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25 Jahre Mauerfall
"Die Mauer im Kopf ist immer noch da"

In vielen Städten Ostdeutschlands sei die Wiedervereinigung nicht so gut gelaufen, sagte der britische Historiker Frederick Taylor im Deutschlandfunk. In den Köpfen der Deutschen sei die Mauer deshalb noch vorhanden. Taylor bezeichnete die DDR zudem als Unrechtsstaat, "darüber gebe es keine Diskussion".

Frederick Taylor im Gespräch mit Anne Raith | 03.10.2014
    Silvester 1989 in Berlin
    Silvester 1989 in Berlin - Feier auf der Mauer (dpa / picture-alliance / Wolfgang Kumm)
    Angesprochen auf die Diskussion in Deutschland, ob man die DDR einen Unrechtsstaat nennen dürfe, sagte der britische Historiker: Es sei klar, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei. Für ihn sei jede Diktatur ein Unrechtsstaat und das sei die DDR gewesen, da gebe es für ihn keine Diskussion drüber. Die Diskussionen in Deutschland seien Reste der Geschichte.
    Berlin habe als geteilte Stadt viel gelitten. Man solle ein paar Sachen der Mauer zur Erinnerung stehen lassen, aber nicht zu viel. Hier und da sei die Mauer aber noch in den Köpfen der Deutschen. Vor 15 Jahren sei dieses Gefühl aber viel stärker gewesen, denn nun komme eine komplett neue Generation und auch die Älteren hätten sich irgendwie mit der Wiedervereinigung arrangiert.
    In vielen Städten Ostdeutschlands sei die Wiedervereinigung allerdings nicht so gut gelaufen, etwa in Halle, Saale und Bitterfeld. Und da sei noch mehr die Mauer im Kopf vorhanden. Taylor zeigt dafür im Interview mit dem DLF Verständnis.
    Die Haltung seiner britischen Landsleute sei gegenüber Deutschland zwiedeutig gewesen. Man habe die Teilung relativ gerne angenommen, was für ihn als Engländer sehr interessant gewesen sei. Er selbst habe die Deutschen mit viel Mitgefühl betrachtet, weil er auch viel nach Deutschland gereist sei.
    Die britische Premierministerin Margret Thatcher sei vor der Wiedervereinigung ziemlich nervös gewesen; sie sei in den 20er-Jahren geboren worden. Sie habe versucht, die Vereinigung zu verhindern. Ihre Meinung sei von vielen seiner Landsleuten geteilt worden. Die Angst vor der Wiedervereinigung sei aber heute verschwunden. Er halte das, sagte Taylor im DLF, für eine sehr beherzte Entwicklung.

    Das Interview in voller Länge:
    Anne Raith: Historische Gedenktage gibt es in Deutschland einige, Nationalfeiertage nur diesen einen – den Tag der Deutschen Einheit, der an diesem heutigen 3. Oktober begangen wird. Die offizielle Feier richtet das Bundesland aus, das gerade den Vorsitz im Bundesrat hat, und so wird in diesem Jahr also in Hannover gefeiert.
    Der 3. Oktober war und ist nicht unumstritten als Datum für eben jene deutsche Einheit, weil an diesem Tag in gewisser Weise nur Vollzug gemeldet wurde. Der Vollzug eines Prozesses, der schon im Oktober des Vorjahres begonnen hatte, in Leipzig, als Zehntausende Menschen auf die Straße gingen – ein Wendepunkt. Vier Wochen später fiel dann die Mauer. Von dieser Mauer hörte der britische Historiker Frederick Taylor das erste Mal kurz nach ihrem Bau, im Fernsehen. Später sollte sie dann zu einem seiner Forschungsschwerpunkte werden.
    In seinem Buch erzählt er deren Geschichte, vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989.
    Nach diesem ersten Fernsehbericht sollte es weitere vier Jahre dauern, bis Frederick Taylor selbst dann vor eben jener Mauer stand. Im Interview erinnert er sich an diesen Moment:
    Frederick Taylor: Also, das war im Sommer 1965, ich war 17 Jahre alt, kam aus einer Kleinstadt in England. Ich hatte das alles im Fernsehen gesehen, so ein bisschen Mauer und so, aber da eigentlich vor der Mauer, vor diesem hässlichen Bau zu stehen und die Wachtürme und die Leute in Uniform und so, das war ein großer Schock für mich. Das war so eine böse Einführung in die große Welt der Politik des Kalten Krieges, und das war nicht schön.
    Dimension der Mauer war eine böse Überraschung für mich
    Raith: Waren Ihnen die Dimensionen dessen, was Sie sahen, damals schon bewusst?
