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30 Jahre Mauerfall
Ost-Westdeutsche Wissenschaft nach der Wende

"Einpassung": Der Begriff sollte sich durchsetzen in den rasenden Monaten zwischen Mauerfall und Tag der Deutschen Einheit. Heute, 30 Jahre danach, gibt die Entwicklung der ostdeutschen Forschungslandschaft nicht jeder Entscheidung von damals Recht.

Von Lydia Heller und Tom Strohschneider | 03.10.2019
Chemielabor der Universität Jena, undatierte Aufnahme von 1960.
Universitäten fungierten in der DDR eher als Ausbildungsstätten, in denen Forschung eine untergeordnete Rolle spielte (picture alliance/dpa-Zentralbild/Universität Jena)
Erich Honecker: "Die Arbeiterklasse wird, indem sie sich mehr und mehr die Wissenschaft aneignet, in noch höherem Grade zur produktiv tätigen und Macht ausübenden Klasse zugleich."
Jürgen Kocka: "Ich bin nie wieder – nie vorher und hinterher nie wieder – so nah in die Politik geraten."
Stefan Wolle: "Auf der einen Seite wollten sie gerade auf dem Gebiet der Wissenschaften nur reine Ja-Sager haben, die zu allem nickten, was die Partei sagt. Auf der anderen Seite wollten sie natürlich auch mit ihrer Wissenschaft Renommee erringen, auch international."
Thomas Kuczynski: "Ja, man kann aus den schlechtesten ideologischen Gründen beste wissenschaftliche Arbeit liefern. Das ist das, was viele überhaupt nie kapieren im Osten und im Westen."
Tagesschau: "Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland."
Horst Klinkmann: "Wenn wir jetzt zurückgucken, dann beschleicht zumindest mich immer noch etwas Trauer, wie das gelaufen ist. Und wie viele Chancen vergeben wurden."
Kocka: "Wir waren der Hoffnung, dass diese präzedenzlose Form der wissenschaftlichen Integration zweier Systeme nicht einfach zu einer Verlängerung des bundesrepublikanischen Systems führen würde."
30 Jahre nach dem Umbruch: Wie denken die Akteure von damals über diese Zeit?
Wolle: "Als wir noch mit den Kerzen vor der Kirche standen, da saßen die schon irgendwo in Westdeutschland und haben sich da überall angebiedert."
Wer konnte handeln? Wer war Verhandlungsmasse? Wer waren die Entscheider – und wie entschieden sie?
Klinkmann: "Damals hatte ich eine Gastprofessur in Glasgow. Und ich bin dann nach diesen Gesprächen nach Glasgow gefahren und hab mit meinen schottischen Kollegen darüber gesprochen. Und dann hab ich sie gefragt: Habt Ihr denn nicht irgendwelche Befürchtungen, wenn ihr seht, dass die beiden Potenziale zusammenkommen? Es ging immer um die Wissenschaft. Dass daraus etwas entstehen kann, was noch eine größere Konkurrenz, international, zu euch ist. Und da haben mich meine Schotten angeguckt und haben gesagt: ‚Oh no. We know the Germans very well. They will kill each other.’"
"Institutionen-Wandel" nach der Wiedervereinigung
Oktober 1990. Der Tag der Deutschen Einheit ist gefeiert, der Fall der Mauer liegt noch kein Jahr zurück. Jetzt nimmt Fahrt auf, was in Politikwissenschaft und Soziologie "Institutionen-Wandel" genannt wird: Die Umgestaltung von Wirtschaft und Recht, von Gesundheitswesen und Behörden und nicht zuletzt: von Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen. Und – in diesem Fall – deren Neu-Organisation nach dem Vorbild der alten Bundesrepublik.
Renate Mayntz: "Was beeindruckt - sozusagen aus der Rück-Perspektive - ist mit ein Grund für die jetzt zu bemerkende Unzufriedenheit. Nämlich: Sie geht zurück auf eine politische Entscheidung, die DDR, ganz einfach - sie trat bei. Sie trat bei und wurde Teil eines anderen Regimes, nämlich des westdeutschen Regimes. Und jetzt kommt das so richtig zum Bewusstsein wieder."
