Freitag, 29. März 2024

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25 Jahre Genscher-Rede in Prag
"Zurückgehen wollte von uns keiner"

Vor 25 Jahren teilte Bundesaußenminister Genscher den DDR-Flüchtlingen in der deutschen Botschaft in Prag mit, dass sie in die BRD ausreisen dürfen. Christian Bürger war damals Sprecher der Flüchtlinge. Im DLF-Interview erinnert er sich an vierstöckige Betten und einen Campingplatz im Botschaftsgarten.

Christian Bürger im Gespräch mit Bettina Klein | 30.09.2014
    1989: Wie Tausende weitere ausreisewillige DDR-Bürger harren die beiden Frauen mit ihren Kindern vor der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aus.
    1989: Wie Tausende weitere ausreisewillige DDR-Bürger harren die beiden Frauen mit ihren Kindern vor der Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aus. (picture-alliance / dpa)
    Der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) steht am Mittwoch (30.09.2009) auf dem berühmten Balkon der Deutschen Botschaft im tschechischen Prag.
    Der ehemalige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) steht auf dem berühmten Balkon der deutschen Botschaft in Prag. (picture alliance/dpa/ZB/Ralf Hirschberger)
    "Aus einer kleinen Flucht ist eine regelrechte Fluchtbewegung geworden", sagte Bürger. Er war einer der ersten DDR-Flüchtlinge in der deutschen Botschaft. Bei seiner Ankunft sei ihm von einem Botschaftsangestellten direkt gesagt worden, dass es keine Garantie für eine Ausreise in die BRD gebe.
    Die Eindrücke vom Abend des 30. Septembers 1989, an dem Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher die historischen Worte: "Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise ..." sprach, seien ihm sofort wieder präsent, sagte Bürger. "Es ist schon ein Gänsehaut-Feeling."
    Den Menschen sei sofort klar gewesen, dass Genscher ein Ja zur Ausreise ankündigen wollte, auch wenn der Rest des Satzes im Jubel der Masse untergegangen sei. Der Politiker habe mit seinem ersten Satz schon einen Hinweis darauf gegeben, sagte Bürger. "Er sagte zu uns: 'Im Namen der Bundesregierung begrüße ich Sie als Deutsche unter Deutschen."
    Bürger kritisierte, dass die Ereignisse in der DDR heute nicht ausreichend gelehrt werde: "Ich finde es unglaublich traurig, dass die deutsche Geschichte aus dieser Zeit teilweise vollkommen verklärt wird und teilweise gar nicht gelehrt wird."

    Bettina Klein: Es waren gänsehautträchtige Momente, die Millionen Menschen wohl vor den Fernsehern am Abend des 30. September _89 erlebten und die sie mit Tausenden Menschen in der bundesdeutschen Botschaft in Prag teilten.
    Ja, in jenem Sommer sprach das Land in anderem Sinne über Flüchtlinge, über jene nämlich, die aus der DDR zu Tausenden über die inzwischen nur noch wenig gesicherten Grenzen zur Tschechoslowakei und Ungarn gen Westen strömten.
    Hunderte hatten sich im Laufe des Sommers auf das Gelände der deutschen Botschaft in Prag begeben, wo ihnen an jenem Abend nach Wochen und Monaten des Wartens der damalige Außenminister Genscher die Ausreise in die Bundesrepublik zusichern wollte - eine Nachricht, die er genau genommen gar nicht überbringen konnte, denn der Satz ging unter in Jubelschreien Tausender Menschen.
    Der Chemnitzer Christian Bürger war damals auch mit dabei. Er war einer der ersten Flüchtlinge, die sich in die bundesrepublikanische Botschaft in Prag abgesetzt hatten. Wir erreichen ihn heute Morgen in Prag, wo er heute auch an den Gedenkfeiern teilnehmen wird. Ich grüße sie, Herr Bürger.
    Christian Bürger: Guten Morgen!
    "Die Eindrücke von damals, die sind sofort wieder präsent
    Klein: Wie ist das für Sie, jetzt nach genau 25 Jahren wieder in Prag zu sein?
    Bürger: Ja das ist natürlich sehr bewegend und auch aufregend, und die Eindrücke von damals, die sind sofort wieder präsent. Das ist schon Gänsehaut-Feeling.
    Klein: Standen Sie jetzt zum ersten Mal wieder an der Botschaft, oder waren Sie vorher schon öfter da und haben sich das in den vergangenen 25 Jahren noch mal angeguckt?
    Bürger: Nein. Ich bin an und für sich alle fünf Jahre immer zu den Jubiläen eingeladen von der deutschen Botschaft und war das letzte Mal zum 20-Jährigen hier, und trotzdem, auch wenn man alle fünf Jahre hier herkommt, ist es trotzdem wieder unglaublich bewegend.
    Klein: Wie sind Sie damals über die Grenze und in die Botschaft gelangt? Wie war das, da hineinzukommen?
