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EU-Türkei-Gipfel
"Ein Ablasshandel, der hier betrieben wird"

Die EU begibt sich nach Ansicht von Gabi Zimmer in eine Abhängigkeit von der Türkei. Die Vorsitzende der Fraktion der vereinten europäischen Linken im Europäischen Parlament kritisierte im Deutschlandfunk die türkischen Forderungen, findet aber auch, dass mit der Regierung verhandelt werden muss.

Gabi Zimmer im Gespräch mit Christiane Kaess | 07.03.2016
    Die Spitzenkandidatin Gabi Zimmer während des Parteitags der Linkspartei in Berlin.
    Die Fraktionschefin der vereinigten Linken im Europaparlament, Gabi Zimmer. (picture alliance / dpa / Hannibal Hanschke)
    Kaess: Frau Zimmer, wir haben es gerade gehört. Die Vorschläge der Türkei, ist das eine mögliche Lösung?
    Zimmer: Zumindestens das Angebot, praktisch einen legalen Weg für syrische Flüchtlinge zu eröffnen, das wäre schon ein Angebot. Allerdings ist natürlich das, was die Türkei im Gegenzug fordert, schon harter Tobak. Das muss man sagen. Ich denke da weniger jetzt an die zusätzlichen drei Milliarden Euro als an die Frage, dass trotz der Bedenken, die es ja in vielen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu der inneren Entwicklung in der Türkei gibt, dann jetzt schon die nächsten Kapitel der Beitrittsverhandlungen zu eröffnen und auch den visafreien Verkehr so drastisch vorzuziehen, wie es jetzt gefordert wurde.
    Kaess: Über diese Forderungen von Seiten der Türkei können wir gleich noch ein bisschen weiter reden. Aber der Vorschlag, alle Flüchtlinge von den griechischen Inseln zurückzunehmen und dann für jeden syrischen Flüchtling zu sagen, die EU-Länder nehmen einen syrischen Flüchtling ab, der schon in der Türkei ist, da glauben Sie tatsächlich, das könnte verhindern, dass Menschen sich auf diese gefährliche Überfahrt begeben?
    Zimmer: Das weiß ich nicht. Auch hier muss man die Konditionen genau sich anschauen. In erster Linie steht ja die Frage, inwieweit wird auch bei diesem Vorschlag dann tatsächlich gesichert, dass das individuelle Recht auf Schutz für Kriegsflüchtlinge gesichert wird und - und das ist jetzt für mich die große Frage - inwieweit wird auch gesichert, dass das Recht von Menschen auf Asyl gesichert wird? Es handelt sich ja auch um Menschen, die aus anderen Ländern kommen und die zum Teil auch geflohen sind vor politischer Verfolgung, die einen Anspruch auf politisches Asyl haben. Wie soll das im individuellen Fall dann gewährleistet werden? Das ist ja überhaupt noch nicht zur Sprache gekommen. Es wäre möglich, dass es ein Ansatz ist, aber wie das so ist: Im Detail steckt dann der Teufel, und das möchte man schon dann genau wissen.
    Zimmer: Noch keine gemeinsame europäische Lösung in Sicht
    Kaess: Sehen Sie denn vor dem Hintergrund von diesem neuen Vorschlag bessere Chancen, dass mehr EU-Mitglieder bereit wären, Flüchtlinge aufzunehmen, oder tut sich da eigentlich überhaupt nichts an Bewegung in dem Punkt im Moment?
    Zimmer: Auch dazu kann man ja noch nicht viel sagen. Aus Ungarn hat man ja schon gehört, dass Herr Orbán erklärt hat, er sei damit nicht einverstanden, er wolle nicht einen einzigen Flüchtling übernehmen. Das wird abzuwarten sein. Im Moment ist ja der Punkt noch immer so, dass jeder Staat für sich alleine verhandelt. Es scheint nach wie vor wie ein Feilschen, ein Ablasshandel, der hier jetzt betrieben wird, und ich kann noch nicht erkennen, dass es wirklich eine gemeinsame europäische Lösung gibt, obwohl die dringend notwendig ist.
    Kaess: Was sagt uns das denn über den Zustand der EU?
    Zimmer: Nichts Gutes. Überhaupt nichts Gutes, weil die Frage nach Werten, nach Sinn und Zweck der Europäischen Union, wofür ist sie da, die scheint völlig aus dem Auge verloren zu sein. Ich bin ja sehr dafür, dass man mit der Türkei zum Beispiel auch verhandelt, dass man mit ihr kooperiert, aber dass dabei gleichzeitig alles Bedenkliche außer Acht gelassen wird, was uns gegenwärtig an der inneren Entwicklung doch große Sorgen macht, sowohl der Umgang mit den Medien - auch heute* ist wieder eine oppositionelle Agentur unter Treuhand gestellt worden -, die Angriffe, die harten Attacken und auch die Ermordung von Menschen in der Südost-Türkei, das lässt nichts Gutes hoffen oder nichts Gutes erwarten. Und ich denke, das kann man nicht einfach bei Seite schieben, und ich habe schon den Eindruck, die Türkei fühlt sich in einer sehr sicheren Stellung gegenüber der EU und glaubt, den Preis hochtreiben zu können, und sie glaubt auch, mit der EU spielen zu können. Und dass das überhaupt möglich ist, das macht mir Sorgen.