Renate Mayntz. Anfang der 1990er Jahre ist sie Professorin an der Universität und am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Bis heute ist sie noch am Freitagnachmittag im Büro anzutreffen. Als Soziologin und Politikwissenschaftlerin begleitet sie damals den Umbau der ostdeutschen Forschungslandschaft, schreibt zwei Bücher darüber.
Mayntz: "Es ist ja interessant, dass die wichtigste Forschungsinstitution, die AdW, also die Akademie der Wissenschaften der DDR, die von ihrer Struktur her mit dem westdeutschen System überhaupt nicht übereinstimmte – war total anders – dass in dem Einigungsvertrag ganz schlicht entschieden wurde: Es wird aufgelöst."
Pressemitteilung des Bundesministers für Forschung und Technologie, 3. Juli 1990: "Es wird eine einheitliche Forschungslandschaft für Gesamtdeutschland angestrebt. Eine zentrale Aufgabe ist die Einpassung der in der Akademie der Wissenschaften zusammengefassten Einrichtungen in eine solche Forschungslandschaft."
Ende der AdW beschlossen
"Einpassung" ist der Begriff, auf den man sich geeinigt hatte, in Bezug auf die Zukunft der Akademie der Wissenschaften. Im Sommer 1990, in einer Runde aus Politikern und Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik und der damals noch bestehenden DDR. Damit ist das Aus der AdW als eigenständiger Forschungsinstitution beschlossen. Wer saß in dieser Runde? Und wer setzt das Vorhaben jetzt um?
Dieter Simon: "Ja, der Minister Riesenhuber hat uns eines Abends eingeladen ins Ministerium zu kommen, nach Bonn, um zu sagen: Ja meine Herren, die Wiedervereinigung sozusagen steht vor der Tür und wir müssen uns jetzt auch klar werden: Wie machen wir das denn mit der DDR?"
Dieter Simon, Rechtshistoriker und Byzantinist, zwischen 1989 und 1992 ist er der Vorsitzende des Wissenschaftsrats. Ein Expertengremium, das Regierung und Länder der alten Bundesrepublik seit 1957 in wissenschaftspolitischen Fragen berät.
Simon: "Und wir haben uns darüber verständigt, das machen wir so. Der Wissenschaftsrat bewertet alles, was da ist und dann wird gesagt: So führen wir das zusammen."
"Der Wissenschaftsrat wird gebeten, unter Einbeziehung von Wissenschaftlern und Wissenschaftspolitikern aus der DDR eine Bewertung der Forschungskapazitäten der DDR unter seine Schirmherrschaft zu nehmen und Vorschläge zu ihrer Neuausrichtung zu machen." – Bundesminister für Forschung und Technologie an die Presse, 3. Juli 1990.
Simon: "Und wir haben dann - freudig über diese wunderbare Aufgabe, über deren Zuschnitt wir nicht die geringste Ahnung hatten - wir haben gesagt: Ja, machen wir. Selbstverständlich, wir evaluieren."
Mayntz: "Dieser ganze Prozess der Begutachtung und der Entwicklung von Reform-Vorschlägen, der an dem, was die Wissenschaftler der DDR wollten, total vorbeiging. Aber völlig vorbeiging."
Jürgen Fischbeck: "Das ist mir das wichtigste, dass nicht diese für uns beklemmende Einschätzung alles bestimmt: Das war ja alles nüscht bei euch."
Jürgen Fischbeck, damals Physiker am AdW-Zentralinstitut für Elektronenphysik, 1991 in einem Interview.
Fischbeck: "Das war ja alles nüscht bei euch."
Evaluation von AdW-Instituten
In der DDR findet Forschung überwiegend außeruniversitär und staatlich gefördert an den Akademien statt. Die wichtigste ist die Akademie der Wissenschaften, AdW. Mit dem breitesten Spektrum an Disziplinen, organisiert in etwa 60 Instituten. An die 24.000 Leute arbeiten hier, vom Pförtner bis zum Spitzenforscher. Rund 50 Universitäten und Hochschulen kommt vor allem die Aufgabe zu, den akademischen Nachwuchs auszubilden und die Industrie mit qualifizierten Fachkräften zu versorgen.