    Taylor: Ja. Man sieht das im Fernsehen. In den 60er-Jahren waren die Fernsehgeräte nicht groß, ja? Ich meine, der Bildschirm war klein. Aber das zu sehen, wie das alles Kilometer nach Kilometer von diesem Blockbau mit Stacheldraht und so – die Dimension, wie Sie sagen, die war eine Überraschung und eine böse Überraschung für mich.
    Raith: Das Interesse an der deutsch-deutschen Geschichte ist Ihnen geblieben. Heute forschen Sie zur deutsch-deutschen Geschichte. Was fasziniert Sie an diesem Kapitel?
    Taylor: Die Teilung Deutschlands war natürlich für mich Tatsache. Ich wurde '47 geboren, also ich bin aufgewachsen mit einem geteilten Deutschland, wusste aber durch meine Studien, dass Deutschland in der Vergangenheit nicht geteilt wurde – also, das war ein großes Land, und dass es jetzt künstlich in zwei gehauen wurde, also nach dem Krieg, war für mich sehr interessant.
    Ich habe mir vorgestellt, wie es wäre, wenn es in unserem Land, also das heißt, in England, der Fall gewesen wäre. Und die Ungewöhnlichkeit und das Drama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert überhaupt schien mir also durch die Teilung Deutschland und das Vorhandensein der Mauer so irgendwie – das war ein Symbol dafür. Ich fand das unheimlich interessant.
    Ich sah die Deutschen mit viel Mitgefühl
    Raith: Würden Sie sagen, dass Sie natürlich trotz Ihrer wissenschaftlichen, trotz Ihrer quellenbasierten Annäherung, dass Sie als britischer Historiker einen anderen Blick haben auf die Geschehnisse?
    Taylor: Es kann wohl sein, dass ich – ich bin mir als Engländer sehr bewusst, dass die Haltung meiner Landsleute Deutschland gegenüber, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg zwiespältig war. Und das hat mich unwahrscheinlich interessiert. Die Haltung der Engländer Deutschland gegenüber hat mich sehr interessiert. Und was ich interessant fand, war, dass man die Teilung eigentlich relativ gern angenommen hat, also nach dem Kriege. Das war für mich als Engländer besonders interessant.
    Und ich sah die Deutschen mit viel Mitgefühl. Mehr als die meisten meiner Landsleute, weil ich so viel in Deutschland gewesen war, in den 60er- und 70er-Jahren vor allen Dingen.
    Und ich glaube, ich kann so hier ein bisschen beitragen. Man hat immer ein bisschen Sachlichkeit – das war nicht eigentlich, auch wenn die Deutschen England betrachten, dass sie auch ein bisschen mehr Sachlichkeit zur Sache bringen.
    Briten hatten Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland
    Raith: Wie hat sich denn die Debatte, Sie haben es geschildert, gerade die britische Premierministerin war damals gegen eine Wiedervereinigung – wie hat sich diese Debatte in Großbritannien verändert in den letzten 20, 25 ja inzwischen, Jahren?
    Taylor: Frau Thatcher war natürlich ziemlich nervös. Sie war also in den 20er-Jahren geboren, ist erst als Teenager in Kriege und hat natürlich viel über die bösen Deutschen erfahren. Und sie und ein bisschen auch der Präsident Mitterand von Frankreich haben ja Ängste gehabt natürlich über die Wiedervereinigung – also noch 17 Millionen Deutsche mehr in der Waage in Europa. Und sie hat versucht, es irgendwie zu verhindern.
    Ihre Meinung war, würde ich sagen, vor 25 Jahren, von vielen meiner Landsleute geteilt, das heißt, die hatten Angst vor einem wiedervereinigten Deutschland.
    Ich glaube, im letzten Vierteljahrhundert ist das in der Tat nicht mehr so wichtig bei uns. Ich meine, man hat so seine Meinungen über die deutsche Politik, die deutsche Wirtschaft und so weiter, aber gerade dass man bei einer Wiedervereinigung Deutschlands eine Gefahr sieht für den Frieden oder so was, das ist, würde ich sagen, fast völlig verschwunden, außer ein paar Exzentriker. Und das ist für mich eine sehr beherzende Entwicklung.
    Für mich ist jede Diktatur ein Unrechtsstaat
    Raith: Vielleicht hilft Ihr Blick von außen ja auch in einer Debatte, die Deutschland derzeit einmal mehr beschäftigt. Hier wird derzeit die Frage diskutiert, ob die DDR als ein Unrechtsstaat bezeichnet werden darf.
