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30 Jahre Kulturtransfer West-Ost
Mechanismen der Verdrängung

Im Umgang mit der ostdeutschen Kunst aus der Zeit vor und nach 1989 spiegeln sich die inneren Widersprüche der deutschen Wiedervereinigung. Denn nach dem Beitritt der DDR begann ein beispielsloser Kulturtranfer - mit dem Ziel, die westliche Demokratie näher zu bringen.

Von Carsten Probst | 09.02.2020
Das Bild "Seltsamer Zwischenfall" des Künstlers Wolfgang Mattheuer ist in der Ausstellung "Utopie und Untergang. Kunst in der DDR" hinter seiner Bronzefigur "Gesichtzeigen" zu sehen.
Im Herbst 2019 wurde die Ausstellung "Utopie und Untergang - Kunst in der DDR" im Museum Kunstpalast in Düsseldorf eröffnet (picture alliance/Rolf Vennenbernd/dpa)
Nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik sollte den Ostdeutschen die westliche Demokratie nahegebracht werden. Es begann ein bis dahin beispielloser Kulturtransfer: Museen und andere Kulturinstitutionen von Rostock bis Zwickau wurden renoviert oder neu gebaut, personell und programmatisch neu ausgerichtet. Nicht alle Bemühungen fanden begeisterte Aufnahme, im Gegenteil - zeitweilig kursierte sogar das böse Wort von der kulturellen Kolonisierung Ostdeutschlands.
In seinem Essay untersucht Carsten Probst, wie sich im Umgang mit der ostdeutschen Kunst vor und nach 1989 grundlegende Missverständnisse der Wiedervereinigung spiegeln und wie sie sich vermeiden ließen.
Carsten Probst lebt als Schriftsteller, Kunsttheoretiker und Journalist in Berlin. Neben dem Roman "Träumer", für den er 2001 den Anna Seghers-Preis erhielt, veröffentlichte er Erzählungen, Essays, kunsttheoretische und wissenschaftliche Schriften sowie zahlreiche Rundfunkfeatures und Hörstücke. Für den Deutschlandfunk verfolgt er seit Langem die Entwicklung der Gegenwartskunst, nicht zuletzt in Ostdeutschland. 2010 gab er die erste Monografie über den ostdeutschen abstrakten Maler Hans Brosch heraus.

Der Dresdner Kulturwissenschaftler Paul Kaiser kämpft leidenschaftlich für die Anerkennung der Kunst aus der DDR. Vor zwei Jahren, im September 2017, veröffentlichte er in der "Sächsischen Zeitung" eine flammende Suada gegen die Leitung des Kunstmuseums Albertinum in Dresden. Diese habe "mit brachialer Geste und ganz ohne Begründung die kunstgeschichtliche Epoche zwischen 1945 und 1990 ins Depot entsorgt". Den Verantwortlichen, die "dem westdeutsch dominierten Kunstbetrieb entstammen", warf Kaiser "koloniale Attitüden" vor. Mit diesen wolle man offenbar "die Ostdeutschen das Sehen lehren".
Kaisers empörte Wortmeldung markierte den Beginn eines erbitterten Bilderstreits um das Erbe der ostdeutschen Kunst. Vorwürfe an die Westdeutschen, diese hätten die DDR letztlich unterworfen und kolonisiert, gab es zwar schon von Beginn an nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik. Ebenso einen deutsch-deutschen Bilderstreit, der Mitte bis Ende der 1990er‑Jahre ausgefochten wurde, als westdeutsche Kuratoren die Kunst der DDR-Zeit gern pauschal als staatliche Propaganda abtaten oder gleich direkt mit der Kunst der Nazizeit verglichen.
Ein Porträt von Hilke Wagner, Direktorin des Albertinums, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 2017
Albertinum-Direktorin Wagner: "Der Westen hat Klischees im Kopf"
Die Rezeption ostdeutscher Kunst steht an einem Wendepunkt. Zum ersten Mal zeige sich ein Interesse an ostdeutscher Kunst jenseits der DDR-Staatskunst, sagte die Direktorin des Dresdner Albertinums, Hilke Wagner, im Dlf. Eine Hauptaufgabe der Museen sei, diese Kunst jetzt anzukaufen.