Simon: "Da haben wir gesagt: ‚Ja, wir evaluieren. Wie machen wir das? Das machen wir dann halt so wie bei uns.‘"
Im Herbst 1990 beginnen rund 500 Sachverständige aus Ost und West, die AdW-Institute zu begutachten. Sie suchen nach denen, die im internationalen Wettbewerb mithalten - und mittelfristig eingegliedert werden können in die westdeutsche Forschungslandschaft:
Simon: "Und da gab es ja bestimmte Regeln, wie man das macht. Zum Beispiel: Man fragt die Leute, wie sie sich selbst im Ranking der Wissenschaften sehen. Seid ihr Spitze, seid ihr mittel, seid ihr vielleicht nur unten, wie seht ihr Euch? Gut. Dann, dass man begeht, die Orte, was man da für Fragen stellt: Die Zufriedenheit der Mitarbeiter und dann hat man da so ein kleines Set. Ob das jemals schriftlich ausgearbeitet war, weiß ich nicht. Jedenfalls nach einem halben Jahr hatte ich das im Kopf. Und danach sind wir verfahren."
"Insgesamt gesehen kann es nicht einfach darum gehen, das bundesdeutsche Wissenschaftssystem auf die DDR zu übertragen. Vielmehr bietet der Prozess der Vereinigung auch der Bundesrepublik Deutschland die Chance, selbstkritisch zu prüfen, inwieweit Teile ihres Bildungs- und Forschungssystems der Neuordnung bedürfen." – Wissenschaftsrat, "Zwölf Empfehlungen für Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zur Deutschen Einheit", Juli 1990.
Simon: "Das hatten wir dann sogar kurioserweise mit dem Herrn Riesenhuber noch besprochen: Wir machen das nur, wenn wir anschließend dann, nachdem wir die DDR evaluiert haben, die Bundesrepublik evaluieren. Das fanden wir ganz toll. Es darf auf keinen Fall so aussehen, dass wir die erobern, übernehmen."
Tom Rapoport: "Im Nachhinein muss ich sagen, waren - ich insbesondere, aber, ich glaube, alle in dieser Kommission - ausgesprochen naiv. Weil - natürlich ist es nie dazu gekommen, die gesamte Wissenschaftslandschaft in Deutschland zu evaluieren. Das Ganze ist im Prinzip nach hinten losgegangen."
Tom Rapoport, Zellbiologe, geboren in den USA als Sohn des Biochemikers Mitja und der Neonatologin Ingeborg Rapoport, beide Pioniere in ihren Fachgebieten. Er arbeitet Ende der 1980er Jahre am Zentralinstitut für Molekularbiologie in Berlin-Buch. Einer der Spitzen-Forscher der DDR, seine Arbeiten zur mathematischen Modellierung von Stoffwechsel-Prozessen werden international zitiert. Und - einer von vier DDR-Wissenschaftlern, die der Wissenschaftsrat schon früh als Berater heranzieht, wenn es um die künftige deutsche Forschungslandschaft geht.
Rapoport: "Ich meine, ich hab da keine große Rolle gespielt in dieser Kommission. Aber trotzdem fühle ich mich schuldig, dass ich in dieser Kommission mitgewirkt habe. Diese Kommission, die Evaluationen machen sollten, wurden zusammengesetzt hauptsächlich von Wissenschaftlern aus der Bundesrepublik. Also im Grunde genommen war das eine Kommission, die von außen kam. Erstmal scheint es ja nicht so schlecht zu sein, denn Evaluationen können ja nicht von innen gemacht werden. Die Auswahl der Wissenschaftler, die daran beteiligt waren, war meiner Ansicht nach ziemlich gut, die hatten sehr prominente Wessis da drin. Viele fühlten sich sehr unwohl, weil sie sich bewusst waren, dass sie gar nicht einschätzen können, die Qualität der Wissenschaft unter den Bedingungen, die existiert haben."