    Bürger: Für mich war das noch einmal etwas schwieriger, da ich keinen Ausweis mehr hatte. Die Stasi hatte mir den Ausweis bereits entzogen, weil ich in politischer Haft gewesen bin. Ich musste bei Nacht und Nebel über die grüne Grenze von der DDR in die CSSR flüchten und dann von der CSSR aus mich durchschlagen nach Prag.
    Und hier in Prag war es natürlich dann so, dass ich absolut nicht wusste, wo die deutsche Botschaft ist, und habe dann versucht, ein Taxi zu chartern - die haben uns nicht gefahren zu dem Zeitpunkt - und habe dann Gott sei Dank ein westdeutsches Ehepaar getroffen, die mir den Weg gewiesen haben.
    Klein: Und Sie waren der Erste oder einer der Ersten dort?
    Bürger: Ich war einer der Ersten. Als ich reinkam, waren wir circa knapp 40 Leute.
    Klein: Und wie war das? Wie sind Sie aufgenommen worden dort?
    Bürger: Ja, wir sind herzlich aufgenommen worden. Allerdings hat der damalige Mitarbeiter der Botschaft, der Hans-Joachim Weber, uns von vornherein schon klar machen müssen, dass sie uns keine Garantie geben können, ob das, was wir vorhaben, gelingen kann. Dazu gab es Bemühungen von der Bundesregierung mit der DDR.
    Allerdings, wie gesagt, es gab da keine Zusicherung.
    Wir hatten nur das Glück, dass wir nach dem Sinne des Grundgesetzes als Deutsche galten und demzufolge dem deutschen Grundgesetz ebenso unterlagen wie ein Bundesbürger und sie uns aufnehmen mussten.
    "Zurückgehen wollte von uns keiner"
    Klein: Sie haben sich schon darauf eingestellt, dass es Wochen oder Monate wird dauern können, aber darauf gehofft, dass am Ende die Ausreise stehen würde, und nicht, dass Sie wieder zurück müssen?
    Bürger: Genau so ist das. Zurückgehen wollte von uns keiner. Das war unser festes Ziel.
    Klein: Herr Bürger, man konnte bereits lesen, Sie hatten zuvor zwei Jahre in der DDR im Gefängnis gesessen. Sie haben es gerade auch angedeutet. Sie waren politischer Häftling, weil ein "Freund" Ihre geplante Republikflucht verraten hatte. Wie blicken Sie heute darauf? Haben sie das für sich verarbeiten können?
    Bürger: Ich persönlich habe das für mich verarbeiten können, ja. Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich auch sehr froh bin, dass ich diesen sogenannten "Freund" nie wieder gesehen oder getroffen habe, weil es dann doch... - Ich bin mir nicht sicher, ob ich dann meine Emotionen im Zaum hätte.
    Klein: Würden Sie sagen, Sie sind fertig geworden damit?
    Bürger: Ja, ich bin fertig geworden damit.
    "Ich war komplett sozial isoliert"
    Klein: Ein Freund hat Sie verraten, was schrecklich gewesen sein muss. Aber wie viel Unterstützung haben Sie denn sonst bei Ihren Mitbürgern insgesamt gespürt, das Land verlassen zu wollen?
    Bürger: Ich habe gar keine... - In der DDR, meinen Sie?
    Klein: Ja.
    Bürger: Da habe ich gar keine Unterstützung verspüren können, weil jeder Angst hatte, vor dem anderen verraten zu werden. Das Misstrauen war sehr groß. Ich hatte ja nach der Haftentlassung eine Arbeitsstelle zugewiesen gekriegt. Ich musste gewissermaßen Zwangsarbeit leisten. In der Firma zum Beispiel, oder auch im Wohnumfeld war ich absolut komplett sozialisoliert.
    Klein: Das heißt, die Leute haben nicht zu Ihnen gehalten, sondern eher zu denen, die Sie ins Gefängnis gebracht haben?
    Bürger: Nein, das würde ich gar nicht mal so sehen. Heute betrachte ich das aus der Warte: Die Leute waren beschäftigt damit, nicht selber ins Visier der Stasi zu geraten, und hatten selber Angst, und daher haben sie den Kontakt vermieden, um nicht da irgendwo mit reinzugeraten, wo sie nicht reingeraten wollten.
    "Den Garten der Deutschen Botschaft in Prag als Campingplatz zweckentfremdet"
    Klein: Sie waren in der Botschaft. Sie waren eine Art Sprecher für die Flüchtlinge. Welche Aufgaben hatten Sie dort? Wie war die Unterbringung dort, am Ende ja für Tausende von Menschen?
    Bürger: Das muss man natürlich alles im zeitlichen Ablauf dieser Botschaftsbesetzung sehen. Am Anfang waren wir noch in Nebengebäuden der Botschaft auf dem Gelände der Botschaft untergebracht, hatten dort ein paar Doppelstockbetten und Toiletten. Es war alles okay.
    Im Laufe der Zeit, als aus dieser kleinen Flucht eine regelrechte Fluchtbewegung wurde, dann wurde es natürlich zunehmend enger und das Rote Kreuz hat dann große Zelte geliefert, die wir aufgebaut haben im Garten. Wir haben dann den Botschaftsgarten natürlich zweckentfremden müssen als Campingplatz sozusagen und haben dort große Mannschaftszelte des Roten Kreuzes aufgebaut, und die nächsten Flüchtlinge, die dann kamen, die wurden in diesen Zelten eingewiesen.
