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26.1.1804 - Vor 200 Jahren

Es sind die sozial Deklassierten der modernen Metropole, die der am 26.Januar 1804 in Paris geborene Schriftsteller in seinen Büchern auftreten lässt: große und kleine Gauner, Huren, Lumpensammler, verelendete Arbeiter und Bettler. Ihre Not und ihr Elend mitten in Paris führt Sue anrührend vor Augen. Es war ihm ernst mit dem Appell zur Sozialreformen.

Von Ruth Jung | 26.01.2004
    Wie hat man um das Leben von Kolonialherren und Stadtbewohnern gezittert bei der Vorstellung, dass ganz in ihrer Nähe diese barbarischen Volksstämme leben und herumstreifen, die mit ihren grausamen Gepflogenheiten außerhalb jeder menschlichen Zivilisation stehen. Ich will nun versuchen, dem Leser Episoden aus dem Leben von Barbaren ganz anderer Art vor Augen zu führen, die aber genauso außerhalb der Zivilisation leben, wie die wilden Indianerstämme, die James Fenimore Cooper so vortrefflich beschrieben hat. Nur, dass die Barbaren, von denen ich spreche, mitten unter uns leben.


    .... erklärt Eugène Sue den Lesern gleich zu Beginn seines überaus erfolgreichen Feuilletonromans Die Geheimnisse von Paris. Man schreibt das Jahr 1842. Eine Zeit größter sozialer Verwerfungen. In der konservativ-liberalen Presse werden Arbeiter allgemein als "neue Barbaren" bezeichnet. Eugène Sue greift das Klischee auf, jedoch nicht, indem er die Ängste der Bürger bedient; vielmehr will er mit seinen abenteuerlichen Geschichten aus der "Unterwelt" auf die Himmel schreiende Misere aufmerksam machen. Es sind die sozial Deklassierten der modernen Metropole, die der am 26.Januar 1804 in Paris geborene Schriftsteller auftreten lässt: große und kleine Gauner, Huren, Lumpensammler, verelendete Arbeiter und Bettler. Ihre Not und ihr Elend mitten in Paris führt Sue anrührend vor Augen.


    Es ist das erste Mal, dass ein Autor so tief in die miserable Lage des Volkes eingedrungen ist, und es ist das erste Mal, dass er dabei den Schlamm der sozialen Untergründe derart aufgewühlt und in jene düsteren Abgründe des Leidens hinab gestiegen ist, die doch abgeschnitten zu sein scheinen vom Mitleid der Menschen und der Barmherzigkeit Gottes. Das Ziel von Monsieur Sue bestand zweifellos darin, diese Leiden ans Licht zu bringen und die Aufmerksamkeit der Mächtigen darauf zu lenken, die sich darum nicht genug kümmern.

    .... schreibt die angesehenste Literaturzeitung, die Revue des deux Mondes. Von der ersten Folge im Juni 1842 an begeisterte der als Fortsetzung bis Ende 1843 im Journal des Débats erschienene Roman die Leser. Die konservative Pariser Tageszeitung machte ein Vermögen – und der Autor kam zu neuem Reichtum. Das väterliche Erbe hatte der Sohn eines am Hofe von Kaiser Napoléon tätigen Mediziners als Lebemann und Dandy durchgebracht. Erste Schreibversuche und Auftritte als "Salonlöwe" in Paris blieben zunächst erfolglos. Seine Geschichten aus den Mystères de Paris machten ihn schließlich berühmt. Der Roman, von dem es hieß, er habe als Feuilleton zur Revolution von 1848 beigetragen, wurde von den unterschiedlichsten Zeitgenossen gelesen: König Louis-Philippe und Fürst Metternich lasen ihn ebenso wie Karl Marx. Marx sparte in einem Aufsatz 1844 nicht mit Kritik. So spottet er über die melodramatisch auftretenden Hauptfiguren, den "großherzigen Fürsten, Rudolph von Gerolstein" und das tugendhaft-naive Freudenmädchen "Blume Marie", die doch letztlich nur die – falsche - bürgerliche Moral verkörperten.

    Der Schmerzensruf, der Ruf des Elends der Arbeitenden dringt nun bis in die höchsten Sphären der Gesellschaft. Es wäre eine Blasphemie für die Menschheit, wäre man nicht fest davon überzeugt, dass ihre Tränen endlich getrocknet werden können. Durch ihren Zusammenschluss, mit einer Arbeiter- Union werden die arbeitenden Klassen diesem glücklichen Tage näher kommen.

    ... schreibt Sue in einem Brief an die Frühsozialistin Flora Tristan. Es war ihm ernst mit dem Appell zur Sozialreformen. Ob Eugène Sue den "sozialistischen" Feuilletonroman begründet habe, war die Frage, die die zeitgenössische Rezeption am meisten beschäftigte. In der Arbeiterschaft jedenfalls war der Roman fest verankert und sein Autor ein verehrter Mann. Nach 1848 war Sue politisch aktiv in der Zweiten Re-publik; im April 1850 wurde er als Abgeordneter der Demokratischen Sozialisten in die Pariser Nationalversammlung gewählt. In seinem 1844 veröffentlichten Roman Der ewige Jude sowie dem 1849 begonnenen Fortsetzungsroman Die Geheimnisse des Volkes führte er seine Thematik fort: in der Legende des zum ewigen Herumirren verurteilten Juden Ahasverus sah er ebenso einen sozial Ausgegrenzten wie im Arbeiter und im Verbrecher aus Not. Sein Roman Der ewige Jude wurde gelesen als Beitrag gegen den aufkeimenden Antisemitismus dieser Zeit. Und Eugène Sue war einer der wenigen Schriftsteller, der den Pariser Arbeiteraufstand im Juni 1848 nicht verurteilte.
    Eugène Sue als aufrechter Demokrat legte keinen Wert auf die Gunst eines Louis-Napoléon Bonaparte; nach dessen Staatsstreich am 2. Dezember 1851 ging er sofort ins Exil, wo er bald vergessen und vereinsamt starb....

    ....heißt es im Maitron, dem klassischen Dictionnaire biographique der französischen Arbeiterbewegung. Darin hat der in großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsene Sue, dessen Geburtsakte im Jahre 1804 Joséphine de Beauharnais, die spätere Kaiserin, unterzeichnet hatte, einen Ehrenplatz. Als Geburtsdatum nennt Maitron den 26. Januar 1804, andere wiederum nennen den 20. Dezember 1804. Eugène Sue starb 1857 im Exil in Savoyen. In Annecy wurde er auf dem Friedhof der Dissidenten begraben – nachdem der Bischof seine Werke auf den Index hat setzen lassen. 1907 endlich wurde ein Sue-Ehrenmal in Annecy eingeweiht.