"Klare Orientierung auf praktische Wirksamkeit"
Wissenschaft und Forschung gelten in der DDR als Werkzeuge im Dienst des Aufbaus der sozialistischen Gesellschaft im Sinne der SED-Spitze. Woran geforscht wird, entscheidet meist ein kleiner Kreis von Partei- und Regierungsmitgliedern, der die Ressourcen entsprechend verteilt.
Peer Pasternack: "Es war eine ganz klare Orientierung auf praktische Wirksamkeit."
Peer Pasternack, in den Wendejahren Sprecher der ostdeutschen Konferenz der Studierendenschaften, heute Professor für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Pasternack: "Die Naturwissenschaften, die betraf das vor allem, wurden spätestens seit Ende der 60er Jahre massiv angehalten, geradezu genötigt mit den Kombinaten, also den großen Industrie-Betrieben in der DDR, Praxisverbindungen zu unterhalten, gemeinsame Forschungsprojekte zu betreiben und möglichst schnell auch Grundlagenforschungsergebnisse in Anwendungs-Lösungen, also die Optimierung von Produkten, von Verfahren zu überführen. Und dafür gab es eine relativ strikte Bindung von Wissenschaftssystem und Wirtschaftssystem."
Knappe Devisen
Etwa die Hälfte der Forschungsgelder kommen aus der Industrie. In der Praxis heißt das auch: Forscher werden nicht angehalten, in den führenden Fachzeitschriften zu publizieren. Oder eine Publikation ist nicht möglich, weil die Anwendungs-Forschung der Geheimhaltung unterliegt. Oder weil Produkte und Verfahren nicht neu, sondern nach-entwickelt werden, damit die DDR sich unabhängig von Importen machen kann, für die Geld fehlt. Oder weil nötige Laborgerätschaften nicht eingekauft, sondern nachgebaut werden, weil sie auf der CoCom-Liste stehen – der Liste für Produkte, für die im Westen ein Exportverbot gilt.
Rapoport: "Also, Molekularbiologie – wenn man da vernünftig arbeiten wollte, musste man Reagenzien haben, die aus dem Westen kamen und die Devisen waren sehr knapp. Und es waren auch die Kontakte eingeschränkt. Ich gehörte zu den Glücklichen, die ins westliche Ausland fahren durften, aber trotzdem - nicht alle durften fahren. Ich bin dann praktisch alle zwei Jahre in die USA gefahren. Auf Einladung von Freunden und Kollegen, die dann auch alles finanzieren mussten. Und dann habe ich häufig von diesen USA-Aufenthalten Chemikalien mitgebracht, sogenannte Hosentaschen-Importe. Zum Beispiel habe ich Trockeneis ins Flugzeug mitgenommen oder lebende Tiere und solche Sachen, was heute gar nicht mehr möglich wäre. Und mit diesen Importen und auch mit den Kontakten, die ich dann hatte, haben wir dann also trotz der relativ widrigen Bedingungen sehr gute Forschung machen können."
Prüfverfahren auf westdeutsches System zugeschnitten
Das wird oft erkannt - aber nicht immer. Rund ein Jahr lang ziehen die Evaluations-Kommissionen von Institut zu Institut, quer durch die ehemalige DDR. Manchmal bleiben sie Tage, manchmal Stunden. Sprechen mit leitenden Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Mitarbeitern, sehen sich in Büros und Labors um. Sie merken: Ihre Besuche sind zu kurz, um sagen zu können, ob ihnen ein potemkinsches Dorf präsentiert wird oder nicht. Sie lesen Projektberichte ihrer ostdeutschen Forscherkollegen, auf die die Kriterien, die sie anlegen, nicht passen. Und sie wissen: mit ihrem Urteil steht und fällt die Zukunft dieser Kollegen:
Simon: "Da gab es viele Mängel in diesem Verfahren, die wir aber nicht mehr korrigieren konnten. Also erstens: hatten wir ja nun wirklich keine Ahnung, wie es in der DDR-Wissenschaft, wie die aussieht. Und bestimmte Fragen waren völlig sinnlos, also die Frage: ‚Wird dieses Verfahren, etwa bei der Chemie, ist das ein Verfahren, das dem entsprechenden Verfahren in der Schweiz oder Italien ähnlich ist oder überlegen oder unterlegen.‘ Dazu hätten die das ja nun wissen müssen, die Leute aus dem Osten, wie das Verfahren in der Schweiz und in Italien ist. Also, die Fragen waren auf das westdeutsche System zugeschnitten. Das war falsch halt. Und natürlich, die ostdeutschen Kollegen haben es als erste gemerkt und sind nach wenigen Sitzungen nicht mehr gekommen."
