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20 Jahre nach Tschernobyl

Medizin. - Fast 20 Jahre liegt mittlerweile die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl zurück. Und noch immer sind ihre Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung umstritten. Am Montag präsentierten Experten der IAEA ein neues Papier, das Licht in die Frage bringen soll.

Arndt Reuning im Gespräch mit Dagmar Röhrlich | 05.09.2005
    Arndt Reuning: Frau Röhrlich, welche Zahlen zu den Todesopfern legen die Experten der Internationalen Atomenergie Agentur IAEA vor.

    Dagmar Röhrlich: Es wurde stark nachgefragt in der Pressekonferenz, denn die Zahlen hören sich auf den ersten Blick erst einmal sehr seltsam an. 47 tote Liquidatoren, das sind die Männer der ersten Stunde, die damals in den ersten Tagen, Wochen und Monaten dafür gesorgt haben, dass das Schlimmste verhütet wird, dass der Brand eingedämmt wird. Und es sind neun Kinder an Schilddrüsenkrebs gestorben. Das Tragische ist, dass diese Todesfälle eigentlich nicht nötig gewesen wären, wenn man direkt nach dem Unfall Jodtabletten verteilt und die Kühe von der Wiese genommen hätte. Denn die haben das kontaminierte Gras gefressen, wo das Jod 131 drauf war, das den Schilddrüsenkrebs verursacht hat. Hätte man die Kühe anders gefüttert, wären die Kinder nicht betroffen, denn sie trinken die meiste Milch.

    Reuning: Gibt es denn eine ungefähre Gesamtzahl?

    Röhrlich: Es sind also 56 Leute gestorben bislang. Es wird erwartet, dass es 4000 Tote geben wird insgesamt durch Tschernobyl, wobei diese Zahl ein bisschen unsicher ist. Es können etwas mehr oder weniger sein. Das liegt einfach daran, dass man nicht genau weiß, wie hoch die Dosis gewesen ist, die die Leute abbekommen haben. Was wiederum damit zusammenhängt, dass die Sowjetunion damals sehr ungenau nachgeschaut hat und versucht hat, alles unter den Teppich zu kehren. Hier wandte man sich gegen die Mythenbildung, die mit Tschernobyl zusammenhängt, ganz explizit. Diese großen Zahlen kommen dadurch zustande, dass die gesamte Sterblichkeit in dieser betroffenen Region Tschernobyl zugeschlagen wird. Beispielsweise stirbt in jeder Bevölkerung ein Viertel der Menschen an Krebs - egal, ob ich da Tschernobyl hatte oder nicht. Im Moment ist es so, dass in den Statistiken, die durch die Presse gehen - das wurde noch einmal ausdrücklich bestätigt - quasi alle Krebstoten eines Landes oder dieser betroffenen Gegend Tschernobyl zugeschlagen werden. Das kann man so nicht machen. Die wirklichen Krebsfälle, das sind diese 47 erwachsenen Toten sowie die neun Kinder.

    Reuning: Mit welchen gesundheitlichen Folgen haben denn die Überlebenden zu kämpfen?

    Röhrlich: Eigentlich hauptsächlich - wenn man jetzt nach dem Krebs geht - kann man nur die Liquidatoren wirklich betrachten. Da kann es sein, dass mit der Zeit noch weitere Leukämien, vor allem aber Tumore dazu kommen, weil die längere Zeit brauchen, um sich zu entwickeln. Man sieht erstaunlicherweise, dass es sein könnte, dass Herz-Kreislauf-Krankheiten zunehmen bei diesen am stärksten betroffenen Gruppen. Das muss mehr nachgeprüft werden, das weiß man noch nicht. Und man sieht Trübungen der Augenlinsen. Die findet man auch bei Kindern im Gebiet, die direkt um den Reaktor herum gewohnt haben. Ansonsten wird hier wieder betont, dass kein Anstieg der Leukämie und der Tumore bislang beobachtet worden ist bei der Normalbevölkerung, und dass das auch nicht erwartet wird.

    Reuning: Wie sieht es denn aus mit den psychologischen Folgen?

    Röhrlich: Das sind wohl die wirklich schlimmen Folgen. Diese Leute leiden sehr stark unter Depressionen. Es sind fünf Millionen Menschen insgesamt in dem Gebiet betroffen. Primär betroffen sind vielleicht 600.000, die in Gebieten leben, die stärker kontaminiert waren. Und diese Menschen haben keinen Lebensmut mehr. Sie müssen jährlich zu Untersuchungen hin, die völlig überflüssig sind, wie ja die IAEA und auch die WHO gesagt haben. Es wäre sehr viel besser, wenn man nur die Liquidatoren weiter gesundheitlich verfolgt - das sind 200.000 Leute - und das Geld, das gespart wird an dieser Stelle - darein steckt, das allgemeine Gesundheitssystem zu verbessern. Es ist so, dass die Leute sich immer in einer Opferrolle sehen. Sie fühlen sich selbst auch unselbstständig, sie haben keinen Lebensmut, sie trauen sich nicht, für die Zukunft zu planen, weil sie ja jedes Jahr ins Krankenhaus müssen und vielleicht entdeckt man dann den tödlichen Krebs. Das ist einfach eine Situation, die nicht haltbar wird. Und das haben alle UN-Organisationen , die hier beteiligt waren, auch bestätigt und gefordert, dass man damit aufhört und nur gezielt auf die wirklich gefährdeten Gruppen - etwa 200.000 Menschen der Liquidatoren - geht und die Normalbevölkerung endlich in Ruhe ihren Weg gehen lässt.