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25.6.1924 - Vor 80 Jahren

Der Regisseur Sidney Lumet war immer der Außenseiter. In der Armee, die ihn während des Zweiten Weltkriegs zu zwei Jahren Zwangsdienst in den nordindischen Dschungel schickte. Und nach seiner Entlassung, als er sich im zivilen Leben nur noch schwer zurechtfand. Er war Außenseiter in der Schauspielschule, dem Actors Studio, wo er gegen den Trend zum psychologischen Realismus rebellierte, und er blieb auch innerhalb der amerikanischen Filmbranche der linke, jüdische Außenseiter, der selbst populäre Geschichten mit dem Gestus des kopfschüttelnden Welt- und Menschenbetrachters erzählte. Lumet, der am 25. Juni 1925 geboren wurde, bezeichnete sich selbst einmal als "Straßenjuden". Schon sehr früh habe er sich, seine Herkunft und die sozialen Unterschiede in seiner Umgebung analysiert und sich bereits als Halbwüchsiger in linken Gruppen engagiert – was ihn in seinem New Yorker Arbeiterviertel wiederum zur intellektuellen Randfigur machte.

Von Katja Nicodemus | 25.06.2004
    Fast alle seine Filme erzählen von einsamen Kämpfern, die sich alleine gegen ein unmenschliches System stemmen, das sich zusammensetzt aus Konformismus, Feigheit und Bequemlichkeit. Doch bevor er als Regisseur seine eigenen Vorstellungen durchsetzen konnte, lernte Sidney Lumet sein Handwerk beim Fernsehen. Erst 1957, mit 33 Jahren und nachdem er bei fast 500 Serienproduktionen Regie geführt hatte, drehte er seinen ersten Spielfilm: "Die zwölf Geschworenen", einen Gerichtsfilm, der denn auch gleich Lumets Weltbild, seine Autorenhaltung und seine Utopie enthalten sollte. Henry Fonda ist hier der eine Aufrechte, der am allzu nahe liegenden Urteil zweifelt. Unbeugsam beharrt er auf dem Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Für Lumet war der kritische Blick auf die Schwerkraft der Verhältnisse von Anfang an untrennbar mit dem Regieführen verbunden.

    In "Die zwölf Geschworenen" konnte Lumet bereits sein großes Formbewusstsein unter Beweis stellen. Mit einem virtuosen Wechsel der Schärfe und der Brennweiten strukturiert er die endlosen Dialoge, in denen es um Leben und Tod geht. Gegen Ende scheint sich die Decke schicksalhaft zu den Geschworenen hinabzusenken.

    Stets wird Sidney Lumet seinen Figuren viel abverlangen, stets muss der einzelne in seinen Filmen für zivilisatorische und moralische Standards sorgen, Würde und Anstand in einer Welt behaupten, die verkommen, korrupt, gleichgültig ist. Dabei sind Lumets Filme alles andere als hochmoralische oder gar schwarzweiße Dramen, in denen Gut und Böse fein säuberlich getrennt sind. Nein, Lumets Helden sind von dem Schlamassel infiziert, der sie umgibt, immer wieder wirkt ihr Kampf verzweifelt und nicht selten sieht man sie scheitern.

    Immer war Sean Connery der prototypische Lumet-Held, der nicht nur mit der Außenwelt, sondern auch mit den eigenen Abgründen im Konflikt liegt. In "Sein Leben in meiner Gewalt" spielte er 1972 einen fanatischen Polizisten, der einem vermeintlichen Sexualmörder die eigenen Fantasien unterstellt. In "Serpico", der als einer der besten Polizeithriller der Filmgeschichte gilt, legt er sich als Abweichler mit einem korrupten Poliziapparat an. Immer wieder gelang es Lumet, seinen Darstellern eine geradezu existenzialistische Verzweiflung zu entlocken. In "Hundstage" etwa erreichte Al Pacino als Bankräuber, der doch nur die Geschlechtsumwandlung seines Geliebten bezahlen will, jene tragische Größe, die den Mythos dieses Schauspielers begründen sollte. Dass er mit derart gebrochenen Helden ein riesiges amerikanisches Kinopublikum erreichen konnte, verschaffte Lumet stets große Befriedigung.

    Wie hellsichtig und analytisch Lumets Kino war und ist, zeigt sich immer noch am besten an seinem Film "Network", der bereits 1976 alle Auswüchse der Fernsehgesellschaft vorwegnahm. Ganz buchstäblich bestimmen hier die Einschaltquoten über Leben und Tod der Angestellten eines Nachrichtensenders. Als ein Moderator nicht mehr das einstige Interesse erweckt, beschließt seine von Faye Dunaway gespielte Produzentin, ihn einfach vor laufender Kamera erschießen zu lassen.

    Der Amoklauf der mit sich selbst beschäftigten Mediengesellschaft, die Korruption der selbstgerechten Moralapostel, die Paranoia des Überwachungsstaats – wie kaum ein anderer Regisseur hat Sindey Lumet immer wieder auf selbstverständliche Weise gezeigt, dass Spannung, Unterhaltung und eine bis in die tiefsten Abgründe der Gesellschaft weisende Sozialkritik im amerikanischen Kino sehr wohl vereinbar sind.