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25 Jahre Alexanderplatz-Demo
Für einen freieren Sozialismus

Am 4. November 1989 versammelten sich auf dem Berliner Alexanderplatz Hunderttausende Menschen zur größten Demonstration in der DDR-Geschichte. Organisiert worden war die Veranstaltung von Schauspielern und anderen Kulturschaffenden. Sie forderten mehr Freiheit - jedoch nicht das Ende des Sozialismus.

Von Norbert Seitz | 04.11.2014
    Rund 500.000 Menschen nahmen am 4. November 1989 bei der größten Demonstration der DDR-Geschichte auf dem Berliner Alexanderplatz teil.
    Die Forderung der Demonstranten: Sozialistisch wollte man noch immer sein, aber nicht mehr nach Maßgabe der SED. (dpa / picture alliance )
    O-Ton DDR-Fernsehen (4.11.1989):
    "Auf dem Berliner Alexanderplatz stehen wir nun kurz vor dem Beginn dieser Demonstration, das heißt, kurz vor Eröffnung der Rednerliste. Wir, die Mitarbeiter der Berliner Theater, heißen Sie herzlich willkommen. (Applaus)"
    Samstag, der 4. November 1989, fünf Tage vor dem Mauerfall. Die Schauspielerin Marion van de Kamp eröffnet die größte Demonstration in der Geschichte der DDR.
    "Die Straße ist die Tribüne des Volkes überall dort, wo es von den anderen Tribünen ausgeschlossen wird. (Applaus, Pfiffe). Hier findet keine Manifestation statt, sondern eine sozialistische Protestdemonstration. (Applaus)".
    Damit war der Rahmen gesteckt. Sozialistisch wollte man noch immer sein, aber nicht mehr nach Maßgabe der SED. 23 Rednerinnen und Redner traten in Erscheinung. Daneben zwei musikalische Darbietungen. Ein Redner kam aus der Lutherstadt Wittenberg angereist. Pastor Friedrich Schorlemmer:
    "Das Besondere war, dass das vom Theater ausging. Und sie verließen gewissermaßen die Bühne des Theaters. Die Straße wurde zur Bühne des Volkes. Ich war der Einzige im Übrigen, der aus der Republik geredet hat. Alle anderen waren Berliner."
    "Niemand wusste, wohin die Reise gehen würde"
    Die Atmosphäre war ebenso erwartungsfroh wie angsterfüllt. Welches Aufbruchsignal würde von solch einer Massendemonstration ausgehen können, ohne dass die repressive Staatsmacht doch noch einmal zuschlagen würde. Der Berliner Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk erinnert an die angespannte Situation:
    "Ich glaube, man muss sich zunächst in die Zeit zurückversetzen. Jeden Tag passierte etwas Unvorhergesehenes. Die Nachrichten veralteten im Stundenrhythmus. Insofern waren die Erwartungen vor diesem 4. November ohnehin riesengroß. Die Menschen wussten, man lebt inmitten eines rasanten Wandels, von dem niemand wissen konnte zu diesem Zeitpunkt, wo es hingehen würde. Niemand heißt: Nicht nur in der DDR die Menschen, auch in der Bundesrepublik wussten die Politiker nicht, wohin die Reise gehen wird. Das war alles völlig unklar. Und das gehört zu diesem Tag."
    Das Vorspiel zum 4. November hatte am 9. Oktober in Leipzig bei einer Massendemonstration stattgefunden, die friedlich und ohne staatspolizeiliche Übergriffe vonstattengegangen war. Bei den Protesten zum 40. Jahrestag der DDR waren Demonstranten in Berlin noch scharenweise Prügelorgien ausgesetzt und auf Lkws abtransportiert worden. Fortan hatten sich für den Fall einer expandierenden Protestbewegung Ängste vor einem Massaker wie am 4. Juni 1989 in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens breitgemacht. Dort waren demonstrierende Studenten von Panzern überrollt worden. Doch es sollte anders kommen. Friedrich Schorlemmer:
    "Der 9. Oktober in Leipzig, das war ein Tag der politischen Erlösung. An dem Tag hat sich alles entschieden. Es stand zur Debatte, dass die "chinesische Lösung" auf dem Leipziger Ring stattfindet. Und da kamen 70.000 Leute, nicht 7.000 auch nicht 17.000, sondern 70.000! Und die Staatsmacht hat kapituliert vor dem Volk, das einfach nur einen Satz aussprach, den man auch richtig aussprechen muss:
    "Wir sind das Volk, wir sind das Volk, wir sind das Volk!"
