 wounded according to figures released today by the Turkish government crisis center. (ELECTRONIC IMAGE) dpa |
Bei dem Erdbeben 1999 haben viele Menschen Angehörige verloren - viele wurden im Schlaf überrascht (AFP / dpa )
Trainieren für den Ernstfall
Doch wie gut ist Istanbul 20 Jahre nach dem Marmara-Unglück auf das nächste Beben vorbereitet? Immerhin hat die Verwaltung der Provinz Istanbul seit 13 Jahren eine Abteilung für Erdbebenvorsorge. Deren Projektleiter Kazım Gökhan Elgin ist stolz auf die Trainingseinheiten, die die Behörde zum Beispiel in Schulen und kostenlos im Internet anbietet. Die Teilnehmer lernen vor allem, wie sie sich im Ernstfall zu verhalten haben:
"Aufgeklärt wird auch darüber, wo man sich in einem Gebäude während eines Bebens in Sicherheit bringen kann, dass man die Nähe zu Fensterscheiben meiden sollte, oder, dass man vorsichtshalber Möbel wie schwere Bücherregale und so weiter an der Wand befestigt, dass man draußen im Freien oder in der Nähe stabiler Gebäude Schutz sucht."
Ein neues Erdbeben könnte 2,4 Millionen Menschen betreffen
Dieses Training gibt es seit 2006. Projektleiter Elgin betont selbstbewusst, dass die Istanbuler Erdbebenvorsorge seitdem mehr als 1,12 Millionen Istanbuler erreicht habe. In relativen Zahlen ist das jedoch nicht einmal jeder zehnte Bewohner der Metropole. Doch das erwähnt der Regierungsvertreter nicht. Stattdessen verweist er auf die vielen Schulen, die seine Behörde erdbebensicher gemacht habe. Etwa 90 Prozent aller Istanbuler Schulen seien inzwischen neu gebaut oder verstärkt worden. Platz wäre in den Schulen für circa 1,5 Millionen Menschen. Zum Vergleich: Beim Erdbeben vor 20 Jahren waren Hunderttausende Menschen obdachlos geworden.
Experten schätzen jedoch, dass das kommende Beben viel mehr Menschen treffen wird – voraussichtlich etwa 2,4 Millionen. Also fehlen fast eine Million Plätze. Ursprünglich hatte die Stadt nach offizieller Statistik mehr als 2.800 Plätze als Sammelstellen ausgewiesen. Auf den meisten dieser Flächen stehen mittlerweile aber Wohnkomplexe oder Einkaufszentren. So auch in Avcilar, beklagt Gürkan, der dort zusammen mit seinem Vater eine Möbelwerkstatt betreibt und beim Beben von 1999 noch ein Kind war:
"Wir sind zu einem freien Grundstück gegangen. Alle haben sich damals auf solchen Grundstücken versammelt. Heute aber, werden Sie keines dieser freien Grundstücke mehr vorfinden."
Von gerade einmal 80 dieser Flächen in ganz Istanbul ist heute noch die Rede. Wo sich diese Sammelstellen befinden, erfahren türkische Staatsbürger im Internet. Allerdings müssen sie sich dafür mit ihrer Passnummer auf dem staatlichen Internetportal e-devlet einloggen. Ausländer müssen sich auf die Informationen ihrer Konsulate verlassen. Vor allem aber sollte man seine Wohnung so wählen, dass sie erdbebensicher ist, heißt es in dem Merkblatt des Deutschen Generalkonsulats. Ob das der Fall ist, hängt von verschiedenen Faktoren ab, sagt der Geologie-Professor Mustafa Laman, das komme ganz darauf an wie die Häuser gebaut sind und auf welchem Untergrund sie stehen.