    Kaess: Frau Zimmer, aber gleichzeitig haben Sie auch gesagt, man muss mit der Türkei verhandeln. Die EU hat im Moment keine andere Wahl, als sie als Partner bei dieser Problematik anzusehen. Also ist die EU letztendlich doch gezwungen, bei ihren Standards beide Augen zuzudrücken?
    Zimmer: Nein, sie ist nicht dazu gezwungen. Das ist sie ja nur, weil sie sich selbst in diese Logik hineinbegeben hat, dass die Lösung…
    "Legale Wege sind auch anderweitig möglich"
    Kaess: Aber diese Logik haben Sie ja gerade selber befürwortet, wenn Sie sagen, man muss mit der Türkei verhandeln.
    Zimmer: Ja, ja. Das heißt doch aber nicht, dass man alleine da auf diese Lösung setzt. Legale Wege sind ja auch anderweitig möglich. Der Weg über die Türkei ist doch vor allem deshalb entstanden, weil alle anderen legalen Möglichkeiten geschlossen wurden. Wenn ich eine Lösung suche, dann muss ich mich auf mich selbst auch konzentrieren. Ich muss eigene Verantwortung auch übernehmen. Und da gibt es eben weitaus mehr Möglichkeiten, aus Krisengebieten in die Europäische Union zu kommen, legal zu kommen, wenn denn die Europäische Union sich darauf überhaupt einlassen will. Das ist aber der springende Punkt. Wenn ich mich nur auf die Türkei konzentriere und sage, die Türkei ist das Nonplusultra, dann entsteht letztendlich eine Situation der Abhängigkeit, wie wir sie jetzt haben, und dann verliert man die eigentliche Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten auch aus dem Auge.
    Kaess: Und Sie glauben, Frau Zimmer, die Türkei wird diese Abhängigkeit der EU immer als Druckmittel benutzen?
    Zimmer: Ja, natürlich! Ja, natürlich. Das ist eine ganz klare Machtpolitik, die hier seitens Davutoglu und Erdogan gespielt wird. Das ist so offensichtlich. Und ich finde es schade, dass die Europäische Union sich zum Teil selbst in diese Situation manövriert hat.
    Kaess: Schauen wir zum Schluss, Frau Zimmer, auch noch kurz auf diesen Punkt, über den gestritten worden ist, über diese Formulierung: Die Westbalkan-Route ist für Flüchtlinge geschlossen. Das soll eventuell so in der Abschlusserklärung auftauchen.** Die Deutschen, es heißt auch die Briten, die Spanier, die Belgier und die Finnen, die seien gegen diese Formulierung. Ein weiterer Punkt, der zeigt, wie zerstritten die EU ist?
    Zimmer: Ja natürlich! Die Balkan-Route ist ja vor allem durch das Agieren von Ungarn und von anderen Balkan-Staaten überhaupt erst geschlossen worden. Erstens hat es sich im Vorfeld schon darauf reduziert, auf den einzigen Weg, und dann wurde jetzt auch diese Route noch geschlossen, und letztendlich …
    Zimmer: Es blieb an zwei kleinen Staaten hängen
    !Kaess:!! Und die Balkan-Staaten sind schuld daran?
    Zimmer: Nicht alleine! Nicht alleine. Sondern dass es im Vorfeld überhaupt dazu gekommen ist, dass man nur noch diesen einen Weg gesehen hat. Andere Staaten haben ja vorher schon dichtgemacht und auch erklärt, dass ihre Zugangswege praktisch nicht mehr existieren. Letztendlich blieb es dann eigentlich an zwei kleinen Staaten hängen: einerseits an Mazedonien, ein Nicht-EU-Mitglied, und andererseits an Griechenland. Und da haben wir jetzt eine Situation, dass tatsächlich eine riesige humanitäre Krise entstanden ist, jetzt speziell in Griechenland. Und ich mache es nicht den Mazedoniern zum Vorwurf, dass sie dann letztendlich nicht mehr anders reagieren konnten oder reagiert haben, da sie ja von der anderen Seite praktisch hier auch in die Enge getrieben worden sind.
    Kaess: … sagt Gabi Zimmer. Sie ist Vorsitzende der Fraktion der vereinten europäischen Linken im Europaparlament. Danke schön für dieses Gespräch, Frau Zimmer.
    Zimmer: Ich bedanke mich auch. Einen schönen Abend noch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    * Gabi Zimmer bezieht sich auf den 7. März – den Tag, an dem das Interview geführt wurde.
    ** In der Nacht wurde die Formulierung geändert und lautet in der Abschlusserklärung so: "Bei den irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkanroute ist nun das Ende erreicht."