Dienstag, 16. April 2024

Archiv

250. Todestag
"Telemann war zu seiner Zeit der modischste Komponist"

Der Komponist Georg Philipp Telemann sei heute neben Bach und Händel "ein bisschen ins Hintertreffen" geraten, sagte die Flötistin Dorothee Oberlinger im Dlf. Zu seiner Zeit sei er der größte deutsche Barockkomponist gewesen. Im Gegensatz zu Bach habe Telemann eine Leichtigkeit zelebriert.

Dorothee Oberlinger im Gespräch mit Raoul Mörchen | 26.06.2017
    Die Flötistin Dorothee Oberlinger
    Im Jubiläumsjahr hat die internationale Telemann-Gesellschaft Botschafter in die musikalische Welt entsandt - eine davon ist Dorothee Oberlinger. (dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler)
    Raoul Mörchen: Gestern vor 250 Jahren, am 25. Juni 1767, starb in Hamburg Georg Philipp Telemann. Von Zeitgenossen bewundert und als einer der größten Komponisten seiner Zeit auch im Ausland gefeiert und dann doch bald wieder vergessen - vor allem, seit dem im 19. Jahrhundert Johann Sebastian Bach wiederentdeckt wurde und neue Kriterien definiert wurden für Genie und Künstlertum. Nun hat im Jubiläumsjahr die internationale Telemann-Gesellschaft Botschafter in die musikalische Welt entsandt, um diese Schräglage ein wenig zu korrigieren. So stelle ich mir das jedenfalls vor, Dorothee Oberlinger, oder wie verstehen Sie Ihre Funktion als Diplomatin in diesem Telemann-Jahr?
    Dorothee Oberlinger: Ja, also in diesem Jahr möchte ich eigentlich ganz besonders auf den Komponisten hinweisen, erst mal natürlich in meinen Konzerten als Flötistin ist er sehr oft ein Thema. Ich spiele zum Beispiel in Magdeburg jetzt auf dem großen Telemann-Festival, oder auch in Hamburg haben sie ein Telemann-Festival in diesem Jahr extra zum 250-jährigen Todestag ins Leben gerufen, und ein bisschen um PR-Arbeit für ihn zu machen, denn es ist doch tatsächlich so: Er war zu seiner Zeit der größte deutsche Barockkomponist und ist heute eigentlich ein bisschen ins Hintertreffen geraten, neben Bach und Händel ist er ein bisschen zurückgetreten.
    Porträt des Komponisten Georg Philipp Telemann (1681-1767)
    Der Komponist Georg Philipp Telemann (1681-1767) auf einem zeitgenössischen Porträt (imago / Leemage)
    Mörchen: Haben Sie eine Erklärung dafür, wie das gekommen, dass die einen sich nach vorne gedrängt haben und der eine ein bisschen zurückgefallen ist?
    Oberlinger: Ja, das ist vielleicht irgendwie auch eine Modefrage. Er war zu seiner Zeit einfach der modischste Komponist. Vielleicht auch ein Grund, warum die Leipziger ihn dann nach dem Tod von Kuhnau auf dem ersten Platz hatten, als Thomaskantor ihn unbedingt von Hamburg weglocken wollten, und nur weil er ein unglaublich hohes Gehalt angeboten bekam in Hamburg, ist er dann in Hamburg geblieben und nicht Thomaskantor geworden, und man musste mit einem Johann Sebastian Bach vorliebnehmen. Das heißt, Telemann war zu seiner Zeit der modernere Komponist von beiden. Er war ein Homme galant, könnte man sagen. Er hat galante Musik komponiert, die auch melodisch war, die sangbar war. Es war Musik von einem Menschen sozusagen für Menschen und nicht mehr diese Idee einer Harmonia Mundi, also sozusagen der klingenden Göttlichkeit, wo sehr viele Symbole und so weiter verarbeitet sind, eine Musik, wo man Bach dann zu seiner Zeit vorwarf, dass sie zu vertrackt ist, zu kompliziert, zu verdüstert. Telemann hat eben die Leichtigkeit zelebriert und auch geschafft, seine Musik zu seiner Zeit zu vermarkten, und das ist vielleicht das, was dann wiederum nachher im 19., 20. Jahrhundert ihm zum Verhängnis wurde.