"Es ist sehr unterschiedlich: Wir haben einige Felsuntergründe aber auch sehr weichen, sandigen oder kiesigen Untergrund. Was passiert beim Erdbeben? Wenn die Erde bebt, sind bewegliche Untergründe viel stärker betroffen. Weil wenn die Bodenbeschaffenheit sehr schlecht ist, wird der Effekt zwei bis dreifach und manchmal fünffach verstärkt."
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Berücksichtigt wird sie in der Praxis aber erst seit dem verheerenden Erdbeben von 1999, sagt Alper Ilki. Das Büro des Professors für Baustatik grenzt direkt an eine Werkhalle, wo die Technische Universität Istanbul Baumaterialien auf ihre Erdbebenfestigkeit prüft.
"Leider war das größte Problem im türkischen Bausektor, dass die Bauunternehmen nicht wirklich die Regeln befolgten. Das Gesetz war verbessert worden, aber die Bauqualität war immer noch sehr schlecht, weil die Vorgaben nicht befolgt wurden und es keine wirksame Kontrolle gab.
Es gab viele Experten, die die Dokumente unterzeichnet haben. Aber in vielen Fällen wussten sie überhaupt nicht, wo sich das Gebäude befand."
Der Pfusch am Bau hatte fatale Folgen
Der Pfusch am Bau hatte fatale Folgen. Nicht nur in Yalova und in Izmit nah am Epizentrum sondern auch in Istanbuler Stadtteilen wie Avcilar. Geologie-Professor Mustafa Laman ist Experte für erdbebensicheres Bauen. Mit seinem Team untersuchte er nach dem Erdbeben einige Gebäude in Avcilar.
"Ein siebenstöckiges Gebäude war stark beschädigt und mehr oder weniger eingestürzt. Wir haben Proben des Betons genommen, einige davon habe ich heute noch in meinem Büro, um sie meinen Studenten zu zeigen. Sie haben Sand aus dem Meer verwendet ohne ihn zu reinigen. Der Beton war sehr schwach im Vergleich zur heutigen Qualität. Es ist ein Wunder, dass diese Häuser nicht schon vor dem Erdbeben eingestürzt sind."
Nur 40 Bauunternehmer wurden schuldig gesprochen
Viele Bauunternehmer sparten auch beim Stahl und verwendeten gebrauchtes Material aus Tschechien. Dementsprechend groß war die Wut auf die Profitgier vieler Bauunternehmer. Es gab mehr als 2000 Gerichtsverfahren. Etwa 1800 wurden aufgrund von Gesetzeslücken eingestellt. Am Ende wurden nur 40 Bauunternehmer schuldig gesprochen und nur einer trat tatsächlich eine Haftstrafe an.
In der Baugesetzgebung hat sich in den vergangenen 20 Jahren viel getan, auch wenn das alte Gesetz nicht ganz schlecht war, wie sich Baustatik-Professor Alper Ilki mit vielen anderen Experten einig ist. Die neuen Gesetze von 2007 und 2019 schreiben jedoch eine bessere Untersuchung des Baugrunds vor. Außerdem müssen Proben des Baustahls und des Betons von einem unabhängigen Labor untersucht werden.
"Früher wurde etwa glatter Baustahl verwendet, der sich im Beton lösen konnte, weil er keine Strukturen hatte. Heute benutzen wir stattdessen verformten Stahl und besseren, vorgemischten Beton. Das führt zu stabileren Konstruktionen. Deshalb kann ich sagen, dass die Jahre 1999/2000 ein Meilenstein in der Qualität der Gebäude in der Türkei waren."
Während Häuser, die nach 1999 gebaut wurden, als erdbebensicher gelten, bereiten die alten Gebäude Sorgen. Rund eine halbe Million Wohnungen in Istanbul seien einsturzgefährdet. Darauf zu vertrauen, dass ein Gebäude, das beim Beben 1999 stehengeblieben ist, auch das nächste Beben überstehen wird, könnte fatale Folgen haben, warnt Professor Alper Ilki von der Technischen Universität Istanbul
"Manchmal ist es möglich, solche Gebäude zu stabilisieren. Es gibt dafür verschiedene Techniken. Zum Beispiel konventionelle wie die Ummantelung bestehender Säulen oder zusätzliche Stützmauern."
