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30 Jahre MTV Europe
Einst revolutionär, heute bedeutungslos

Am 1. August 1987 ging MTV Europe zum ersten Mal auf Sendung. Was als popkulturelle Revolution begann, ging Anfang der Nullerjahre im Pay-TV unter. MTV sei an der Regionalisierung gescheitert, erklärte Kommunikations- und Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner im Dlf. "Popmusik ist ein globales Produkt."

Marcus S. Kleiner im Corsogespräch mit Juliane Reil | 01.08.2017
    Mit einem frechen Spot präsentierte sich der nagelneue Kabelsender MTV in seiner ersten US-Sendung am 1. August 1981: In den historischen Aufnahmen von der ersten Mondlandung, die Neil Armstrong beim Hissen der amerikanischen Flagge zeigen, wurde das Sternenbanner kurzerhand mit dem MTV-Logo ersetzt (undatiertes MTV-Handout). Seit 1987 gibt es MTV auch in Europa. In Deutschland ist MTV streng genommen erst seit Juni 1988 zu sehen. Damals schalteten sich knapp 52.000 Haushalte ein. Das erste Live-Programm wurde am 7. November 1989 gesendet, zwei Tage vor dem Fall der Berliner Mauer.
    Am 1. August 1987 ging MTV Europe zum ersten Mal auf Sendung (MTV/dpa - Fotoreport)
    Juliane Reil: Vor 30 Jahren war MTV im Fernsehen Punk und gab der Popkultur wichtige neue Impulse. Am 1. August 1987 ging MTV Europe nach den USA zum ersten Mal auf Sendung. Die 90er-Jahre, die Hochphase des Senders, und dann verschwand er auf einmal in der Versenkung des Pay-TV. Und jetzt kehrt es kostenlos als Livestream im Netz zurück. Spielt MTV aber heute überhaupt noch eine Rolle? Marcus S. Kleiner ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaften. Er unterrichtet an der Hochschule der populären Künste in Berlin. Hallo zum Corsogespräch.
    Marcus S. Kleiner: Hallo!
    Reil: 30 Jahre bedeutet in der Popkultur eine Ewigkeit. Wie gut ist MTV gealtert?
    Kleiner: MTV ist zumindest 20 Jahre lang gut gealtert, also bis zum Ende der 90er-Jahre. Und danach hätte MTV schon sofort in den Ruhestand gehen sollen. Denn MTV hat nicht mehr verstanden, zeitgemäß - auch mit Blick auf die sich verändernden Jugendkulturen und das Medien-Nutzungsverhalten der Jugend Musik und Fernsehen zusammen zu bringen, also Popmusik zu visualisieren im Musikfernsehen. Das hat nicht mehr so gut funktioniert. Und das hat MTV relativ schnell gemerkt, indem sie so 2006 bis 2008 ihr Programm komplett umgestellt haben, indem es immer mehr nicht musikzentrierte Serien und Show-Formate gab. Und es war auch die Hochzeit der Klingelton-Werbung. Also Musik verschwand nach und nach immer mehr aus dem Programm des Musikfernsehens.
    "Die Chance, aus einem Musikvideo Kunst zu machen"
    Reil: Gut, aber zu Anfang war das ja anders. Da war es eine Plattform für Musikvideos, die teilweise provokativ waren und künstlerisch immer ambitionierter wurden. Das Musikvideo ist eigentlich nach und nach zur Kunstform geworden. Welchen Anteil hat MTV daran gehabt?
    Kleiner: MTV war ganz wichtig, das Musikvideo zu einer Kunstform zu entwickeln, indem es eine Plattform war, ein medialer Rahmen war, in dem man experimentieren konnte. Die Plattenfirmen hatten in den 80er-Jahren und den 90er-Jahren ein hohes Interesse daran, ihre Musik auf einem anderen Kanal mit einer anderen Wertung zu versehen. Das heißt: Das Musikfernsehen hatte die Chance, aus einem Musikvideo Kunst zu machen. Musik wird eigentlich als Konsumgegenstand wahrgenommen, den man kaufen konnte, auf CD oder auf Platte oder auf Kassette kaufen konnte. Es war noch nicht die Zeit in den 80er, 90er-Jahren, wo man die Musik einfach downloaden konnte oder über unendlich viel Musik verfügen konnte.
    Also Musik war einerseits ein Konsumgut, wenn man es kaufen konnte in den Musikmärkten, andererseits war es aber durch das Musikfernsehen - und hier vor allem durch MTV - zu einer Kunstform geworden, weil es den Blick auf das Fernsehen komplett verändert hat. Es hat neue Fernsehbilder entstehen lassen in den Musikvideo-Clips, die man vorher nichtgesehen hat und die die Entwicklung des Fernsehnens mit dem Bewusstsein - was ist denn überhaupt ein Fernsehbild und wodurch unterscheidet sich ein Fernsehbild von einem Filmbild? - wahnsinnig stark beeinflusst hat.
