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25 Jahre nach Solinger Brandanschlag
Muslimische Notfallbegleiter: Niemanden hilflos zurücklassen

Im Mai 1993 steckten vier Neonazis in Solingen das Haus einer türkischen Familie in Brand. Fünf Menschen starben. Dass es heute in Solingen muslimische Notfallbegleiter gibt, hat indirekt auch mit dem Brandanschlag vor 25 Jahren zu tun.

Von Thilo Schmidt | 29.05.2018
    Die muslimische Notfallbegleiter aus Solingen stehen in violetten Westen vor einem Rettungswagen
    Emine Kaya (links) und ihre Kolleginnen und Kollegen begleiten in Solingen Muslime in Notfällen (Deutschlandradio / Thilo Schmidt)
    Solingen, im vergangenen Sommer. Ein 36-Jähriger begeht Selbsttötung. Die Polizeibeamten vor Ort stellen fest, dass der Mann Türke ist. Sie informieren die Leitstelle, dort sind die Kontaktdaten der muslimischen Notfallbegleiter hinterlegt. Dann klingelt bei Emine Kaya das Telefon.
    "Und dann haben die mich abgeholt, von zu Hause, da bin ich dann hingefahren, und da war eine türkische Familie - der Sohn, der war gerade 36, hatte sich das Leben genommen. Und da wusste ich dann ganz genau, wie ich der Familie entgegenkommen kann. Also die richtigen Schritte machen kann. Und ich habe dann auch dementsprechend der Familie in Ruhe auch in bestimmter Art und Weise die Nachricht überbracht. Die Kriminalpolizei, die hat sich wirklich hinter mir gehalten und gesagt: Frau Kaya, Sie machen das. Sie kennen die Kultur, Sie kennen die Sprache, machen Sie das mal."
    "Ich hab immer diese Lücke gesehen"
    Emine Kaya beruhigt in Fällen wie diesen die geschockten Angehörigen. Dann spricht sie ein muslimisches Gebet:
    "Wir sind vom Schöpfer gekommen und werden auch zum Schöpfer zurückgehen."
    Dazu, sagt die 47-Jährige, seien Trauernde oftmals nicht in der Lage. Emine Kaya gehörte 2010 zu den Mitbegründern der muslimischen Notfallbegleiter. Nachdem sie immer öfter christliche Notfallseelsorger um sich herum sah.
    "Und dann hab ich mir da immer Gedanken gemacht: Warum gibt es das für die Muslime nicht? Obwohl ich weiß, dass die muslimischen Familienangehörigen eher bei so einem Fall, bei einem Todesfall, eher zu der Familie stehen. Immer zusammenkommen. Aber ich hab immer diese Lücke gesehen, dass es da doch noch welche gibt, die Hilfe von außen benötigen."
    Niemanden zurücklassen
    Die Notfallbegleiter sind an die Leitstellen von Polizei und Feuerwehr angebunden. Dort sind alle Kontaktdaten hinterlegt. Bei Bedarf alarmieren Polizei oder Feuerwehr die Freiwilligen, holen sie mit Einsatzfahrzeugen ab. Zum Beispiel, wenn eine mutmaßlich muslimische Familie in einen Verkehrsunfall mit Todesfolge verwickelt ist.
    "Dann wird das von den Kollegen erkannt …"
    Jürgen Rüttgers, Abteilungsleiter Rettungsdienst der Solinger Feuerwehr.
    "… und die geben über die Feuerwehrleitstelle dann die Meldung: Wir brauchen an der Einsatzstelle Notfallbegleitung, muslimische Notfallbegleitung. Alles weitere wird von den Kollegen in der Feuerwehrleitstelle organisiert, dann wird angerufen, die Nummern und die ganzen Kontakte sind in der Leitstelle hinterlegt, und der Notfallbegleiter, der sich dann meldet und im Dienst ist, bekommt alle Informationen, was ist passiert, kriegt die Situation geschildert, begibt sich dann dort hin und wird dann dort tätig."
    Die Notfallbegleiter sind erkennbar an ihren violetten Warnwesten. Dass auch nicht körperlich Verletzte Hilfe bekommen, ist auch für alle Einsatzkräfte wichtig, sagt Rüttgers.
    "Dass man also niemanden hilflos zurücklassen muss. Dass ich weiß, auch wenn ich die Einsatzstelle verlasse, dass dort die zurückgebliebenen Personen auch Hilfe bekommen. Das ist einfach für jede Einsatzkraft wichtig. Weil der Einsatz vollumfänglich abgearbeitet werden soll. Ich lasse also niemanden zurück. Das ist einfach vom Ganzen, vom Selbstverständnis des Einsatzes fundamental wichtig."
    Seelsorge und Leichenwaschung
    Ein Treffen der Notfallbegleiter im Schulungsraum der Feuerwache. Ein Vertreter der Stadt ist gekommen, einige Medienvertreter, eine Vertreterin der Christlich-Islamischen Gesellschaft aus Köln, die die Notfallbegleiter auch zertifiziert hat. Emine Kaya erzählt von ihren Erfahrungen, zum Beispiel, wenn sie eine Todesnachricht überbringen muss.
    "Es kommt schon mal vor, dass dann wirklich Übermengen von Personen in einem Raum sind. Da ist dann natürlich diese richtig betroffene Person, die richtig in Trauer ist, dass die dann wirklich nicht weiß, was jetzt. Einer redet von da, einer von da. Und weil wir die Kulturen kennen und damit umgehen können, ist es dann so, dass wir dann auch wirklich besser und gezielter eingreifen können und sagen: Stopp, hier nicht, erstmal hier den Raum verlassen, dass wir dann mit den Betroffenen alleine sind. Dass wir dann gezielt mit diesen Personen sprechen können und die unterstützen können."
    Emine Kaya beherrscht auch die Leichenwaschung. Man muss dazu "seelisch sehr stark" sein, sagt die Medizinische Fachangestellte. Nach islamischem Ritual müssen Leichenwaschung und Beerdigung 24 Stunden nach dem Tod erfolgen, bei Unglücksfällen geht das aber erst nach der Freigabe der Leiche durch die Behörden.
    1993, als in Solingen fünf türkische Mädchen und Frauen bei einem rassistischen Brandanschlag starben und 17 Menschen teilweise schwer verletzt wurden, gab es keine muslimischen Notfallbegleiter. Dass es sie heute gibt, ist zwar keine direkte Folge des Anschlags, aber ohne ihn - in Solingen – auch nicht zu erklären.
    "Ich hab da eine Tür zum Öffnen. Also das ist jetzt nicht direkt damit verbunden, aber in indirekter Form, dass man dann sagen kann: Da ist jemand, da ist was, ich kann da zurückgreifen, wenn ich da wirklich nicht weiter weiß, dass man mich dann unterstützt. Ich habe eine Hilfe da."
    Viele Türken in Solingen bewachten nach dem Anschlag die ganze Nacht ihre Häuser, anstatt zu schlafen. Kauften sich Strickleitern, um im Zweifel das brennende Haus verlassen zu können. Für die Ausländer in Solingen war mit diesem Tag klar: Wir sind in Gefahr. Bis heute ist das Trauma nicht vergangen.