    Das Neue Forum hatte die Idee, kritisch eingestellte Künstler einen offiziellen Antrag für eine Großdemonstration stellen zu lassen, unter Berufung auf die DDR-Verfassung, wie sie zu Beginn der Veranstaltung vom Schauspieler Ulrich Mühe zitiert wurde:
    "Wir demonstrieren hier für die Inhalte folgender Verfassungsartikel: "Artikel 28: "Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln. (Applaus). Die Nutzung der materiellen Voraussetzungen zur unbehinderten Ausübung des Rechtes der Versammlungsgebäude, Straßen und Kundgebungsplätze, Druckereien und Nachrichtenmittel wird gewährleistet."
    Vertreter des Regimes auf dem Platz
    Über Handzettel, Flugblätter und Mund-zu-Mund-Propaganda war für die Kundgebung geworben worden. Ängste wurden gestreut: Wie kann man verhindern, dass die Massen auf die Mauer zusteuern? Bricht das Berliner S-Bahn-System zusammen? Auch Friedrich Schorlemmer beschlichen am Morgen des 4. November große Sorgen:
    "Dass irgendwelche bestellten Provokateure kommen würden und es zu Handgreiflichkeiten kommt, die zur Eskalation führen. Keiner wusste an dem Tag, wie viel Leute wirklich auf den Alex kommen würden."
    Kowalczuk:
    "Was nun passierte, war gewissermaßen so ein Szenario, wie man aus Diktaturen eben kennt. Die verschiedenen Handlungsträger in diesen Tagen, in dieser Situation fragten sich: Was können wir nun eigentlich tun? Wie können wir das Ding verbieten? Das wurde überlegt: Können wir das versuchen, zu kanalisieren, für unsere eigenen Zwecke zu benutzen? Am Ende kam dabei heraus, man könne das weder verbieten, noch könne man das anderweitig verhindern. Also müsse man versuchen, dass man seine eigenen Leute dort platziert".
    Und das betraf sowohl die zahlreichen bestellten Claqueure aus den Stasi-Reihen auf dem Platz als auch ein paar Vertreter des taumelnden Regimes auf dem Podium, wie zu Beispiel Ex-Spionage-Chef Markus Wolf, SED-Politbüromitglied Günther Schabowski und Manfred Gerlach von der liberalen Blockpartei LDPD, der im Dezember 1989 letzter Staatsratsvorsitzender der DDR werden sollte.
    Günther Schabowski (l), Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, unterhält sich am 04. November 1989 in Berlin auf dem Alexanderplatz mit Demonstranten
    Günther Schabowski (l), Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, unterhält sich am 04. November 1989 in Berlin auf dem Alexanderplatz mit Demonstranten (dpa/picture alliance/Thomas Lehmann)
    "Als ich das mitbekam, dachte ich mir: Was soll denn das? Wollen die das jetzt umdrehen und gewissermaßen die Wut des Volkes so umdrehen, dass die, auf die man Wut hatte, zur Hoffnung des Volkes würden. Als dann also auch noch Markus Wolf da war, dachte ich: Was sollte denn das? Bis ich mir klar machte, ja, dahinter stand natürlich eine Strategie: uns mit zu diskreditieren: also wir mit denen ja auf eine gemeinsame Bühne steigen".