In Berlin-Buch, einem der Vorzeige-Standorte der DDR-Wissenschaft mit 1.600 Mitarbeitern, halten sich die Gutachter drei Tage auf. Nach drei Monaten verkündet ein 24 Seiten dünner Abschluss-Bericht das Aus für die drei Zentralinstitute für Molekularbiologie, Krebsforschung und Herz-Kreislauf-Forschung. Der Campus wird 1992 als Großforschungszentrum für molekulare Medizin neu gegründet, später Teil der Helmholtz-Gemeinschaft. Die beiden zu den Zentralinstituten gehörenden Forschungskliniken werden der Charité der Humboldt-Universität zu Berlin angegliedert. Die Zahl der Mitarbeiter reduziert sich auf die Hälfte.
Arbeitsplatzverluste ostdeutscher Wissenschaftler
Letztlich stellen die Evaluationskommissionen etwa zwei Dritteln der Akademie-Institute ein positives Zeugnis aus. Mathematik und Geologie, Kosmosforschung und Medizin wird eine hervorragende Qualität bescheinigt, der Astrophysik eine bessere als in der alten BRD. Von 60 Instituten werden 21 in Nachfolge-Institute umgegründet, 28 in mehrere Einrichtungen aufgegliedert und fünf in bestehende Forschungsinstitutionen integriert. Sechs Institute werden aufgelöst. Weit weniger als die Hälfte der Mitarbeiter behalten ihre Arbeitsplätze.
2019 führt das Ranking der Humboldt-Stiftung sechs Nachfolger ehemaliger Akademie-Institute unter den 25 besten außeruniversitären Forschungseinrichtungen in Deutschland auf. Darunter das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam, in das Teile des Zentralinstituts für Physik der Erde eingingen. Und das Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY, dessen Standort in Zeuthen bis 1992 das Akademie-Institut für Hochenergiephysik beherbergte. Schon in den 1960er Jahren arbeitete man dort mit dem DESY in Hamburg und dem CERN in Genf zusammen – heute ist es eins der weltweiten Zentren für Teilchenphysik. Haben die Evaluationskommissionen letztlich doch die richtigen Fragen gestellt?
Klinkmann: "Ich hatte ja nun damals in meinem verzweifelten Kampf um den Weiterbestand der Akademie – dass das nicht gelungen ist, ist wohl die größte Niederlage meines Lebens - hatte ich dann ja noch einmal einen Versuch gemacht."
Horst Klinkmann. Geboren und aufgewachsen in Mecklenburg, Spezialist für Nieren-Dialyse, in den Wendejahren Professor für Innere Medizin an der Universität Rostock – und erster demokratisch gewählter Präsident der Akademie der Wissenschaften. In dieser Funktion ist er damals offizieller Ansprechpartner für Dieter Simon und die Führungsriege der westdeutschen Forschungsinstitutionen.
Klinkmann: "Und ich habe dann gesagt: Warum behalten wir den Verbund der Akademie-Institute nicht als Verbund einer weiteren Forschungsgemeinschaft. Der sich dann im freien Wettbewerb, entsprechend der Leistungsfähigkeit um staatliche Mittel bemühen musste im Vergleich mit Max-Planck, mit Fraunhofer, mit den Westdeutschen. Dann hätten wir der Wissenschaft der DDR eine Chance gegeben, sich im Wettbewerb zu behaupten unter Beachtung aller Prämissen einer freien, demokratischen Wissenschaftsgesellschaft."
Er setzt sich nicht durch.