    "Telemanns Musik hat auch genauso solche Abgründe"
    Mörchen: Ist das uns ein bisschen suspekt, als ob dem Mann die Tiefe fehlt, eben der Abgrund, vielleicht auch die Möglichkeit des Scheiterns, die Verzweiflung, also all das, was dann definiert wurde als notwendige Eigenschaft des Genies im 19. Jahrhundert, all das fehlte ihm, so ein Sonnyboy eher?
    Oberlinger: Ja, sicherlich ein Sonnyboy, also schon von seiner Art her. Das liest man auch in seinen Autobiografien, dass er sozusagen die Probleme oder den Ärger so ein bisschen weggelächelt hat und Bach hat das nicht gemacht. Also der, wie wir auch wissen, hat sich auch sehr auf Konfrontationen eingelassen und war da auch ein anderer Typ. Es ist die Frage, ob er diese Abgründe trotzdem hatte. Ich denke, in seiner Musik sind sie absolut drin. Es gibt die Großwerke von ihm, auch wenn sie nicht so oft aufgeführt werden, die "Donnerode", die "Betrachtung zur neunten Stunde", den "Messias", "Don Quichotte" und so weiter oder seine "Ino"-Kantate, die er kurz vor seinem Tod noch komponiert hat und die wie ein früher Haydn klingt, also auch diese Stilsache, die er so durchlaufen hat, dadurch, dass er viel älter auch wurde als Bach. All das können wir bei ihm finden, aber, ja, ich finde, seine Musik hat auch genauso solche Abgründe, und das sollen die Leute einfach auch heute wieder erfahren.
    "Er wollte das Hamburger Bürgertum mit Kammermusik beglücken"
    Mörchen: Jetzt können es unsere Hörer nicht sehen natürlich, aber Sie haben zwei Instrumente mitgebracht, die liegen jetzt auf einem dritten Tisch bei uns. Das bietet natürlich an, wenn das überhaupt geht, mal die Probe aufs Exempel zu machen und zum einen zu fragen, wie klingt Telemann und wie anders klingt er als die, die wir mit Barock verbinden, also wie die Italiener zum Beispiel - Corelli, Vivaldi, wie die Deutschen, Händel und Bach, und vor allen Dingen, was spielt man? Konzerte gibt es, wenn man Flöte spielt, von Telemann. Kein Orchester da jetzt bei uns im Studio. Was gibt es stattdessen?
    Oberlinger: Genau. Also ich könnte mal anfangen mit einer Sonate aus dem sogenannten "getreuen Music-Meister". Das war eine Monatszeitschrift, und das zeigt auch wieder Telemanns pädagogischen Willen auch, seine Sachen an den Mann zu bringen. Also er wollte das Hamburger Bürgertum mit Kammermusik beglücken, sie zum Spielen bringen und hat das schlau angestellt, hat dann im ersten Teil der Zeitschrift zwei Sätze der Sonate veröffentlicht, und wenn man wissen wollte, wie die Sonate endet, musste man sich auch die nächste Edition kaufen wie bei einem Groschenroman, und das ist also wirklich spielbare Musik, die eigentlich schwerer klingt als sie ist wirklich. Sie gut geht in die Finger. Telemann hat ja die Instrumente auch selber gespielt, auch die Flöte unter anderem, und die Tenorposaune und die Traversflöte, und die Oboe war eines sehr Lieblingsinstrumente. Er hat selber gesungen in seinen Opern und so weiter. Also er war ein Tausendsassa in dieser Hinsicht, und das merkt man eben, dass es einfach in die Finger geht und dem Instrument auf den Leib geschneidert ist. Und, ja, diese Sonate in F-Dur beginnt mit einem entzückenden Vivace, wirklich auch ein galantes Stückchen, und zeigt mal wieder Telemanns vermischten Geschmack. Also die Nationalstile fließen hier zusammen. Es ist irgendwo italienisch in seiner Sanglichkeit, es ist irgendwo auch wieder französisch in seiner Rhythmik und irgendwo auch wieder deutsch in seiner Art, wie er mit dem Generalbass umgeht, und da fließen diese drei Elemente sehr klar zusammen.
