Dienstag, 19. März 2024

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200. Geburtstag von Karl Marx
"Eine Marx-Renaissance ohne Tiefgang hinterlässt keine Spuren"

Karl Marx ist wieder en vogue: als Figur, als Ikone, als Denker. Doch hat er wirklich neue Antworten für unsere Zeit? Sicherlich sei "im marxschen Werk einiges zu finden, an das anzuknüpfen sich auch in praktischer Hinsicht, im Handeln lohnen könnte", sagte Politologe Thomas Meyer im Dlf.

Thomas Meyer im Gespräch mit Birgid Becker | 03.05.2018
    Karl Marx als Souvenir in Trier.
    Karl Marx als Souvenir in Trier. (dpa/picture alliance/Martin Weiser)
    Birgid Becker: Spätestens seit der Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007/2008 ist weltweit die Neigung gewachsen, Kapitalismus kritisch zu sehen - Kapitalismus in Verbindung mit der Globalisierung zu sehen, als Ursache für die wachsenden Umweltprobleme der Erde, als Triebfeder für den menschgemachten Klimawandel, als Verursacher für die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich. Im gleichen Atemzug, wie die Kapitalismus-Kritik neuen Aufschwung bekam, wurde auch die Erinnerung an die Ikone aller Kapitalismus-Kritiker wieder wacher. Praktischerweise gibt es dann auch noch zwei Jubiläen: Im vergangenen Jahr war es 150 Jahre her, dass Karl Marx Hauptwerk "Das Kapital" erschienen war, und am Samstag, am 5. Mai, jährt sich Marxs Geburtstag zum 200. Mal. Vor der Sendung habe ich den Marx-Kenner Thomas Meyer gefragt. Diese neue Marx-Begeisterung, die sich speist aus den Frustrationen, den Turbolenzen der Krise, die sich speist aus einer Globalisierung mit nicht nur, aber doch vielen Schattenseiten, wird Marx in dieser Begeisterung missbraucht, oder hat er tatsächlich Antworten?
    Thomas Meyer: Missbraucht wird er nicht. Ob er Antworten hat, ist wieder eine andere Frage. Aber er ist jemand, der mit seinem Werk natürlich dafür steht, den Finger auf die Wunde gelegt zu haben, die auch heute wieder von vielen gespürt wird. Die Kapitalismus-Kritik, die er vorgelegt hat, die hat es in sich. Die ist grundlegend, grundsätzlich. Er hat ein großes Versprechen damit verbunden, dass es ganz anders werden könnte.
    Das große Versprechen hat er nicht eingelöst. Er hat ein paar Fingerzeige gegeben, in welcher Richtung gesucht werden könnte. Aber jedenfalls die Renaissance liegt sicherlich daran, dass er der radikalste, umfassendste und gründlichste Kapitalismus-Kritiker gewesen ist und derjenige, der eine Antwort zu haben schien.
    Becker: In einer Vorlesung, die Sie gehalten haben im vergangenen Herbst in Bonn, da haben Sie gesagt: "Jede Zeit hat ihre Art, Marx zu lesen und zu verstehen." Und es sei auch ein Zeichen von Größe und Qualität des Denkens, dass ein Werk vieldeutig sei, also auf vielfache Weise zu verstehen sei. Bei Marx ist das der Fall?
    Meyer: Ja. Marx gehört sicherlich zu denjenigen modernen Denkern, die ganz vielfach gelesen werden können, und insbesondere auch zu den Denkern, die im eigenen Werk auch schon eine ganze Menge Widersprüche angelegt haben, an die dann die verschiedensten Kräfte und Interpreten anknüpfen konnten. Neulich sagte ein Kenner, es ist sicherlich empfehlenswert, Marx alle 40, 50 Jahre neu zu lesen und zu deuten. Da ist was dran. Es ist nur leider zu vermuten, dass so eine rasche Marx-Renaissance ohne Tiefgang eigentlich, wie wir sie jetzt erleben, wo eine Ikone ausgestellt wird und Feiern und Ausstellungen und Gedenkveranstaltungen stattfinden, am Ende dann hinterher keine großen Spuren hinterlässt. Dabei würde man sicherlich im marxschen Werk einiges finden, an das anzuknüpfen sich jetzt auch in praktischer Hinsicht, im Handeln lohnen könnte.
