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25 Jahre Wiedervereinigung
Aus der Sicht von Migranten

In den ersten Jahren nach der Wende wurden in mehreren Orten Asylbewerberheime und Migranten von Rechtsextremisten angegriffen. Aus Angst vor Rassismus nahmen viele Migranten keine Jobs in den neuen Bundesländern an - denn die Befürchtung, dort Opfer von Gewalt zu werden, war größer.

Von Kemal Hür | 02.10.2015
    Mit einem Feuerwerk am Brandenburger Tor in Berlin feierten rund eine Million Menschen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die deutsche Wiedervereinigung.
    Mit einem Feuerwerk am Brandenburger Tor in Berlin feierten rund eine Million Menschen in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 die deutsche Wiedervereinigung. (picture alliance / Andreas Altwein)
    In den ersten Wochen und Monaten nach dem Fall der Berliner Mauer wurde in Ost und West viel darüber diskutiert, ob die beiden deutschen Staaten wiedervereint oder weiter nebeneinander existieren sollen. Auf einer Podiumsdiskussion sagte Safter Cinar dazu, die Deutschen in Ost und West sollten frei entscheiden, in welchem Staatskonstrukt sie leben wollten. Eine Studentin reagierte entsetzt, erinnert sich Cinar.
    "Die war so was von erbost. Sie hat mich beschimpft: 'Sie als Ausländer müssen sich schämen. Sie wollen sich hier bei den Deutschen einschleimen.' Sie hat mir keine Gelegenheit gegeben, meinen Standpunkt darzulegen. Das war eine interessante Erfahrung."
    Migrant als Verhandlungsführer
    Safter Cinar ist heute 69 Jahre alt und Vorstandsmitglied des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg. Er kam 1967 als Student nach Berlin. Als die Mauer fiel, war er Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Cinar lebte damals schon seit 22 Jahren in Berlin und wurde von einer jungen deutschen Studentin als Ausländer angesehen. Darüber kann er heute noch lachen. Als die Wiedervereinigung beschlossen wurde, spielte der studierte Betriebswirt dabei sogar eine aktive Rolle. Bei der Zusammenführung der Ost- und West-Gewerkschaften war er einer der Verhandlungsführer.
    Ein Jahr nach der Wiedervereinigung leitete Cinar beim Deutschen Gewerkschaftsbund die Beratungsstelle für ausländische Arbeitnehmer. Viele Industriebetriebe in Westberlin wurden geschlossen oder nach Brandenburg verlagert. Die langjährigen nicht-deutschen Mitarbeiter holten sich bei Cinar Rat, ob es sicher wäre, zur Arbeit in den Osten zu fahren. Denn sie hatten Angst vor Rassismus, sagt er.
    "Und da kannst du natürlich wenig Rat geben. Ich weiß aber, dass sich viele entschieden haben, diesen Job in den neuen Ländern nicht anzunehmen, wohlwissend, dass sie in Westberlin aus der Arbeitslosigkeit nicht mehr rauskommen. Aber die Befürchtung für sich und die Familien, in neuen Ländern Gegenstand von Gewalt zu werden, war größer."
    Unqualifizierte Arbeiter ohne Berufsabschlüsse
    Viele Migranten sind arbeitslos geworden, weil sie unqualifizierte Arbeiter ohne Berufsabschlüsse waren, berichtet der Psychologe Kazim Erdogan, der in Berlin-Neukölln die bundesweit erste Selbsthilfegruppe für türkeistämmige Männer gegründet hat. Viele Teilnehmer seiner Gruppe sind Migranten der sogenannten Gastarbeitergeneration.
    "Sie haben 40-45 Jahre lang gearbeitet, haben die Sozialkassen mit Mitteln gefüllt – mit Geld. Sie bekommen 350-400 Euro Rente, können davon nicht leben. Mit anderen Worten: Sie sind eindeutig traumatisiert."
    In der Männer- und Vätergruppe sprechen die 50-70 Teilnehmer einmal pro Woche über ihre Sorgen und Probleme, aber auch über Themen wie Erziehung und Bildung. Kazim Erdogan kann über all diese Themen mit ihnen auch aus eigener Erfahrung sprechen. Der heute 62-Jährige war Lehrer und Schulpsychologe, als die Berliner Mauer fiel. Er unterrichtete Migrantenkinder in sogenannten Vorbereitungsklassen. Diese wurden Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre eigens für ausländische Kinder eingerichtet. Aber um deren Integration hat sich die Politik nicht ernsthaft gekümmert, sagt Erdogan.
    "Sie spielten vor 89 weniger Rolle, weil wir davon ausgegangen sind, die kehren irgendwann mal zurück. Warum soll man für die Gäste viel investieren? Deshalb hat man immer gesagt, Deutschland ist kein Einwanderungsland; wir wollen nicht so viele Migranten. Und dann kam die Wiedervereinigung. Und dann hat man versucht, das Problem zu ignorieren, außeracht zu lassen."
    Reform des Staatsbürgerrechts
    Safter Cinar erinnert sich, dass die gesamte Integrationspolitik mit der Wiedervereinigung zum Stillstand gekommen ist.
    "Wir hatten ja vor der Wende gute Diskussionen über Mehrstaatlichkeit, über kommunales Wahlrecht. Das ist natürlich alles in den Hintergrund gedrängt worden. Weil die Wiedervereinigung mit ihren sozialen, ökonomischen und anderen Fragestellungen so eine Aufgabe war, ist es normal, dass diese Fragen erst mal nicht auf der Tagesordnung standen."
    Etwa zehn Jahre habe dieser Stillstand angehalten, meinen Kazim Erdogan und Safter Cinar. Erst mit der ersten rot-grünen Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder sei die Integrationspolitik wieder in den Mittelpunkt gerückt und das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert worden.