Doch der neu aufbrechende Ost-West-Konflikt des Jahres 2017 stand unter anderen Vorzeichen. Wortführer Paul Kaiser sah in der vermeintlichen "kolonialen Attitüde" von westdeutschen Museumsleitern im Osten eine "Stellvertreter-Abrechnung an den Bildern, mit denen Generationen sozialisiert worden waren". Mit anderen Worten: Es ging gleichsam um das Leben der Ostdeutschen, ihre Identität. Kaiser forderte eine "Wende an den Wänden", und das hieß: Die Museen in Ostdeutschland sollten Kunst ausstellen, die die kulturelle Herkunft der Ostdeutschen spiegele, die Ausdruck ihres kulturellen Gedächtnisses sei – und das sei nun einmal die Kunst aus der DDR. Die westdeutsche Siegerkunst hingegen sei vielen fremd. Sie werde den Museumsbesuchern nur aufgedrängt, eben weil es die neuen Herrscher so wollten und die kulturelle Prägung des Westens für überlegen hielten.
Als die Proteste mehr und mehr politische Wellen schlugen, tat die Leitung der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden das einzig Richtige: Sie stellte sich der Debatte. In einer Reihe von öffentlichen Diskussionen mit Experten, Kritikern, Wissenschaftlern und hunderten Zuschauern setzte sie sich mit den Vorwürfen auseinander und versuchte sich an einer ergebnisoffenen Problemanalyse. Das geduldige Zuhören und Reden half, am Ende wich die allgemeine Erregung einer zunehmend sachlichen Debatte, Kompromisse wurden gefunden. Auch andere ostdeutsche Museen hoben als Reaktion teils großangelegte Schauen zur Kunst in der DDR in ihr Programm. Im Herbst 2019 eröffnete das Museum Kunstpalast in Düsseldorf einen aufwendig inszenierten Rückblick auf die Kunst aus DDR-Zeiten – und das war fast schon eine kleine Sensation, denn es handelte sich tatsächlich um die erste monografische Ausstellung überhaupt zu diesem Thema in einem westdeutschen Museum seit dem Mauerfall.
Untergang der DDR
Allein dieser Umstand wirft natürlich Fragen auf. Wie kann es sein, dass es in 30 Jahren seit 1989 keinem westdeutschen Museum eingefallen ist, die ostdeutsche Kunst seit 1945 systematisch zu untersuchen? Zeigt sich darin nicht typisch westdeutsche Ignoranz? Müsste die Erforschung der ostdeutschen Kunstgeschichte nicht ein Kernanliegen der Wiedervereinigung sein, ja der deutschen Aussöhnung, von der am Anfang immer die Rede war? Hat der Vorwurf der Kolonisierung des Ostens also doch einen wahren Kern?
1990 setzte nicht nur der Aufbau der wirtschaftlichen und administrativen Infrastruktur in Ostdeutschland ein, sondern auch ein bis dahin in der deutschen Geschichte beispielloser Kulturtransfer von West nach Ost. Universitäten, Museen, Theater, Bibliotheken, Schlösser, Kirchen, ganze Städte und Landschaftsbilder wurden restauriert, teilweise neu gestaltet oder wieder aufgebaut. Was noch an die DDR erinnerte, wurde zurückgedrängt – Ampelmännchen und einige Straßennamen ausgenommen.