    Brücken für die Marx-Begeisterung
    Becker: Wenn Sie sagen, alle 40, 50 Jahre lohnt es sich, Marx zu lesen, dann fällt ja auf, dass die vergangene Marx-Renaissance ja tatsächlich 50 Jahre vorbei ist, 50 Jahre her ist: die Umwälzungen der 68er-Jahre - Marx und die Frankfurter Schule um Adorno, um Horkheimer, um Marcuse. Genau in diesen Jahren hatte Marx ja auch wieder Konjunktur. Brücken zwischen damals und heute, zwischen 1968 und 2018, sehen Sie die für die Marx-Begeisterung?
    Meyer: Na ja. 1968, vor allen Dingen bei der Frankfurter Schule und dem, was Sie gerade genannt haben, das war eher der kulturell gedeutete, der kulturell verkürzte Marx, der da eine Rolle spielte. Aber das, was Marx selber eigentlich im Vordergrund seines Denkens stehen hatte, die Kritik der politischen Ökonomie und Strategien, die Krisen des Kapitalismus als ökonomischer Realität zu überwinden, spielt damals eine geringe Rolle. Und heute ist es eher der Versuch, doch die ökonomische Krise, die uns erfasst mit ihren Auswirkungen auf die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit und all das, was damit verbunden ist, in den Blick zu nehmen. Aber es gibt eigentlich wenig tiefgehende Analysen, die es wirklich nun mal zeigten, was bedeutet eigentlich die ökonomische Analyse des Kapitalismus und seiner Krisen für uns und was für Wegweisungen könnte man bei Marx finden, um die Krise zu überwinden.
    Becker: Kann man denn in aller Kürze sagen, was für Wegweisungen das sind?
    Meyer: Marx ist zwiespältig in dieser Hinsicht. Aber es gibt einen Ansatzpunkt; den würde ich für lohnenswert halten. Daran könnte und sollte man anknüpfen. Eigentlich ist das die Hauptbotschaft von Marx. Wenn die Logik des Kapitalismus, die Logik der Kapitalverwertung zur dominanten Logik des gesellschaftlichen Geschehens wird, das gesellschaftliche Geschehen prägt, dann werden Gesellschaften zerstört. Dann hat der Kapitalismus und die Gesellschaft, in der er sich entfaltet, eigentlich gar keine Zukunft.
    Aber Marx hat an verschiedenen Stellen gesagt, es gibt auch etwas dagegen. Die damalige Arbeiterbewegung hat damit angefangen. Marx sagt das bei der Diskussion über den Acht-Stunden-Tag. Natürlich kann eine Regierung, wenn sie unter dem Einfluss starker demokratischer, sozialer Kräfte steht, diese Kapitallogik zurückdrängen, einschränken durch eine soziale Logik, soziale Vorsicht, soziale Voraussicht, soziale Rücksichtnahme in Grenzen halten, immer stärker zurückdrängen, so dass dann eher die Logik einer sozialen Verantwortung in der Gesellschaft dominiert. Das gibt es bei Marx auch und wenn man daran anknüpft und daraus für den Tag jetzt Strategien des Handelns entwirft, dann hätte sich dieses ganze Feiern und Erinnern doch tatsächlich gelohnt zu guter Letzt.
    Ein zeitloses Erbe
    Becker: Und an diese Schlüsselworte gedacht, soziale Logik, soziale Vorsorge, soziale Verantwortung, an diese Schlüsselbegriffe gedacht ist ja auch der Gedanke abwegig, dass zum Beispiel die Digitalisierung das Marx-Werk aufs Abstellgleis schiebt. Denn diese enorme ökonomische Kraft, die von Daten ausgeht, das geht ja weit über alles hinaus, was Marx an Produktivmitteln kennen konnte und erdenken konnte. Aber diese Schlüsselbegriffe sind zeitloses Erbe, Digitalisierung hin oder her?