    Auf dem Boden der DDR was Neues schaffen
    So trat gleich zu Beginn der Kundgebung ein junger 25-jähriger Schauspieler ans Mikrofon, um seinen Unmut über das Heranschmeißen von SED-Vertretern an die neue Protestbewegung zum Ausdruck zu bringen:
    "Mein Name ist Liefers, Ich bin Schauspieler. In den letzten Wochen haben hunderttausende Menschen auf den Straßen unsers Landes das Gespräch eingefordert. Natürlich hat jeder das Recht, Partner in diesem Gespräch zu sein. Aber ich meine, wir sollten darauf achten und uns verwahren gegen mögliche Versuche von Partei- und Staatsfunktionären, jetzt oder zukünftig Demonstrationen und Proteste von Menschen unseres Landes für ihre Selbstdarstellung zu benutzen, Initiatoren und Führer des begonnenen gesellschaftlichen und politischen Reformprozesses zu sein."
    Die Redner auf dem Alexanderplatz lassen sich in fünf Gruppen aufteilen. Neben den rezitierenden Theaterleuten und den drei Regimevertretern waren dies:
    - Kritische, aber systemloyale Künstler wie Christa Wolf, Stefan Heym, Heiner Müller oder Christoph Hein;
    - Solche, die sich als Reformkräfte des SED-Systems verstanden, wie Anwalt Gregor Gysi und der Rektor der Potsdamer Hochschule für Film und Fernsehen, Lothar Bisky,
    - sowie Dissidenten wie Jens Reich vom Neuen Forum, Marianne Birthler von der Initiative "Frieden und Menschenrechte" oder Konrad Elmer von der SDP.
    Andere Dissidenten kamen auf der Rednerliste nicht vor. Bärbel Bohley zum Beispiel tat kund, dass sie sich instrumentalisiert vorgekommen wäre, hätte sie dort gesprochen. Und ausgebürgerte frühere Dissidenten wie Wolf Biermann oder Jürgen Fuchs wurden am Morgen des 4. November an der Einreise in die DDR gehindert. Ein Tonbandmitschnitt des MfS gibt darüber Auskunft:
    "So, des Weiteren haben wir noch Informationen von unserer VI, von dem Anfall Biermann am Bahnhof Friedrichstraße. Der ist 9 Uhr 13 fahndungsmäßig angefallen, der ist 9 Uhr 25 zurückgetreten mit den Worten: "Wir kommen wieder. Möglicherweise ändert sich noch was".
    Letzter Domestizierungsversuch des dahinsiechenden Regimes
    Im Zeichen des nicht mehr aufzuhaltenden Erosionsprozesses des SED-Regimes und des anhaltenden Massenexodus sollte von diesem Tag die beschwörende Botschaft ausgehen, zu bleiben, um auf dem Boden der DDR etwas Neues zu schaffen. Schriftsteller Stefan Heym versuchte jenen Augenblick auf dem Alex als historischen Moment zu prägen:
    "Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen, nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Einer schrieb mir, und der Mann hat recht:"Wir haben in den letzten Wochen unsere Sprachlosigkeit überwunden und sind jetzt dabei, den aufrechten Gang zu erlernen". (Applaus)
    Doch was damals eine Illusion und keine reale Vision mehr war, wurde von der Schriftstellerin Christa Wolf unverdrossen in die Formel gekleidet:
    "Also träumen wir mit hellwacher Vernunft: Stell' Dir vor: Es ist Sozialismus, und keiner geht weg." (Applaus)
    Und auch Pastor Schorlemmer versucht die Massen in diesem Sinne zu beschwören:
    "Hier lohnt es sich jetzt, hier wird es spannend, bleibt doch hier. Jetzt brauchen wir buchstäblich jeden und jede."
    "Ich denke, man darf nicht unterschätzen, dass die DDR 1989 ökonomisch am Ende war, aber auch moralisch am Ende war. Dass die, die einmal geglaubt hatten, wir bauen eine neue, überhaupt die neue Gesellschaft auf, merkten: Das funktioniert nicht. Die Häuser verfielen, die junge Generation verschwand zu Tausenden. Die Mauer wurde sinnlos".