Klinkmann: "Die Beurteilung der Leistungsfähigkeit der Wissenschaft wurde damals einfach überschattet durch die Beurteilung des politischen Systems der DDR. Diese Verbindung: das politische System ist gleich der Wissenschaft oder die Wissenschaft ist gleich morbide wie das politische System – da gab es keine Kräfte, die dem widersprochen haben."
Forschung und politische Gesinnung
Die Gutachter des Wissenschaftsrats evaluieren Strukturen. Das betont Dieter Simon in dieser Zeit immer wieder. Sie fragen nach Konzepten, Publikationen und internationalen Beziehungen. Aber – so sehr ihre Vorgehensweise auch auf die alte Bundesrepublik zugeschnitten ist: DDR-Forscher nach politischer Gesinnung beurteilen – das soll sie nicht.
Rapoport: "Naja. Also, aber was danach kam, war ja Folgendes: Dann wurde also beschlossen, ich glaube, 17 Professorenpositionen sollten geschaffen werden am neugegründeten Max-Delbrück-Centrum. Und dann konnten sich nun alle bewerben auf diese 17 Positionen. Am Ende hat man vier DDR-Leute, die vorher schon da waren, auf solche Positionen berufen. Und der Rest der Positionen wurde an Leute vergeben, die vorher nicht da waren. Alles Wessis. Das war eine wahnsinnige Gelegenheit für viele westdeutsche Wissenschaftler, die vorher Schwierigkeiten hatten, in der Bundesrepublik eine Position zu kriegen, nun doch noch Karriere zu machen. Das war nicht nur am Max-Delbrück-Centrum so, das war überall so. Viele der DDR-Professoren wurden abgesetzt, weil sie angeblich politisch nicht mehr tragbar waren. Und wurden ersetzt durch westliche Wissenschaftler, die nicht besonders gut sind."
Tom Rapoport - dessen Eltern in den 1930er Jahren in die USA emigriert waren und später als überzeugte Sozialisten in die DDR übersiedelten - und der 1969 in die SED eintrat, bewirbt sich auch. Zweimal wird er abgelehnt - aus politischen Gründen. Die in Heidelberg, am Weizmann-Institut in Israel und an der Harvard-University offenbar nicht so schwer wiegen. Von dort gibt es Rufe - heute ist Tom Rapoport Professor für Zellbiologie an der Harvard Medical School in Boston. Auch Horst Klinkmann - dessen Arbeitsbereich für Nieren-Dialyse-Verfahren und künstliche Organe an der Universität Rostock international einen hervorragenden Ruf genießt - stürzt über Parteimitgliedschaft und Staatsnähe. 1992 wird wegen "politischer Verfehlungen" seine Entlassung empfohlen. Er geht an die Universität Bologna. Später entschuldigt sich das Land Mecklenburg-Vorpommern öffentlich.
Mayntz: "Aber jetzt reden Sie über eine relativ kleine Gruppe, eine Minorität. Von Wissenschaftlern, die vorher solche Kontakte in den Westen hatten und die dann auch stabil blieben. Das war ja nicht die Menge der Wissenschaftler. Die Gemeinschaft der Forscher in der DDR war ja intern extrem differenziert. Und selbstverständlich haben die, je nach ihrer eigenen wahrgenommenen Position, in der Wendezeit sich anders verhalten."
Wer fordert, ausschließlich nach Leistung zu schauen, blendet Machtverhältnisse aus. Das gilt für Ost und West gleichermaßen – und stellt die Akteure des Umbaus vor ein Dilemma. Werden die alten Seilschaften radikal zerschlagen, schreibt Renate Mayntz 1994, so könne damit auch gutes Forschungspotenzial verlorengehen. Hält man zu sehr am Bestehenden fest, schreibt man alte Privilegien-Strukturen fort.
Fischbeck: "An der Akademie findet man nicht wenige Wissenschaftler, die sich nicht anpassen wollten, ein Kollege von mir zum Beispiel, hatte aus politischen Gründen mehrere Jahre im Zuchthaus gesessen und ist an der Akademie dann aber untergekommen."