    Meyer: Ja. Ich würde sagen, gerade die Digitalisierung zeigt: Wenn die Logik der Kapitalverwertung – und nichts anderes ist es ja, was diese Leute im Silicon Valley machen und betreiben -, wenn die alles andere totschlägt, die Selbstbestimmungsansprüche der Menschen, die Rücksicht auf menschliche Würde, die Rücksicht auf gesellschaftliche Zusammenhänge, dann werden Gesellschaften zerstört. Dann werden Freiheitsräume eingeschränkt. Dann wird die menschliche Würde angetastet und im Grunde ist der Kern dieses ganzen Digitalisierungsproblems, dass hier Leute eine neue Technologie entwickeln und anwenden, die rein ihrer Logik der Kapitalverwertung folgen und auf keine gesellschaftlichen Interessen in irgendeiner Weise Rücksicht zu nehmen gedenken.
    Das Ganze wird ein bisschen vernebelt durch diesen Anspruch, na ja, das ist ja eine soziale Kommunikation, Facebook und dergleichen, aber das sind ja nur für die Leute, die das betreiben, Materialien, um Geld zu machen.
    Becker: Bemerkenswert ist ja, dass Marx nicht nur in westlichen Gesellschaften eine Renaissance erlebt, auch wenn Sie sagen, zum Teil ist das eine oberflächliche Renaissance. Aber eine Renaissance gibt es auch in China, im China des Xi Jinping, das einen zunehmend autoritären, aber ökonomisch erfolgreichen Kurs fährt. Gibt Marx das her?
    Der weltanschauliche Marxismus
    Meyer: Nein. Wenn man sich anguckt, was die Wirkung von Marx etwa in der deutschen Geschichte war, oder in der europäischen, dann ist relativ klar: Marx ist lange Zeit, jahrzehntelang vor allen Dingen im Sinne einer Weltanschauung, der weltanschauliche Marxismus, interpretiert worden, der den Sinn der Geschichte, der den Sinn des Lebens, wenn man die Bedeutung des Marxismus versteht, vermitteln kann und begründen kann, im Sinne der Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts, die ja auch oft als Weltanschauung interpretiert und praktiziert wurden, sozusagen als Religionsnachfolge. Und eigentlich erhofft sich Xi Jinping in China, so glaube ich, dass bestimmte Probleme innerhalb seiner Partei, so etwas wie unmoralisches Verhalten, wie rücksichtloses Verhalten, Korruption und dergleichen, in Grenzen gehalten werden könnten, wenn aufs Neue ein weltanschaulicher Marxismus, der die Menschen dort, vor allen Dingen auch die Parteimitglieder moralisch inspiriert und diszipliniert, Bedeutung gewinnen könnte. Aber dieser weltanschauliche Marxismus, der ist vergangen, der ist tot. Dessen Bedingungen sind nicht mehr vorhanden. Dieser Versuch, der kann nicht gelingen.
    Becker: Auch wenn man nur mit Teilen der marxschen Schriften vertraut ist, es fällt auf jeden Fall auf, dass es sehr viele Stellen gibt, die auch literarisch einiges zu bieten haben, die zum Teil sehr poetisch sind. Schließen wir doch mit einem Lieblings-Marx-Zitat von Ihnen?
    Meyer: Na ja. Das Lieblings-Marx-Zitat von mir, das ist nicht besonders literarisch. Aber es ist doch irgendwie sehr erhebend und unvergesslich. Er hat schon als junger Autor 1842 den Satz in einem kleinen Aufsatz formuliert: "Es kommt darauf an, alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein verächtliches, ein geknechtetes Wesen ist." Das finde ich einen wunderbaren Satz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.