    Dass das DDR-Fernsehen die Kundgebung live übertrug, wurde als letzter Domestizierungsversuch des dahinsiechenden Regimes gewertet: Um Luft aus dem Kessel zu lassen, ließen sich kritische Töne nicht mehr ausblenden. Wie auch die Schriftstellerin und frühere Spitzensportlerin, Ines Geipel, die bereits im Sommer 1989 aus dem Land geflüchtet war, im Rückblick unterstreicht:
    "Das musste doch erst einmal eine Erfahrung werden, dass man solche Sätze, solche Losungen öffentlich sagen kann, ohne weggefangen zu werden. Die Leute konnten gehen und haben über Stunden diesen Reden zugehört, wo man heute sagen kann: Na ja, die waren nicht ganz wahnsinnig spannend, bis auf wenige".
    Volksfestartige Stimmung
    Dafür glänzte die Kundgebung vom 4. November durch ein anderes Moment. Ilko-Sascha Kowalczuk:
    "Alle Betrachter staunten, was für eine Kreativität, was für ein unglaublicher Witz aus dieser Gesellschaft, aus dieser Bevölkerung auf einmal kam, ablesbar auf diesen ganzen Transparenten:
    "Großartig: "Mit dem Fahrrad nach Europa / Aber nicht als alter Opa", "Schickt die Stasi / nach Bengasi"".
    So geht es auch aus dem mitgeschnittenen Bericht eines IM über die Großdemonstration am 4. November hervor:
    "Die Stimmung im Demonstrationszug war gelöst, locker, fast volksfestartig. Einfallsreiche oder besonders originelle Plakate wurden mit spontanem Beifall begrüßt. Insbesondere ein Plakat, das Egon Krenz in der Rolle der Großmutter aus "Rotkäppchen und der Wolf" zeigte mit der bekannten Zeile: Großmutter, warum hast du so große Zähne? erhielt stehende Ovationen. Man äußerte frei seine Meinung durch Beifall oder Pfiffe".
    Bezeichnend für die Demonstration am 4.11.1989 waren die originellen Plakate und Banner.
    Bezeichnend für die Demonstration am 4.11.1989 waren die originellen Plakate und Banner. (dpa/picture alliance/Thomas Lehmann)
    Doch trotz seiner Verhöhnung durch Demonstranten traute sich Markus Wolf als Redner aufs Podium, um aus der Täterrolle in die Reformerrolle des SED-Gorbatschow zu schlüpfen, begleitet von gellenden Pfiffen:
    "Hunderttausende Kommunisten, die ehrlich und aktiv gearbeitet haben, erwarten einen klaren Kurs. Viele haben schon lange um Lösungen gekämpft, haben auch weitreichende konzeptionelle Vorschläge für grundlegende Reformen eines erneuerten Sozialismus gemacht."
    Der Beschwörung von Glasnost folgte jedoch bereits die Angst vor dem unausweichlichen Ende der DDR auf dem Fuße. Wie der Rede von Günther Schabowski unschwer zu entnehmen war:
    "Wir alle wollen eine DDR, von der jeder sagen kann: Das ist unser Land. Aus Prag erreichen uns indes wieder bedrückende Nachrichten und Bilder. (Pfiffe). Die SED, die SED bekennt sich zur Umgestaltung".
    Keine anti-sozialistische Veranstaltung
    60.000, vor allem jüngere Bürger, haben allein an diesem Wochenende über Drittländer der DDR den Rücken gekehrt. Die Fluchtdynamik war nicht mehr aufzuhalten. Weshalb es für Kritiker des 4. November auch bezeichnend war, dass die Kundgebung auf dem Podium weitgehend ohne jugendliche Vertreter ablief. Mit Ausnahme von Jan Josef Liefers und - Tobias Langhoff, dem 26-jährigen Spross einer ruhmreichen Theaterdynastie.
