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30 Jahre Amcha Israel
Wenn die Erinnerungen krank machen

Die Hilfsorganisation Amcha in Israel bietet psychologische Betreuung für Holocaust-Überlebende und ihre Angehörige. Heute feiert die Einrichtung ihren 30. Geburtstag.

Von Sabine Adler | 11.09.2017
    Giselle Cychowicz bei einem Hausbesuch.
    Die 90-jährige Psychologin Giselle Cychowicz (li.), selbst Auschwitz-Überlebende, arbeitet für Amcha in Jerusalem (Deutschlandradio / Sabine Adler)
    In Jerusalem, in der Amcha-Zentrale wird Geburtstag gefeiert. Die Tische sind mit rotem Plastikgeschirr gedeckt. Der Jubilar bekommt ein Ständchen.
    Vor genau 30 Jahren hat der Niederländer Manfred Klafter, selbst ein Holocaust-Überlebender, die Organisation gegründet, die derzeit rund 20.000 Menschen betreut - in Tel Aviv, wo heute das Jubiläum gefeiert wird, aber auch in anderen Orten, erklärt der Chef von Amcha Deutschland, Lukas Welz:
    "Amcha hat 15 Zentren in Israel und einige davon liegen direkt im Umfeld des Gaza-Streifens, also Aschdod, Ashkelon und Sderot. Und hier ist es so, dass einerseits die Holocaust-Überlebenden, die dort leben, unter einer doppelten Belastung leiden, unter den vergangenen Traumata und den akuten Traumatisierungen durch Raketen-Angriffe. Und hier öffnet sich Amcha. Menschen, die einen Raketen-Angriff erlebt haben, können in das Zentrum kommen und Hilfe erfahren."
    Täglich sterben dreißig bis vierzig Holocaust-Überlebende
    400 Psychologen der Hilfsorganisation kümmern sich um Holocaust-Überlebende. Die älteste Aktivistin ist die 90-jährige Psychologin Giselle Cychowicz, die in Jerusalem noch immer ihre Patientinnen trifft - wie Deborah. Beide, Psychologin und Patientin, haben das Vernichtungslager Auschwitz überlebt.
    "Sie schläft die meiste Zeit, geht nie aus. Sie spricht ausschließlich über ihre Erlebnisse während des Holocaust. Die Erinnerungen suchen dich heim, ohne dass du verstehst, woher und warum sie gerade jetzt kommen."
    Täglich sterben dreißig bis vierzig Holocaust-Überlebende, dennoch geht Amcha die Arbeit nicht aus, sagt Lukas Welz:
    "Das ist eine Entwicklung, die man nicht vorhergesehen hat. Man hat gedacht, das wird in zehn, zwanzig Jahren zu Ende sein. Und das ist tatsächlich so, dass viele Menschen, wenn sie im Alter keinen Beruf mehr haben, die Familie nicht mehr da ist, Probleme entstehen, die manchmal therapeutisch oder auch manchmal nur durch eine Ersatzgemeinschaft gelöst werden können. Und das ist der Grundgedanke von Amcha gewesen: also eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten zu finden, die sich verstehen, ohne sprechen zu müssen, weil sie das Schicksal teilen."
    Martin Auerbach stammt aus Wien, seine Eltern sind vor der Shoa geflohen. Als Psychologe bei Amcha blickt er auf eine jahrzehntelange Erfahrung mit Holocaust-Überlebenden zurück:
    "Menschen, die viel Leid erlitten haben, sind nicht bessere Menschen und nicht schlechtere Menschen, es sind Menschen, die eine Leidenserfahrung haben. Aufgrund so einer Schlussfolgerungen würden viele Holocaust-Überlebende sagen: Wir sind für eine sehr aggressive Politik gegenüber unseren Feinden, Nachbarn, Palästinensern usw. Eine andere Möglichkeit ist, dass jemand sagt, wir müssen stark sein, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir als Minderheit verfolgt wurden. Wir sind daher wohl sensibilisiert darauf, dass anderen Menschen Leid zugefügt wird."