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25 Jahre August-Putsch
Viele Russen wünschen sich die Sowjetunion zurück

Vor 25 Jahren rollten Panzer durch das Zentrum von Moskau: Konservative Funktionäre wollten den Reformer Gorbatschow stürzen. Nach drei Tagen war der Putsch gescheitert und nur wenig später zerfiel die Sowjetunion. Heute fällt die Erinnerung in Russland an den August-Putsch zwiespältig aus.

Von Gesine Dornblüth | 19.08.2016
    Der damalige russische Präsident Boris Jelzin (2.v.l) fordert auf einem Panzer stehend vor dem russischen Regierungsgebäude in Moskau die Bevölkerung mit geballter Faust zum Generalstreik auf.
    Beim Augustputsch 1991 wollten konservative Funktionäre den Reformer Gorbatschow stürzen. (picture alliance / dpa / afp)
    "Ich war am 19. August auf der Datscha. Wir schalteten das Radio ein. Da hörten wir die Erklärung Janajews."
    "Da Michail Sergejewitsch Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen die Pflichten des Präsidenten der UdSSR nicht wahrnehmen kann und die Vollmachten verfassungsgemäß an den Vizepräsidenten der UdSSR Gennadij Iwanowitsch Janajew übergegangen sind; mit dem Ziel, die tiefe und allumfassende Krise, Chaos und Anarchie zu überwinden, die das Leben und die Sicherheit der Bürger der Sowjetunion und die Souveränität (...) unseres Vaterlandes bedrohen; erklären wir (…), für sechs Monate den Ausnahmezustand zu verhängen, ab vier Uhr früh am 19. August 1991."
    "Wir saßen auf der Veranda, Tee, frische Marmelade, die Bienen summten… Der Gedanke, dass alles wieder zurückgedreht wird, war erschütternd."
    "Ich habe die Sowjetmacht gehasst: Den Eisernen Vorhang, die Zensur, diese totale Lüge: Alle wissen alles, aber schweigen. Die Angst."
    "Ich habe mein Kind geschnappt und bin nach Moskau gefahren."
    "Ich hatte kein Radio, keinen Fernseher. Meine Freundin rief mich an. Und ich dachte sofort: wieder kommt alles zurück."
    Im Stadtzentrum fuhren Panzer
    Anja Ostrowskaja und Katja Smirnitzkaja sitzen bei einem Glas Rotwein in einer Küche in Moskau und erinnern sich. Die eine ist Russischlehrerin, die andere Redakteurin in einem Wissenschaftsverlag. Anfang der 90er Jahre hatten sie gerade mit dem Berufsleben begonnen. Sie genossen den frischen Wind der Perestrojka. Der Putsch der Konservativen kam für sie unerwartet. "Ich hatte den Eindruck, jetzt werden wir alle wieder mundtot gemacht, und wir können nichts machen."
    Die beiden Frauen liefen rastlos durch das Stadtzentrum. Dort fuhren Panzer. Katja ging zum Weißen Haus, damals dem Sitz des Parlaments der Russischen Teilrepublik. "Dort habe ich gesehen, wie die ersten Barrikaden gebaut wurden. Bei mir hat das Mitleid geweckt. Denn was können Barrikaden schon gegen Panzer ausrichten? Auf dem Platz waren viele ältere Leute, alle waren unbewaffnet… Ich dachte, wenn sie das Weiße Haus stürmen, dann reicht eine Bewegung mit dem kleinen Finger, und von uns bleibt nur ein feuchter Fleck."
    Vier Monate später wurde die Sowjetunion aufgelöst
    Die Menschen redeten mit den Soldaten. Boris Jelzin, damals Präsident der Russischen Teilrepublik und glühender Reformer, stieg auf einen Panzer. "Da das Fernsehen mir keinen Raum gibt, das Radio auch nicht, verlese ich hier eine Erklärung. In der Nacht vom 18. auf den 19. August 1991 wurde der legal gewählte Präsident des Landes der Macht enthoben. (...) Wir rufen die Soldaten auf, als Bürger Verantwortung zu zeigen und sich nicht an dem reaktionären Umsturz zu beteiligen."
    Die Lage spitzte sich zu. In der Nacht auf den 21. August kamen drei Demonstranten ums Leben. Danach, um fünf Uhr morgens, befahl Dmitrij Jazow, Verteidigungsminister der Sowjetunion und einer der Putschisten, überraschend, das Militär aus der Hauptstadt abzuziehen. Am Tag darauf kehrte Gorbatschow nach Moskau zurück. Die Putschisten wurden festgenommen und viele von ihnen zu langen Haftstrafen verurteilt. Einer beging Selbstmord. Vier Monate später wurde die Sowjetunion aufgelöst.
    Sonderausstellung im Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg
    Weshalb der Putsch scheiterte, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Der Historiker Dmitrij Puschmin sieht es so: "Ich möchte gern denken, dass die Menschen auf beiden Seiten des Konflikts im August 1991 den Wert des menschlichen Lebens schätzten und niemand den schrecklichen Befehl zum Blutvergießen erteilen wollte. Und dann war da natürlich die riesige Zahl von Menschen, die auf den Plätzen waren. Wenn damals nicht Zigtausende zum Weißen Haus gekommen wären, hätten die Putschisten gesiegt."
    Dmitrij Puschmin arbeitet im Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg. Das Museum wurde letztes Jahr eröffnet und erinnert an Russlands ersten Präsidenten. Zum Jahrestag des Augustputsches zeigt es eine Sonderausstellung mit Fotografien der Menschen, die damals in Moskau und anderen Städten gegen den Putsch demonstrierten.
    Das Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg
    Das Jelzin-Zentrum in Jekaterinburg (Deutschlandradio/Gesine Dornblüth)
    "Die drei Tage waren erstaunlich glücklich"
    Doch außer in Jekaterinburg erinnern in Russland nur wenige Veranstaltungen an das Geschehen vor 25 Jahren. Der gescheiterte Putsch passe nicht in die offizielle Linie der russischen Regierung, erläutert die Moskauer Politologin Jekaterina Schulman: "Einerseits haben die Ereignisse 1991 den Grundstein für die russische Staatlichkeit gelegt. Da kann man nicht einfach sagen, es wäre besser gewesen, wenn die Putschisten gesiegt hätten. Andererseits fühlen sich unsere jetzigen Machthaber den damaligen Putschisten näher als den Bürgern, die Widerstand leisteten. Der Erhalt der bestehenden Ordnung, der Versuch, unausweichliche Veränderungen aufzuhalten – das sind Positionen, in die unsere Politiker heute sich leicht hineinversetzen können."
    Die Freundinnen Anja und Katja denken mit Wehmut an den August 1991 zurück. "Die drei Tage waren erstaunlich glücklich. Wir waren überzeugt, dass alles gut wird; dass die Sowjetunion einen Grabstein bekommt, mit der Inschrift 1917 bis 1991. Dass ein ganz anderes Leben beginnt. Wie dumm wir waren. Wie naiv. 25 Jahre später haben die reaktionären Kräfte mit Pauken und Trompeten gewonnen."