Nicht wenige westdeutsche Beobachter hielten das in der Tat für den völlig normalen Gang der Dinge. Die DDR war untergegangen, folgerichtig also auch das Weltbild, die Sprache, der Städtebau, die marxistisch-leninistisch ausgelegten Wissenschaftsinstitute und eben auch der größte Teil der Staatskunst der DDR. Diese wurde in der Nachwendezeit überwiegend in speziellen Lagerstätten und Archiven entsorgt, zu denen oft nur Experten Zugang haben. Auch was nicht im engeren Sinn als Staatskunst galt, schien doch mit dem Mauerfall über Nacht aus der Zeit gefallen, als "ostig", was gleichbedeutend war mit: hoffnungslos veraltet. Ihr Marktwert, der noch vor dem November 1989 bei einigen repräsentativen DDR-Künstlern durchaus stattliche Werte erreicht hatte, weil die Bilder bei bestimmten westlichen Sammlern überaus begehrt waren, fiel nach der Wiedervereinigung nahezu ins Bodenlose und liegt heute bei manchen Werken nahe am reinen Materialwert. Das Klischee "ostdeutsch" wirkt bis heute. Der Kunstkritiker Eduard Beaucamp, der für die "FAZ" über die Kunst in der DDR schrieb und über Jahrzehnte als ihr unangefochtener westdeutscher Kenner galt, fasste noch 2009 in einem Text zusammen:
"Ostdeutsch ist vor allem die existenzielle Grundierung der Bildpoesie. (…) Die attrappenhaften Bilderbühnen, ihre raumzeitlichen Verschachtelungen, das marionettenhafte Rollenspiel der Figuren und ihre Heimatlosigkeit bei heimatlichen Landschafts- und Häuserkulissen. Ostdeutsch ist auch Spiel mit Paradoxien, Widersprüchen und Doppeldeutigkeiten."
Mit anderen Worten: Ostdeutsch ist eine Kunst, die sich verklemmt und verklausuliert irgendwie mit der Diktatur arrangiert hatte. Eine allenfalls handwerklich ansprechende Bilderwelt unfreier Biedermänner. Georg Baselitz, der in den sechziger Jahren aus Sachsen in den Westen übergesiedelt war, fand nach der Wende noch deutlichere Worte für seine Malerkollegen, die in der DDR geblieben waren. Für ihn waren sie allesamt "Arschlöcher".
Nur wenige dieser Künstlerinnen und Künstler in der DDR konnten sich diesem Klischee entziehen. "Unabhängige", die unter der Kunstpolitik der DDR zu leiden hatten oder im Verborgenen arbeiten mussten und nach 1989 rehabilitiert wurden, wurden seither immer wieder auch in westdeutschen Museen gezeigt. Zu den bekanntesten gehören der Thüringer Maler, Bildhauer und Zeichner Gerhard Altenbourg, der abstrakte Dresdner Maler, Bildhauer und Gestalter Hermann Glöckner, der Zeichner und Lautpoet Carlfriedrich Claus aus dem Erzgebirge, die Thüringerin Gabriele Stötzer oder auch bedeutende Fotograf/inn/en wie Helga Paris, Arno Fischer oder Gundula Schulze-Eldowy. Auf dem Kunstmarkt erzielen ihre Werke trotz ihrer kunsthistorischen Würdigung nie sonderlich hohe Preise. Sie sind Ausnahmen in mehrfacher Hinsicht: Sie waren Opfer der offiziellen Kunstpolitik der DDR; daher wurden sie, anders als die meisten anderen Künstler aus DDR-Zeiten, bereitwilliger im Westen rezipiert als jene, die sich offen mit dem System arrangiert hatten. Doch zugleich gilt ihr Werk auch nicht als "angepasst" und "verwestlicht", sondern als "authentisch" und unabhängig auch in Bezug auf die Bundesrepublik und mitunter sogar als "subversiv", und dies, obgleich viele dieser Künstlerinnen und Künstler schon vor 1989 Verbindungen in den Westen gepflegt hatten.
Ein Ausleseprozess
So fand also nach 1990 ein groß angelegter Ausleseprozess statt, und zwar durchaus unter aktiver Beteiligung ostdeutscher Künstler und Kuratoren. Denn auch viele Ostdeutsche hatten etwas gegen die ritualisierte und verkitschte Staatskunst der DDR. Doch je mehr ostdeutsche Museen und Institutionen von westdeutschen Führungskräften geleitet wurden, desto mehr stellte sich eine gewisse Schieflage ein, denn westdeutsche Kunsthistoriker wussten in der Regel nur wenig vom Innenleben des DDR-Kunstbetriebs. Die meisten nutzten ihre Positionen auch nicht für Forschungsarbeit, sie hatten für den Aufbau, den Erhalt und die Administration neuer Einrichtungen zu sorgen. Höchst selten fand man diese Kunsthistoriker also in den Ateliers unbekannter älterer Künstler, in denen sich die Bilder stapelten, die sie unter der SED-Herrschaft niemals hätten zeigen können und für die sich nun kaum noch jemand interessierte. Wer heute die Museen in Ostdeutschland besucht, findet dort mittlerweile in der Tat viel westdeutsche oder "westliche" Kunst – Resultate eben jenes permanenten Kulturtransfers von West nach Ost. In westdeutschen Museen ist umgekehrt praktisch keine ostdeutsche Kunst zwischen 1945 und 1990 zu sehen. Auch wenn sie möglicherweise noch in Museumssammlungen vorhanden ist, wurde sie nach 1990 wegkuratiert.
