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22.1.1729 - Vor 275 Jahren

Der freie Mensch ist Lessings Thema. Sei es in seinen Dramen, in den theologischen Schriften, im theoretischen wie im kritischen Werk zur Kunst und Literatur: Der "Mensch überhaupt“, der bestrebt sein muss, sich zu vervollkommnen.

Von Guido Graf | 22.01.2004
    Schreibe wie Du redest, so schreibst Du schön.

    Vierzehn Jahre alt ist Lessing, als er diesen Satz sagt. Kein Kalenderspruch ist das, sondern ehrgeizige, selbstbewußte Maxime. Er setzt sich ab von seiner Zeit. Der erste freie Schriftsteller in Deutschland. Geboren am 22. Januar 1729 in Kamenz. Den Ehrgeiz hat Gotthold Ephraim Lessing vom Vater, einem lutherischen Pfarrer. Er lernt und lernt. Der Hochbegabte und Fleißige kann die Fürstenschule in Meißen schon früh verlassen. Als er zwanzig ist, Student in Leipzig, faßt er einen Entschluß:

    Ich lernte einsehen, die Bücher würden mich wohl gelehrt, aber nimmermehr zu einem Menschen machen.

    Das ist es: Lessing will aus sich einen Menschen machen. Er will leben. In dieser Zeit, in den Jahren um 1750, ist das eine Provokation. Und Lessing vertraut auf die Zukunft. Nicht um seiner selbst willen. Es gibt wichtigere Aufgaben für ihn. Die Aufklärung des Menschengeschlechts. Und Lessing schreibt.

    Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wette, / Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag / Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, / Mit herzlichster Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott, Zu Hülf’!

    Zwischen 1750 und 1770 wechseln Stellungen und Tätigkeiten häufig. In Berlin arbeitet Lessing als Redakteur, Journalist und Übersetzer. Im Siebenjährigen Krieg ist er Sekretär eines preußischen Generals. In großen finanziellen Schwierigkeiten, nimmt er nach dem Krieg eine Stelle als Dramaturg am Hamburger Nationaltheater an. Nach dessen Fiasko, wiederum mit hohen Schulden durch erfolglose buchhändlerische Unternehmungen, akzeptiert er 1770 das Amt des Bibliothekars in Wolfenbüttel, das ihm der Braunschweiger Erbprinz anbietet. Diese Stelle behält er bis zu seinem frühen Tod 1781. Die Biographie endet genau in der Situation, der Lessing einst entgehen wollte: inmitten von Büchern, abseits des Lebens. Er sehnt sich nach dem Anfang seines Lebensplans zurück:

    Nichts zu seyn, nichts zu wollen, nichts zu thun, als was der gegenwärtige Augenblick mit sich bringt! ... Doch ich bin zu stolz, mich unglücklich zu denken, - knirsche eins mit den Zähnen, - und lasse den Kahn gehen, wie Wind und Wellen wollen. Genug, daß ich ihn nicht selbst umstürzen will!

    Der freie Mensch ist Lessings Thema. Sei es in seinen Dramen, in den theologischen Schriften, im theoretischen wie im kritischen Werk zur Kunst und Literatur: Der "Mensch überhaupt", der bestrebt sein muß, sich zu vervollkommnen. Den Figuren in Lessings Dramen, die "sich selbst leben" wollen, bekommt das in der Regel nicht. Tellheim in der Minna von Barnhelm nicht, auch nicht Odoardo und Appiani in Emilia Galotti. Am Ende, in Lessings letzten Werk, ist es Nathan der Weise, in dem Zuversicht und Enttäuschung ihre Mitte finden, ein Wahrheit vielleicht. Nathan ist weise, doch vor allem ein tätiger Kaufmann, der im Leben steht. Eine exemplarische Gestalt, die programmatisch zurückweist, was der Derwisch Al-Hafi ihm als würdiges Leben des Menschen in der gesellschaftsfernen Einsamkeit an den Ufern des Ganges vorschlägt:

    Wer / Sich Knall und Fall, ihm selbst zu leben, nicht / Entschließen kann, der lebet andrer Sklav / Auf immer.

    Das wäre die Mode der Zeit, der Zeitgenossen Goethe, Schiller, Lenz und Wieland, für die Ich und Welt auf Augenhöhe stehen. Aus dem Glauben an den Genius Ich Literatur machen zu wollen, war Lessing suspekt. Sein Nathan entscheidet sich anders. Er entscheidet sich für das Mögliche, für den "Menschen überhaupt", für die Toleranz des Ausgleichs. In der Ringparabel antwortet Nathan dem Sultan Saladin, der von ihm die wahre Religion wissen will, daß es nicht um Unterschiede zwischen Christen, Juden und Muslimen gehen kann.

    Denn gründen alle sich nicht auf Geschichte? / Geschrieben oder überliefert! – Und / Geschichte muß doch wohl allein auf Treu / Und Glauben angenommen werden? – Nicht?

    "Geschrieben oder überliefert": der Vernunft diese Möglichkeit zu bieten, sah Lessing seine Aufgabe.

    Komm! übe, was du längst begriffen hast; / Was sicherlich zu üben schwerer nicht, als zu begreifen ist, wenn du nur willst. Steh auf!