    Mörchen: Dann bitte, an die Flöte!
    [Flötenmusik]
    "Es gibt natürlich auf jedem Level was von ihm"
    Mörchen: Bravo unter diesen suboptimalen Bedingungen hier im Studio, vielen Dank! Das ist mutig, finde ich. Das macht nicht jeder, ein Instrument mitbringen und eine kleine Probe geben. Jetzt sagten Sie eben, Telemann hat gut fürs Instrument geschrieben, hat an die Spieler gedacht. Er wollte die Noten auch verkaufen, hat sie ja selbst gedruckt und verlegt, glaube ich, sogar selbst graviert zum Teil. Das ist für das große Publikum ganz gut. Sie als Virtuosin unterfordert Telemann?
    Oberlinger: Ja, also es gibt natürlich auf jedem Level was von ihm. Also diese Sachen sind tatsächlich nicht so wahnsinnig schwer, aber man kann sie schwer machen, indem man sie wüst verziert oder so, und natürlich die Virtuosität war auch damals zu Barockzeiten nicht nur über Schnelligkeit definiert, sondern eigentlich über die Delikatesse, mit dem an sie spielt, die Sprache, die man benutzt, die kleinen Ornamente, das Timing und so weiter, die Farben, und dann hört es eigentlich nie auf, auch so ein - in Anführungszeichen - "einfaches Stückchen" wieder mit großen Anforderungen zu spielen, und das hört mein ganzes Leben lang nicht auf. Auch nicht bei so einem F-Dur-Stückchen von Telemann.
    Mörchen: Jetzt haben Sie in den letzten Jahren die Konzerte aufgenommen, die ganzen Solofantasien von Telemann, die hören wir uns jetzt im Telemann-Jahr. Was sonst noch, was ist Ihre persönliche Empfehlung, wenn wir so ein bisschen unsere Defizite begleichen wollen in Sachen Telemann? Was steht oben?
    Oberlinger: Ja. Also was ich noch ganz toll finde, sind die "Methodischen Sonaten". Das ist auch was Besonderes, dass also ein Komponist aus seiner Küche erzählt und sagt, wie man Sonaten verzieren sollte, weil das haben die Komponisten eigentlich nicht gemacht, weil das eine Extempore-Geschichte war. Der Interpret hat dann auf der Bühne improvisiert über diese Sachen, und er zeigt quasi mit seinem pädagogischen Anspruch, so könntet ihr das machen, und das ist enorm konsequent, wie er es macht, und zeigt eben, wie die Verzierungspraxis der damaligen Zeit war.
    Mörchen: Und zwingend für die Interpretin die Vorschläge, oder …?
    Oberlinger: Es ist für mich eigentlich ein Lehrbuch. Also wenn man das viel spielt, dann kann man in diesem Stil, nicht genau mit diesen Floskeln, aber in dieser Art auch andere Werke, die aus der Zeit und in diesem Stil geschrieben sind, verzieren.
    Mörchen: Okay, dann nehmen wir das zum Schluss jetzt noch. Was spielen Sie für uns?
    Oberlinger: Aus der "Methodischen Sonate e-moll" den ersten Satz, ein Grave, aber ich spiele nur den Anfang und spiele einmal die unverzierte Linie und dann die von Telemann verzierte Linie.
    Mörchen: Okay.
    [Flötenspiel]
    Eine der "Methodischen Sonaten" für Flöte von Georg Philipp Telemann. Das war die Flötistin und Ensembleleiterin Dorothee Oberlinger. Sie ist Telemann-Botschafterin in diesem Telemann-Jahr und war bei uns im Studio. Herzlichen Dank dafür!
    Oberlinger: Dankeschön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.