Bei der feierlichen Kunstausstellung zum 60-jährigen Verfassungsjubiläum der Bundesrepublik im Berliner Martin-Gropius-Bau, die 2009 von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet wurde, kamen Künstlerinnen oder Künstler aus der DDR nicht vor – abgesehen von jenen, die, wie Gerhard Richter oder Georg Baselitz, frühzeitig in den Westen gegangen waren oder deren Karriere erst nach 1990 begonnen hatte, wie bei dem Leipziger Maler Neo Rauch.
Im selben Jahr 2009 schenkte die Ludwig Galerie Schloss Oberhausen ihre bedeutende Sammlung an Malerei und Skulpturen aus der DDR-Zeit – rund 160 Werke – dem Museum für Bildende Künste in Leipzig. Eine großzügige Geste, könnte man meinen. Die Begründung für das Geschenk legt jedoch eine eher engherzige Motivation nahe: In Ostdeutschland sei das Interesse an dieser Kunst sicherlich größer als im Westen, hieß es. Das Sammlerpaar Peter und Irene Ludwig gehörte einst zu den eifrigsten Sammlern von Kunst aus der DDR und hatte in Oberhausen ein eigenes Institut für deren Erforschung gegründet. Nun wusste man dort plötzlich nicht mehr, wohin mit den Bildern, und schickte sie sozusagen zurück.
Warum ist das so? Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk bemerkt in seinem jüngsten Rückblick auf den Wiedervereinigungsprozess unter dem Titel "Die Übernahme": Im Vergleich mit anderen postsozialistischen Staaten sei es 1990 als Standortvorteil der Bundesrepublik verstanden worden, dass man beim Aufbau der ostdeutschen Infrastruktur auf das westdeutsche Berufsbeamtentum zurückgreifen konnte. Nur so habe der untergegangene Staat der DDR so vergleichsweise schnell aus dem Sumpf ihres Totalzusammenbruchs gezogen werden können.
Der Regisseur Achim Freyer gibt in der Akademie der Künste eine Pressekonferenz zu einer Ausstellung.
Regisseur Achim Freyer: "Im Westen habe ich mich unfrei gefühlt"
In der DDR gab es mehr Natur, Solidarität unter Kollegen und eine große innere Freiheit, gute Kunst zu machen, sagte der Regisseur Achim Freyer im Dlf. Dennoch floh er 1972 in den Westen. Der Kulturschock war immens: "Die westliche Freiheit hat mich gefesselt", so Freyer.
Andererseits gab es in anderen ehemals sozialistischen Staaten dafür keine komplette Tabula rasa beim leitenden Personal in allen Bereichen. Dort vollzog sich der Neuaufbau technisch und wirtschaftlich viel langsamer. Unter den neuen Bedingungen wirkte vieles Alte teilweise jahrzehntelang fort. Auch dies mag durchaus kein Idealzustand sein. Zutreffend aber ist Kowalczuks Resümee des deutschen Vereinigungsprozesses dennoch: Die Heerscharen westdeutscher Aufbauhelfer kamen nicht als Gleiche unter Gleichen in die ostdeutschen Bundesländer, sondern durchweg als Vorgesetzte. Die Wiedervereinigung auf Augenhöhe, für die noch die letzte Regierung der DDR unter Lothar de Maizière gekämpft hatte, fand so nicht statt.