Einfluss von privaten Bauunternehmern
Die andere Möglichkeit ist ein Abriss und Neuaufbau. Historiker Orhan Esen muss sich im Istanbuler Stadtteil Zeytinburnu nur einmal umdrehen, um den Blick von den rissigen Häusern aus den 90ern auf eine Großbaustelle zu wenden. Dort wachsen die Rohbauten von 15-geschossigen Wohntürmen dicht an dicht in den Himmel. Augenscheinlich in erdbebensicherer Bauweise. Es ist eine typische Erneuerung nach dem Istanbuler Stadterneuerungsplan. Der sieht vor, dass ein privater Bauunternehmer die alten Häuser abreißt und den Besitzern eine Neubauwohnung an gleicher Stelle garantiert. Um auf seinen Profit zu kommen, baut er mehr Geschosse als ursprünglich. Die zusätzlichen Wohnungen verkauft er dann auf eigene Rechnung.
"Ja, es heißt, es wird nur dann gebaut, wenn es für diesen Bauunternehmer auch profitabel ist."
Kritiker wie Orhan Esen sprechen von einer verdeckten Gentrifizierung. Sie bemängeln, dass diese Art von Erdbebensanierung auch in Gebieten mit geringerem seismologischem Risiko zum Zuge kommt, während Viertel, die es viel nötiger hätten, nicht saniert werden, wenn die Aussichten auf Profit nicht hoch genug sind. Um die Sanierung selbst zu finanzieren, fehlt den meisten Wohnungseigentümern schlicht das Geld. Zuschüsse vom Staat gibt es nicht. Trotzdem meint Professor Alper Ilki von der Technischen Universität Istanbul:
"Ich denke, das Stadterneuerungsgesetz ist nicht vollständig, aber doch in gewisser Weise hilfreich. Sicher können nicht alle kritischen Gebäude umgewandelt werden, aber es hilft, den Transformationsprozess voranzutreiben.
Das ist natürlich ein sehr langfristiges Vorhaben. Wenn man eine Stadt umwandeln möchte, benötigt man dafür 30, 40 Jahre. Ich wäre froh, wenn schon mehr getan worden wäre, aber es geht voran."
In einem Teehaus an der Durchgangsstraße im Stadtteil Avcilar, den das 1999er Beben am schwersten getroffen hat, prallen der Glaube an den Fortschritt und an den Willen Allahs hart aufeinander.
"Nach dem Erdbeben hatten wir wie viele andere auch unser Gebäude auf seine Stabilität hin prüfen lassen. Wir fühlen uns deshalb sicher hier."
Sagt der 51-jährige Zeki. Mehmet, der beim letzten Beben seinen Bruder verloren hat, meint hingegen:
"Ich vertraue der Bausubstanz hier nicht. Und natürlich haben alle Angst - nicht nur wir. Aber was von Gott kommt, geht zu Gott zurück. Da ist nichts zu machen. Was immer das Schicksal für uns bestimmt hat."
"Die Sache ist damit erledigt"
Ein wenig scheint das auch die Strategie der Regierung zu sein, meint Naruh Mahruki. Der Gründer der Hilfsorganisation AKUT beklagt, der Staat habe zu wenig Geld für die Sanierung von Gebäuden bereitgestellt. Anstatt die Menschen besser über das Erdbebenrisiko aufzuklären, appelliere die heutige Regierung an die Schicksals-ergebenheit der Bevölkerung.
"Das Bildungssystem wurde deshalb religiöser gemacht, denn das Volk soll nicht nachfragen. Wir erklären es mit Gottes Wille oder Schicksal und die Sache ist damit erledigt. Sie sagen das Beben machen wir ja nicht, Gott macht es und die, die sterben, sterben halt."