    "Zum Nachdenken über den künftigen Staat DDR gehört die Offenlegung seiner politischen Biografie. Verschwiegene Vorgänge, vergessene Namen, Verfälschtes und Unterdrücktes werden auftauchen und man wird nicht wissen, wie viel noch."
    Geipel:
    "Tobias Langhoff ist einer der wenigen Redner, der überhaupt nach der politischen Biografie der DDR fragt und nach dem Verhältnis von politischer Verantwortung, Schuld und Opfern. Das macht ihn doch als Redner ziemlich einzigartig."
    Fünf Tage vor der Maueröffnung hat am 4. November auf dem Alexanderplatz niemand das Ende des Todesstreifens gefordert. Geschweige denn die Wiedervereinigung. Man sehnte ein Ende des Experimentes DDR-Sozialismus herbei, aber noch kein Ende des Sozialismus überhaupt, wie Ilko-Sascha Kowalczuk feststellt:
    "Aber was diese Demo mitnichten war, Es war keine anti-sozialistische Veranstaltung. Es war eine Anti-SED-Veranstaltung. Man hatte genau vor einer solchen Radikalisierung von Forderungen Angst, weil man den Gegnern, der SED, der Stasi, den Kommunisten keine Argumente in die Hände geben wollte, um vielleicht doch noch die Panzer aus den Kasernen zu holen".
    Ebenso betont Friedrich Schorlemmer, wie die meisten anderen auch, auf dem Alexanderplatz nicht die deutsche Einheit im Blick gehabt zu haben:
    "Wir wollten erst die Freiheit und dann, als ein eigenständiges Subjekt in die Deutsche Einheit kommen und nicht als anschlussbereite Konkursmasse."
    "Es ging um ein besseres, freieres Leben"
    So bleibt der Nimbus der Kundgebung vom 4. November 1989 bis heute umstritten. Das beginnt schon bei der Teilnehmerzahl, die der Historiker Kowalczuk mit einer halben Million Menschen für reichlich überschätzt hält:
    "Ich habe mir von Bauämtern genaue Pläne des Alexanderplatzes und der angrenzenden Straßen, also dort, wo überall Leute herumstanden, besorgt, und habe ausgerechnet, wie viele Leute dort eigentlich rein physisch hätten stehen können. Und kam zu dem Ergebnis, dass es nicht mehr als 200.000 Leute hätten gewesen sein können. Mehr passen da physisch einfach nicht hin, nicht mit unseren irdischen Kräften."
    Aber war ein Staat wie die DDR, der dem Untergang geweiht, diese Mühe noch wert, um Veränderungen zu kämpfen und Risiken in Kauf zu nehmen? War die Massendemo auf dem Alex nur eine Inszenierung des Missbrauchs der Bevölkerung, fein eingefädelt über Theaterleute und Intellektuelle?, wie Kritiker vermuten, mit "Privilegierten des Landes" auf dem Podium, die mit einem "Reisepass in der Tasche" zu Wort gekommen seien? Ilko-Sascha Kowalczuk hält solche Deutungen für überzogen:
    "Diese Veranstaltung war getragen davon, dass nichts mehr so bleiben soll wie es ist. Freiheit muss her."
    Was ist historisch oder gar visionär geblieben vom 4. November auf dem Alexanderplatz? Ines Geipel gebraucht dafür robuste Ausdrücke wie "Umwälzpumpe", "Transmission" oder "Schleusentag". Marianne Birthler, die spätere Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde, hatte in ihrem Redebeitrag Protokolle der am 7. Oktober noch Verdroschenen und Weggeschafften verlesen. In ihren Erinnerungen resümiert sie:
    "Es ging am 4. November weder darum, die DDR abzuschaffen, noch darum, sie zu retten. Es ging um ein besseres, ein freieres Leben. Das Alte galt nicht mehr, und das Neue war noch nicht da. Die Leute wollten nicht mehr zurück, haben ihre Kraft gespürt, verlangten nach mehr."