Das galt auch für den nun einsetzenden Kulturtransfer. Dessen zentrale Funktion sollte vordergründig darin bestehen, die Kulturlandschaft in den neuen Bundesländern international anschlussfähig zu machen, wie es hieß. Zugleich sollten die Ostdeutschen die Kunst des "freien Westens" kennenlernen und über sie demokratische Werte und Bildung vermittelt bekommen. Das erinnert in der Tat an den hegemonialen Eifer, mit der die USA nach 1945 die Westdeutschen mit einer Mischung aus Konsum und Kunst für die freie Welt zu begeistern versuchten. Von sogenannten Experten verfasste Diagnosen über "die Ostdeutschen" aus der Zeit nach 1990 lesen sich niederschmetternd, wie Beschreibungen einer vernachlässigten, bemitleidenswerten Spezies, der es an allen möglichen zivilisatorischen Errungenschaften fehle. "Buschzulage", so nannten Westbeamte damals gern die Ausgleichszahlungen, die sie für ihr Pendeln nach Ostdeutschland erhielten.
Das geflügelte Wort vom Verschwinden der "Mauer in den Köpfen"
Der Wiederaufbau der ostdeutschen Kulturlandschaften war dabei durchaus ein epochaler Erfolg – vielleicht sogar der einzige Bereich des Aufbaus Ost, den man heute ohne Übertreibung als Glanzstück bezeichnen kann. Unvermeidlich betraf dieser kulturelle Wiederaufbau gerade das, was nicht an die DDR erinnerte, sondern was diese als historische Erblast bürgerlicher oder religiöser Kultur angesehen und daher mit geradezu bilderfeindlichem Eifer niedergerissen oder dem Verfall preisgegeben hatte. Was in der DDR bewahrt wurde, musste sich teils entstellenden Umbauten oder Vereinnahmungen fügen. Durch die Folgen des Nationalsozialismus, des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Teilung waren viele kulturelle Beziehungen von Ost und West, die sich in der ostdeutschen Kulturlandschaft gebündelt hatten, in Vergessenheit geraten. Ihr Wiedererstehen bedeutet weitaus mehr als nur eine überfällige museale Restaurierung. Es ist ein politischer Akt: die Wiederherstellung eines Geschichtsbildes, das vom vorangehenden Regime getilgt werden sollte.
Das so aufwendig wieder aufgebaute Herzland der Reformation, der Weimarer Klassik und der klassischen Moderne ist das historische Gegenbild der DDR, auch wenn diese es teilweise für ihre eigene historische Rechtfertigung ausdeuten wollte. Der Geschichtsikonoklasmus, den diese hatten walten lassen, wurde nun nicht nur rückgängig gemacht; das meiste, das in 40 Jahren DDR selbst kulturell entstanden war, stand seitdem unter Verdacht, sich vor der Geschichte gleichsam als ungültig erwiesen zu haben. Das Ideal der blühenden Landschaften, die der vermeintliche Wende-Kanzler Helmut Kohl einst beschwor, war stets auch der Traum von der deutschen Aussöhnung durch Wiederherstellung einer bürgerlichen deutschen Kulturnation, durch die man sich wieder mit anderen europäischen Nationen messen und auf die man stolz sein kann. Dieser Traum war keineswegs auf Westdeutschland beschränkt, auch während der friedlichen Revolution in Ostberlin, Leipzig, Dresden oder Erfurt war die Forderung nach dem kulturell geeinten Deutschland immer wieder zu hören gewesen und klingt im geflügelten Wort vom Verschwinden der "Mauer in den Köpfen" bis heute nach. Doch die deutsche Einheit, verstanden als national versöhnte Einheitskultur, bleibt unvermeidlich ein dubioses Unterfangen.
Historisch gesehen lässt sich ohnehin darüber streiten, ob es eine deutsche Nationalkultur diesseits autoritärer Klischees je gegeben hat. Die in der 1848er-Revolution geforderte Kulturnation deutscher Sprache war nie mehr als ein utopisches Versprechen. In Zeiten der Globalisierung erscheint ihr Begriff, ähnlich wie der Begriff des Nationalen, wolkiger denn je.
