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30.1.1974 - Vor 30 Jahren

René Gonzalez, damals, Ende der 70er Jahre Direktor des Théâtre Gérard-Philippe in Saint-Denis, erzählt heute amüsiert, dass er das Skript zweidreimal las, dann den Dramaturgen anrief, der ihm diesen unbekannten ostdeutschen Autor auf den Schreibtisch gelegt hatte. Es bestand Erklärungsbedarf, dann allerdings gab es Begeisterung, und der neue Name stand auf dem Spielplan: Heiner Müller, Die Hamletmaschine. Die zentrale Anweisung fürs Bühnenbild hieß: Im Herzen der Finsternis. Unter der Sonne der Folter.

Von Joachim Johannsen | 30.01.2004
    Es soll kurz Schnee gelegen haben, an jenem 30. Januar 1979, der allerdings wie in den Metropolen üblich schnell wegschmolz, und der kommunistische Pariser Vorort Saint-Denis war wieder so trist und grau wie immer. Dann hallten die Tiraden durch den Grossen Saal des roten Klinkerbaus. Der Kommunist Müller brachte allerdings keine optimistische Botschaft sondern abgrundtiefen Zynismus. Der große Schauspieler Gérard Desarthe kämpfte heroisch mit dem Text und musste sich in der Kulisse des Bühnenbildners Gilles Aillaud übergeben.

    Kaum 150 von 700 Plätzen waren besetzt, die Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber man hatte einen neuen deutschen Mythos im französischen Theaterleben etabliert, das traditionellerweise kein Verhältnis zur deutschen Dramatik hat. Erst das Gastspiel des Berliner Ensembles Mitte der 50er Jahre hatte zu einer geradezu hysterischen Verehrung des Brechttheaters geführt. Heiner Müller als Synthese aus Bertolt Brecht und Antonin Artaud konnte nun die Legende auffrischen und weiterführen.

    Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Ich legte mich auf den Boden und hörte die Welt ihre Runden drehn im Gleichschritt der Verwesung.

    Vor der Uraufführung im Ausland konnte Müller 1978 eine Hörspielfassung des sperrigen Textes realisieren, die deutschsprachige Erstaufführung fand Ende April 1979 im Theater der Stadt Essen statt. Die Hamletmaschine hat denkbar größte Distanz zum klassischen Original. Auf dürren neun Reclam-Seiten erreicht Müller einen nie übertroffenen Konzentrationsgrad - weltverachtende Philosophie und explodierende, fragmentarische Dramaturgie eingedampft auf das Wesentliche vom Wesentlichen. Auch Müllers Reminiszenz-Hamlet ist ein Zweifler und Misanthrop, der das Verbotene, den Inzest mit der Mutter, nicht wagte und nun sich das Notwendige, den Mord am Vatermörder, verbietet.

    Hier kommt das Gespenst, das mich gemacht, das Beil noch im Schädel. Du kannst deinen Hut aufbehalten, ich weiß, dass du ein Loch zuviel hast. Ich wollte, meine Mutter hätte eines zu wenig gehabt, als du im Fleisch warst: ich wäre mir erspart geblieben. Man sollte die Mütter zunähn, eine Welt ohne Mütter. Wir könnten einander in Ruhe abschlachten.

    Der Philosoph Hegel nannte die Geschichte "ein einziges Schlachthaus". Bis jetzt hat er damit Recht behalten, scheint das Motto des Müllerschen Werks zu sein. Der Rekurs auf einen Hegel-Splitter ist hier die letzte Verbindung zum Gedankengebäude des Marxismus-Leninismus. Die Revolution, die Ophelia später predigt, hat nichts zu tun mit Vernunft und Methode. Der Dänenprinz spaltet drei nackten Frauen namens Marx Lenin Mao den Schädel. Die Klima-Angabe heißt: Schnee, Eiszeit.

    Müllers Platz in diesem Vernichtungskrieg ist «auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber» - eine Markierung seiner intellektuellen Unabhängigkeit.
    Nichts auf diesem Theater ist mehr so wie vorher. Der Darsteller ist nur er selber, steht neben der Rolle, macht sie lächerlich. BLABLA.

    Für Heiner Müller schien das Theater mit wachsendem Erfolg sinnlos, aber sein Theater war in der heraufziehenden Krise das einzige, das noch Sinn machte.

    An die Metropolen der Welt. Im Namen der Opfer. Ich stoße allen Samen aus, den ich empfangen habe. Ich verwandle die Milch meiner Brüste in tödliches Gift. Ich nehme die Welt zurück, die ich geboren habe. … Nieder mit dem Glück der Unterwerfung. Es lebe der Hass, die Verachtung, der Aufstand, der Tod.

    Die Frau, die die Zukunft träumt, ist durch Mullbinden an den Rollstuhl gefesselt, eher ein Werk der Bildenden Kunst denn ein fesselndes politisches Programm, dieses Schlussbild der Hamletmaschine.

    So blieb Müller, der nicht an Wirkung glaubte, nicht ganz wirkungslos. Aber seine radikalste Forderung an die Kunst, nämlich die Wirklichkeit unmöglich zu machen, konnte auch er nicht erfüllen.