    Zunächst waren es Doppelstockbetten, dann haben wir noch ein Stockwerk oben draufgesetzt und ganz am Ende war es natürlich so, dass wir selbst auf den Treppen in der Botschaft die Leute untergebracht haben zum Schlafen. Im Gang zum Tor auf die Straße raus standen Betten, vier Stock hoch, und auf Baugerüsten und anderen Dingen haben die Leute geschlafen.
    Ich hatte die Aufgabe, dort die Registratur der neu ankommenden Flüchtlinge vorzunehmen, die Verpflegungsbesorgung und so weiter, dass ich jeden Tag aufgenommen habe, was die Leute benötigen, welche Sorgen sie haben und welche Wünsche und habe das dann Abends immer mit dem Botschaftsmitarbeiter, dem Herrn Weber besprochen. Wir haben Listen angefertigt und er hat dann versucht, das am nächsten Tag alles zu besorgen, Decken, Schlafsäcke, was weiß ich, Monatsbinden für Frauen oder Rasierapparate für Männer etc.
    Es gab natürlich auch hin und wieder mal kleine Reibereien unter den Flüchtlingen und dann haben wir halt geschlichtet.
    Klein: Herr Bürger, dann kam der Abend heute vor genau 25 Jahren. Hans-Dietrich Genscher trat im Halbdunkel auf den Balkon, und viele haben sich ja gefragt, woher wussten die Flüchtlinge im Garten eigentlich, dass er nicht jetzt sagen würde, ihre Ausreise wurde abgelehnt. Wie waren diese Sekunden? Woran hat man das genau erkannt, dass das jetzt eine gute Nachricht war oder werden wird?
    Bürger: Na ja, zunächst muss man natürlich sagen, dass dieser Satz der wirklich unvollständigste Satz in der Geschichte ist, der jemals millionenfach über die Bildschirme gelaufen ist. Herr Genscher hat vorher schon gesprochen. Zum Beispiel der erste Satz, den er gesagt hat, war eigentlich für uns schon ausschlaggebend. Er sagte zu uns, im Namen der Bundesregierung begrüße ich Sie als Deutsche unter Deutschen, und das war schon ein aussagekräftiger Satz, den er da gebracht hat.
    Klein: Und da erkannte man die Tendenz, das wird jetzt für Sie gut ausgehen?
    Bürger: Man konnte das erkennen, auch indem er dann sagte, dass er vor 53 Jahren genau diesen Weg, den wir heute gehen, auch gegangen ist. Das ist auch so ein Schlüsselsatz gewesen.
    Klein: Er kommt selbst aus Halle.
    Bürger: Ja, richtig. Er kommt aus Halle an der Saale. Das waren natürlich alles so Schlüsselsätze, die die Flüchtlinge natürlich sofort entsprechend gewürdigt haben und auch für sich positiv eingeordnet haben.
    "Mangelnde Kenntnisse über DDR-Geschichte ist unglaublich traurig"
    Klein: Herr Bürger, wenn Sie das Gedenken heute sehen, wenn Sie auch auf die 25 Jahre zurückschauen, teilweise junge Leute, die nicht so richtig wissen, wer eigentlich die Mauer gebaut hat und ob die DDR nun ein demokratisches System war oder nicht, mit welchen Empfindungen blicken Sie darauf?
    Bürger: Ich finde das unglaublich traurig, dass die deutsche Geschichte aus dieser Zeit teilweise vollkommen verklärt wird, teilweise gar nicht gelehrt wird.
    Ich war absolut geschockt, als mein Enkel zu mir kam und mir sein Geschichtsbuch zeigte und dort ganze zwei Seiten über die DDR drinstanden. Da habe ich gedacht, das kann nicht wahr sein.
    Andererseits weiß ich natürlich, dass teilweise an den Schulen gerade hier in den neuen Bundesländern noch Lehrer tätig sind, die damals selbst auch schon Lehrer waren, und vielleicht gar nicht so intensiv auf das Thema eingehen wollen. Könnte ja sein, dass einer der Schüler mal die Frage stellt, ja was haben Sie denn damals gemacht, wo waren Sie denn, in der Opposition oder systemtreu, und das wollen vielleicht manche Lehrer überhaupt nicht beantworten, diese Frage.
    Klein: Christian Bürger, er war damals einer der DDR-Flüchtlinge, die es in die bundesdeutsche Botschaft in Prag geschafft hatten und heute vor 25 Jahren die Ausreise in die Bundesrepublik dann genehmigt bekamen. Ich danke Ihnen für das Gespräch und für Ihre Eindrücke heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk, Herr Bürger. - Und vielleicht ein Hinweis noch auf "Arte". Dort sehen Sie um 20:15 Uhr die Dokumentation "Zug in die Freiheit", wo er auch eine Rolle spielen wird.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.