Jürgen Fischbeck, Physiker am Zentralinstitut für Elektronenphysik, aktiv in der evangelischen Kirche, DDR-Bürgerrechtler – 1991 in einem Interview.
Fischbeck: "Ich selber hatte auch große Schwierigkeiten an der Universität und hätte mit Sicherheit keine Chance gehabt, an der Universität eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Man wollte diese unangepassten Wissenschaftler nicht zu Lehrern der Studenten machen."
Jens Reich: "Bei uns im Institut haben eine gute Note gekriegt: die drei vergangenen Parteisekretäre."
Jens Reich, auch 1991. Er ist damals Molekularbiologe an der AdW in Buch. Unterhält Kontakte in den Westen und zu Dissidenten in Polen und Ungarn. Kritisiert die Militarisierung der DDR-Schulausbildung. Und verliert seine Position als Arbeitsgruppenleiter.
Reich: "Waren Parteisekretäre und haben ihre guten Arbeiten alle miteinander im Ausland gemacht, zweimal USA, einmal England. Das ist gerecht, das Urteil, will ich nicht infrage stellen, aber die Möglichkeit ins Ausland zu fahren, war ein Privileg, das nur wenige bekamen."
Gesellschaftswissenschaften als Bestätigungsinstitutionen
Leistungsfähigkeit und Haltung zum politischen System der DDR sind eng verknüpft. Wer als ideologisch unzuverlässig gilt, muss Nachteile in Kauf nehmen. Mehr als 80 Prozent der DDR-Forscher etwa sind keine sogenannten "Reisekader", können nicht ins westliche Ausland fahren, sich nicht auf Konferenzen mit Kollegen austauschen. Viele von ihnen "überwintern" auf ihren Stellen, widmen sich Themen, die nicht mit den staatlichen Vorgaben kollidieren. Besonders deutlich wird das in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften.
Kocka: "Nach vielen Jahren Diktatur waren viele der Institute auch innerlich zerklüftet und es gab nicht die DDR-Meinung."
Jürgen Kocka. In den Wendejahren Professor für Sozialgeschichte an der Freien Universität in Westberlin – mit Fokus auf die Geschichtswissenschaften der DDR. Bis 1992 ist er an der Evaluation der Geisteswissenschaften der DDR beteiligt.
Kocka: "Es gab viele Jüngere, die nicht zum Zuge gekommen waren und die sich jetzt sehr dagegen gewehrt hätten, wenn einfach eine Fortführung der alten Führungs-Eliten in den Institutionen stattgefunden hätte. Es gab nicht nur den Ost-West-Gegensatz. Es gab sehr starke Ost-Ost-Gegensätze im gesamten Prozess der Wiedervereinigung der Wissenschaften."
Stefan Wolle: "Die Geschichtswissenschaft und insgesamt auch die anderen Gesellschaftswissenschaften der DDR waren degeneriert, herabgesunken zu reinen Bestätigungsinstitutionen der SED-Politik. Es hieß immer: ‚Historiker sind Parteiarbeiter an der wissenschaftlichen Front‘. Also die oberste Wahrheit wurde von der Partei ausgegeben, es gab keine wissenschaftliche Wahrheit. Und unter solchen Bedingungen degeneriert natürlich das kritische Denken und überhaupt die kritischen Fähigkeiten, auch die wissenschaftlichen Fähigkeiten."
Stefan Wolle. Anfang der 1970er Jahre studiert er Geschichte an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin. Wird wegen unliebsamer politischer Äußerungen relegiert und soll sich daraufhin "in der Produktion bewähren". Kann später sein Studium fortsetzen und landet am AdW-Institut für Allgemeine Geschichte.
Wolle: "Nach diesen Erlebnissen an der Humboldt-Universität hatte ich natürlich das Bestreben, zwischen mich und die Gegenwart mindestens 1.000 Jahre zu bringen. Ich hab mich dann erstmal mit dem Mittelalter beschäftigt und war dann sehr zufrieden, als eine Stelle angeboten wurde für die alte russische Geschichte. Leute, die irgendwie menschlichen Anstand besaßen, die flohen alle ins Institut für Alte Geschichte und Archäologie oder in die Mediävistik und so weiter, um da irgendwie noch den Geist von der reinen Wissenschaft hochhalten zu können, das war dieser Grundkonflikt."