In der Kunst lässt sich die Überlagerung der Wiedervereinigung mit den Folgen der Globalisierung mustergültig studieren. Globalisierung ist kein exklusiv westliches Produkt, und die Kritik daran kein Privileg des Ostens. Die Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenhalt unterscheiden sich im Osten und im Westen im Grunde wenig voneinander. Die Kritik am globalisierten Kapitalismus und am Kunstmarkt als dessen repräsentativem Ausdruck war im Westen schon seit den 1960er-Jahren groß. Jüngeren Künstlerinnen und Künstlern aus Osteuropa schlug nach 1989 auch im Westen schnell der Vorwurf entgegen, sich willfährig dem Kapitalismus anzupassen, wenn sie international Karriere machen wollten. Kunst aus der DDR wiederum war vor dem Mauerfall bei manchen Kunstsammlern im Westen gerade als Gegenbild zur Westkunst gefragt, die als beliebig und wertfrei galt, während die Maler der Leipziger Schule von sich behaupteten, dass deutsche Kunst gleichsam als Widerstand gegen die Gleichmacherei der Globalisierung nur noch im Osten gemacht werde.
Nach der Wiedervereinigung bildeten sich zahlreiche Forschungsprojekte, die gerade die Kulturen in Mittel- und Osteuropa vor den Verwerfungen durch den globalen Kapitalismus bewahren wollten – anfang der 2000er Jahre zum Beispiel das wegweisende, von der Bundeskulturstiftung geförderte Projekt "Kulturelle Territorien" in Leipzig. Aber solchen Projekten ging es nicht darum, nationalistische Kulturbegriffe wiederzubeleben, sondern, wie die Kuratorinnen schrieben, darum "dass es weder einen einheitlichen Kulturraum 'Osteuropa' noch kulturell homogene 'Nationalstaaten' gibt. Kultur vollzieht sich in einzelnen Territorien, die sich überlagern, gegenseitig herausfordern und relativieren".
Man fragt sich, wo die Fähigkeit zu klarer Differenzierung in den heutigen Debatten abgeblieben ist. Die Forderungen im Dresdner Bilderstreit nach mehr ostdeutscher Kunst aus der Zeit der DDR in den Museen wurden sofort von identitären Lautsprechern gekapert. Die AfD schwang sich auf zur kulturellen Avantgarde, die den ostdeutschen Wählern den Weg zum Kampf gegen das "verrottete westdeutsche System" weisen wollte nach dem Motto: "Vollende die Wende."
Eine normale europäische Kulturnation?
Randnotizen des regionalen Kunstbetriebes entwickeln dabei bizarre mediale Blüten, wie die Debatte um den aus Halle an der Saale stammenden Maler Axel Krause im vergangenen Sommer, einen Vertreter der Neuen Leipziger Schule, der 2018 dem Kuratorium der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung beigetreten war. Daraufhin trennte sich seine Leipziger Galerie von ihm, die seine rechtslastigen öffentlichen Äußerungen gegen Flüchtlinge und das politische System der Bundesrepublik nicht mittragen wollte. Sofort danach bildeten sich zwei Lager. Für die einen war Krauses Rausschmiss eine Heldentat der Galerie, ein "Lichtblick" für den nicht gerade für ethische Verantwortung bekannten Kunstmarkt. Die Neue Rechte hingegen sah in dem Rauswurf eine Beschneidung von Krauses Kunstfreiheit und verglich ihn mit den Berufsverboten für Künstler zu DDR-Zeiten. Krause selbst bezeichnete sich öffentlich sogar als "entarteten Künstler", unter Anspielung auf die einst von den Nazis aus den Museen verbannte Avantgardekunst der Moderne, was schon deshalb absurd war, weil etwa zur gleichen Zeit bekannt wurde, dass sogar die Kunstkommission des Deutschen Bundestages eine Malerei von Krause angekauft hatte. Doch die Selbststilisierung als "entarteter Künstler" passt zur Rolle des nationalkulturellen Avantgardisten im Einklang mit dem Selbstverständnis der AfD. Die mediale Eskalation des Falles folgte aber erst so richtig, als Krause 2019 für die Leipziger Jahreskunstausstellung zuerst ein- und dann wieder ausgeladen wurde. Für alle, die dies gern so sehen wollten, ein neuerlicher Beweis für die Unfreiheit und Meinungskartelle in der angeblich so freien West-Demokratie.