    Taylor: Ja, ich habe von Gregor Gysi und so – ja, die haben darüber gesprochen. Das ist ein intelligenter und interessanter Mann, aber hier – das ist Quatsch. Natürlich war es ein Unrechtsstaat. Ich meine, damals wurde auch die Menschen in diesen Provinzen von Deutschland, die von den Sowjets besetzt wurden nach dem Krieg, das wurde auf die gezwungen. Das waren keine freien Wahlen, das war keine Meinungsfreiheit. Da war keine freie Wirtschaft – natürlich war das ein Unrechtsstaat.
    Für mich, ich muss sagen, ich bin Demokrat, für mich ist jede Diktatur ein Unrechtsstaat, und das ist es, das war es – da gibt es keine Argumentation drüber.
    Raith: Was sagt das denn über den Stand der deutsch-deutschen Aufarbeitung aus, wenn wir auch 25 Jahre danach noch über solche Termini diskutieren?
    Taylor: Das sind diese Reste von der Geschichte. Ich würde sagen, es gibt Marxisten in England, die auch so sagen würden, dass wir keine richtige Demokratie haben. Ich verstehe, warum die Marxisten so argumentieren, aber ich teile diese Meinung nicht.
    Ein paar Mahnmale, ja, aber zu viel nicht
    Raith: Sie haben gesagt, das sind Reste der Geschichte. Von der Mauer als Rest ist nicht viel geblieben im Stadtbild Berlins. Ist das gut so, oder fehlt sie, als Mahnmal der Geschichte sozusagen?
    Taylor: Ja, es gibt kleine Mahnmale. Ich meine, Berlin ist eine Großstadt, und die musste 40 Jahre so leiden als geteilte Stadt. Ich habe viel darüber nachgedacht, eigentlich, und ich bin zum Schluss gekommen, dass man eigentlich natürlich ein paar Sachen zum Andenken da bleiben lassen soll, aber im Grunde muss man zur wiedervereinten Großstadt, wiedervereinigten Hauptstadt – das soll, wie andere Städte auch, nur eine Stadt sein. Ein paar Mahnmale, ja, aber zu viel nicht. Man kann das zu weit treiben, finde ich.
    Mauer im Kopf ist noch da
    Raith: Wie spürbar, würden Sie sagen, und da kommt dann ein Ausdruck, der schon ein bisschen zur Plattitüde geworden ist, aber wie spürbar ist die Mauer in den Köpfen der Deutschen noch, für Sie, mit dem Blick von außen?
    Taylor: Hier und da. Ich bin also seit 2000 viel in den sogenannten neuen Bundesländern gewesen, und das war vor 15 Jahren viel stärker, dieses Gefühl. Da kommt eine ganze neue Generation, und die Leute, auch die, die älter sind, haben sich irgendwie arrangiert mit der ganzen Sache. Es ist in einigen Städten, denen es vielleicht nicht so gut gegangen ist seit der Wiedervereinigung, fühlt man das, da ist viel Verklärung, auch diese Ostalgie, weil für viele Leute in diesen Städten, die sich nicht so – in Leipzig, Dresden, findet jedermann, und auch für die meisten in Berlin war die Wiedervereinigung eine gute Sache, aber für andere Städte, Halle, Saalfeld, Bitterfeld und so war das nicht so der Fall.
    Also da findet man mehr diese Mauer noch im Kopf, und das kann man auch gut verstehen, weil das Leben für viele Leute, in mancher Hinsicht, war für einige Leute im Osten besser, als sie jetzt ist. Aber für die meisten, würde ich sagen, ja. Nein, da hat sich viel verändert in den letzten zehn, fünfzehn Jahren. Ich finde, die Mauer ist noch da, im Kopf sozusagen, aber sie wird immer kleiner.
    Raith: Welche Rolle, würden Sie denn sagen, spielen denn Gedenktage wie jetzt der Tag der Deutschen Einheit.
    Taylor: Es ist gut. Ich meine, das ist das Ende dieser Diktatur, das man hier feiert, und auch ein einfaches, wie soll man sagen, "happy birthday" für das moderne Deutschland. Und das finde ich gut so.
    Raith: Der britische Historiker Frederick Taylor über seine Erinnerungen an die Mauer und wie viel von ihr geblieben ist. Ihre Geschichte hat er in seinem Buch "The Berlin Wall. Die Mauer" aufgearbeitet. Und noch ein Hinweis in eigener Sache. Der Deutschlandfunk überträgt den Festakt zum Tag der Deutschen Einheit ab 12 Uhr live aus Hannover, und ab 14:05 hören Sie dann eine Sonderausgabe des "DLF-Magazins". Wir diskutieren über "Deutsche Einheit – Einheit Deutschlands? 25 Jahre nach dem Mauerfall".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.