Aber auch dort, wo man den staatlichen Vorgaben nachkommt und auf wissenschaftlicher Grundlage politische Konzepte mitentwickelt, gelingt das selten.
Hochschulforscher Peer Pasternack: "Weil die Gesellschaftswissenschaftler immer Dinge produzierten, von denen dann die Funktionäre sagten: das funktioniert nicht oder das gefährdet die Machtgrundlagen, es ist nicht abschätzbar in den Folgen und so weiter – also das ist regelmäßig gescheitert."
Die Arbeiten landen im Panzerschrank.
Simon: "Ja, was machen Sie dann? Es gab ja auch die Situation, es gab viele Leute, die uns was erzählt haben, das war furchtbar für mich, zum Teil. Die haben gesagt: Ja, ich durfte ja nicht schreiben, was ich eigentlich hätte schreiben wollen. Es musste alles marxistisch sein und ich bin ja doch kein Anhänger. Und dann habe ich gesagt: Ja, haben Sie was? Und es lag nichts in den Schreibtischen. War leer. Ich habe mich immer dafür entschieden zu sagen: Ich vertraue meinem Eindruck."
Die Gutachter im Evaluationsprozess entscheiden auch hier letztlich auf der Grundlage der überzeugendsten wissenschaftlichen Präsentation. Sie suchen nach geistes- und sozial-wissenschaftlicher Forschung, die die in diesen Bereichen im Westen übliche am ehesten ergänzt. Und finden diese vor allem dort, wo Forschung und politischer Rahmen der DDR übereinstimmen: bei der Marx-Engels-Gesamtausgabe, an der am Akademie-Institut für Marxismus-Leninismus gearbeitet wird, die ein Export-Schlager ist und die bis heute – unter anderer Ägide – weiterbesteht; und am Institut für Wirtschaftsgeschichte.
Kocka: "Das war natürlich deutlich marxistisch-leninistisch, gleichzeitig sehr produktiv und eigentlich war schon klar, dass da auch qualitätsvolle Arbeit geleistet wurde. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Arbeit, die nicht schlechter war als an westlichen Universitäts-Instituten. Will nicht sagen, dass sie besser war. Sie war aber anders akzentuiert durch ihre Verpflichtung auf an Marx orientierte Fragestellungen. Und dadurch kamen Perspektiven in den Blick, die in anderen westdeutschen Instituten nicht so zentral waren."
Es wird trotzdem aufgelöst.
Kocka: "Da denke ich mit einer gewissen Ambivalenz daran zurück."
Simon: "Dieses Institut wäre etwas gewesen, was man hätte aufrechterhalten sollen, als Stachel im Fleisch des Mainstreams."
Kuczynski: "Das sind die Krokodilstränen."
Thomas Kuczynski, geboren in London, Sohn von Jürgen Kuczynski, dem berühmtesten DDR-Ökonomen und Gründer des Instituts für Wirtschaftsgeschichte. Aufgewachsen mit nahezu allen Privilegien, die die DDR zu bieten hatte, bis heute international anerkannter Marx-Experte und – selbst letzter Direktor des Instituts:
Kuczynski: "Ich meine, als ich das Institut geschlossen habe, war von den Wissenschaftlern kein einziger arbeitslos. Im Grunde haben die Evaluatoren genauso gehandelt, wie sie es ihren Kollegen in der DDR vorgeworfen haben: Sie haben den politischen Maßgaben nachgegeben. Sie hätten feststellen müssen: Wir haben keine Ahnung von dieser Wissenschaftslandschaft, Herr Minister, wir müssen da drei Jahre lang Feldforschung machen und dann können wir ein Gutachten abgeben. Also das, was jeder normale Ethnologe macht. Genau das haben sie aber nicht gemacht, sie haben gehorcht. Das sagt etwas aus über die Entscheidungsfreiheit von Wissenschaft."