25.05.2018, Sachsen-Anhalt, Aschersleben: Der Künstler Neo Rauch steht in der Grafikstiftung Neo Rauch in Mitten seiner Ausstellung "Die Stickerin". Dort sind druckgrafische und zeichnerische Werke des Künstlers gemeinsam mit Werken von Rosa Loy zu sehen. Die Gemeinschaftsaustellung der beiden in Leipzig lebenden Künstler eröffnet am 26. Mai 2018 und ist bis zum 28. April 2019 zu sehen. Foto: Klaus-Dietmar Gabbert/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
Neo Rauch und sein "Protestbild": Wer ist hier der "Anbräuner"?
Der Kritiker Wolfgang Ullrich rückt Neo Rauch in die Nähe rechter Künstler – der Maler quittiert das mit einem Bild. Ist mit "Der Anbräuner" der Kritiker gemeint? Ullrich dreht diese Lesart um und sagt: Der Maler könnte sich selbst meinen.
Kurz darauf verbreitete der westdeutsche Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich in der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" eine Art Generalverdacht gegen die Neue Leipziger Schule und ihren bekanntesten Vertreter, den Maler Neo Rauch, dem er unterstellte, dem rechtsradikalen Zeitgeist im Osten Vorschub zu leisten. Rauch hat sich in Interviews kritisch zur Flüchtlingspolitik der Bundesregierung geäußert und ihr "Gesinnungsethik" vorgeworfen. Den Schriftsteller Uwe Tellkamp hatte Rauch in Schutz genommen, als dieser mit rechtslastigen Statements hervorgetreten war, und seine Haltung zur westlichen Kunst kann man als durchaus nationalkonservativ interpretieren. Ullrichs Argumentation wirkte allerdings eher wie eine bewusste Zuspitzung denn als ein Bemühen zu differenzieren und die offenkundig schnell eskalierende Debatte von möglichen Missverständnissen zu befreien. Neo Rauch war nie ein rechter Agitator oder Hetzer. Ihn öffentlich als Künstler wegen seiner persönlichen Meinungen anzuklagen, konnte den Eindruck erwecken, dass ein Kunstkritiker aus dem Westen, selbst wenn er die allerbesten moralischen Absichten damit verfolgte, einem international erfolgreichen Künstler aus Ostdeutschland Nachhilfe in deutscher Geschichte geben wollte.
Das Problem könnte aber gerade darin liegen: dass der Kulturtransfer von West nach Ost immer eine Einbahnstraße war und nie ein Kulturaustausch. Mit der Wiedervereinigung schien vielen im Westen die Nachkriegszeit und der Kalte Krieg beendet, symbolisch also auch die unmittelbaren Folgen des Zweiten Weltkrieges getilgt zu sein. Ständig war in den 1990er-Jahren selbst bei Sozialdemokraten und manchen Linken die Rede davon, nun wolle man wieder "normales" Land sein, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder es einst ausdrückte – gar eine normale europäische Kulturnation, die mit demselben Stolz auf ihre Geschichte blicke wie die Franzosen oder Briten.
"Kein Volk kann dauernd kniend leben", äußerte Egon Bahr, der einstige Berater von Bundeskanzler Willy Brandt mit Bezug auf dessen Kniefall am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos. Das Projekt der nationalen Aussöhnung bezog sich nicht nur auf die Vereinigung von Ost und West, sondern vor allem auf die Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit. Der Schriftsteller Martin Walser komprimierte diesen Gedanken 1998 epigrammatisch in seiner berühmten Paulskirchenrede, in der er seine berüchtigte Formulierung von der "Moralkeule" Auschwitz in die Welt setzte und zugleich die Begnadigung des einstigen DDR-Agenten Rainer Rupp forderte. Walser, ehemaliger Sympathisant der DKP und alles andere als ein Leugner der Shoah, äußerte sich angesichts der Wiedervereinigung plötzlich wie ein westdeutscher Revisionist, der sich nach nichts anderem zu sehnen schien, als in seinem Leben nicht mehr mit der quälenden historischen Erbschuld, mit einer negativen nationalen Identität des Deutschen konfrontiert zu sein. Die Wiedervereinigung beinhaltete geradezu ein Erlösungsversprechen, das da lautete: als Deutscher wieder "normal" sein zu dürfen.
Das genaue Gegenteil von der Versöhnung
Doch solange die alte Projektion auf die westlich "versöhnte" Nation so machtvoll ist, so lange sie nicht grundlegend hinterfragt wird, erzeugt sie ungewollt und unbewusst jenen immer weiter sich fortsetzenden Kulturkampf und damit das genaue Gegenteil von der Versöhnung, die sie anstrebt. Anders gesagt: Solange das westliche Deutschland seinen altgewohnten Kampf gegen die DDR und die deutsche Teilung nicht aus dem Kopf bekommt, wiederholt sich die Teilung in den Konflikten der Wiedervereinigung immer wieder neu.
Der Geiger David Oistrach auf einer Schwarz-Weiß-Fotografie von Evelyn Richter
Evelyn Richter: Kunst und Alltag im Sozialismus
Evelyn Richter war Chronistin der DDR und gehört zu den bedeutendsten Fotografinnen Deutschlands. Das Albertinum in Dresden widmet Richter nun zu ihrem 90. Geburtstag eine Ausstellung mit Fotografien aus dem eigenen Bestand und konzentriert sich dabei auf ihre Portraits von Künstlern und Kunstinteressierten.
Wie könnte ein anderer, ein wahrhaft konstruktiver Umgang mit der gemeinsamen Geschichte und den Zielkonflikten der Wiedervereinigung aussehen? Eine Idee dafür lieferte im vergangenen Spätsommer wiederum eine Ausstellung. Sie trug den nüchternen Titel: "Point of No Return" und widmete sich im Leipziger Museum der Bildenden Künste den Jahren vor und nach 1989. Es ging um die Frage, wie sich die Ereignisse rund um den Mauerfall in der ostdeutschen Kunst widergespiegelt haben. Zu sehen waren neben einigen Bildern der bekannten Staatskünstler der DDR vor allem zahlreiche Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die man gerade in Westdeutschland heute kaum oder gar nicht kennt. Ihr oftmals höchst eigener Stil hat mit dem Klischee vom staatlich verordneten Sozialistischen Realismus wenig zu tun, und ihre Biografien und künstlerischen Lebenswege sind so individuell und unterschiedlich, dass sie für krude Pauschalisierungen nicht taugen. Wissenschaftliche Monografien, die diese Bezeichnung verdienen, gibt es über ihr Werk bislang kaum oder gar nicht. Oftmals hat ihr Werk die Lagerräume und Ateliers seit Jahrzehnten nicht verlassen, wenn überhaupt. Für die Leipziger Ausstellung wurden sie buchstäblich ausgegraben – für so manche Künstlerin und manchen Künstler das erste Zeichen seit Jahren, nicht vollkommen vergessen zu sein.
Das unwürdige Dasein, das die ostdeutsche Kunst der Zeit zwischen 1945 und 1989 seit der Wiedervereinigung fristet, hat so gar nichts mit historischer Gerechtigkeit zu tun. Hätte die Forschung den Kulturtransfer von West nach Ost schon vor 20, besser 30 Jahren dazu genutzt, sich unbefangen auf die Vielfalt der künstlerischen Lebensläufe in Ostdeutschland einzulassen, Forschungsprojekte und Ausstellungen gerade im Westen zu organisieren, Kataloge als Standardwerke zu veröffentlichen – womöglich gäbe es heute zwischen den beiden Teilen Deutschlands weniger kulturelle Missverständnisse. Das Beispiel der Leipziger Ausstellung steht für eine Kultur der Verständigung auf Augenhöhe – schade, dass keine westdeutschen Kuratoren daran mitgewirkt haben. Immerhin war auch der Dresdner Bilderstreit-Initiator Paul Kaiser dabei – und diesmal kam er ganz ohne flammende Anklagen aus.