    "Das Schaufenster zu den jugendkulturellen Welten"
    Reil: Aber das haben ja nicht nur die Videos mit ihrer Ästhetik beeinflusst, also dass sich Fernsehen eben verändert hat oder unsere Sehgewohnheiten viel besser, wie wir Fernsehen gesehen haben, sondern eben auch MTV selbst als Präsentationsform. Oder?
    Kleiner: Ja, MTV hat eine eigene Lebenswelt geschaffen für Jugendliche, an denen sich Jugendliche orientieren sollten. Das hat einerseits mit Musik zu tun gehabt, natürlich aber auch mit den Jugendkulturen selbst. Wie sah der Rocker aus? Wie sah jemand aus, der Punk gehört hat, der Metal gehört hat, der R'n'B, Hip-Hop gehört hat? MTV war das Fenster, das Schaufenster zu den jugendkulturellen Welten, in denen man all das sehen konnte und begreifen konnte, was unterschiedliche Jugendkulturen ausgemacht hat. Und: MTV war die große Bühne für das, was überhaupt Jugend bedeutete. Und sie haben eine eigene MTV-Lebenswelt kreiert, die für die internationalen Jugendlichen der wichtigste Orientierungsmaßstab in ihren Entwicklungsprozessen war.
    Reil: Gibt es dafür ein Beispiel? Weil ich zum Beispiel unheimlich an die Moderatoren von MTV zurückdenke, an einen Ray Cokes, der sehr unkonventionell moderiert hat, mit den Kameraleuten gesprochen hat oder auch mal einfach die Kamera geschüttelt hat.
    "Ein guter Freund, der sich ein bisschen besser mit Musik auskennt"
    Kleiner: Ja! Ray Cokes ist für mich einer der ganz Großen gewesen. Also ich bin 43 Jahre und sozusagen war ich von Anfang an beim Musikfernsehen dabei. Und es war spannend, dass die Leute ungewöhnlich waren in ihrer Präsentationsform. Was ist denn überhaupt Fernsehen? Wir redet man im Fernsehen? Wie präsentiert man sich im Fernsehen? Wie geht man spielerisch mit dem Fernsehen um? Fernsehen war Anfang der 80er-Jahre und auch noch Anfang der 90er-Jahre unendlich statisch. Man hatte einen klaren Plan, wie der Moderator reden musste, wann er Pausen machen musste, wie er mit dem Zuschauer umgeht, wie er mit der Kamera umgeht. Und das haben die Moderatoren von MTV grundlegend verändert, indem sie einfach experimentiert haben. Sie haben mit der Kamera gesprochen wie mit einem Freund, der einem gegenüber sitzt. Und das war natürlich ganz wichtig, damit der Zuschauer sich persönlich angesprochen gefühlt hat, sich als ein Freund, als ein Kumpel wahrgenommen hat, der sich mit dem Moderator ausgetauscht hat.
    Und das hat man dann später, etwa wenn man an Markus Kavka denkt, in Deutschland genauso versucht. Dass hier ein guter Freund, der sich ein bisschen besser mit Musik auskennt, der den größeren Überblick hat, zu mir spricht, mit dem ich in Dialog trete, indem ich seine Sendung sehe und auch darauf höre, was er sagt. Und der mir die Möglichkeit gibt, mein Wissen über Popkultur zu vergrößern.
    "Je mehr man regionalisiert, desto mehr verengt man"
    Reil: Das ist ein interessanter Ansatz. Und ja auch MTV an sich hat eigentlich in den Anfangstagen total diesen globalen Gedanken des Internets vorweggenommen. Denn es gab ja zu Beginn ein internationales Programm auf Englisch, das in 31 europäische Länder ausgestrahlt wurde. Da frage ich mich: Woran ist dieses Konzept kann zum Schluss gescheitert?
    Kleiner: An der Regionalisierung. Das ist das große Problem. Popmusik ist ein globales Produkt. Und wenn wir jetzt anfangen, in jedem Land eine eigene MTV-Station zu implementieren, muss man davon ausgehen, dass in jedem Land Popmusik den gleichen Stellenwert hat wie etwa in Amerika. Und das war der große Fehler. Je mehr man Popmusik und Popkultur, also die jetzt von MTV ausgegangen ist, die sich immer als ein globales Produkt verstanden haben, je mehr man das regionalisiert, desto mehr verengt man es. Und desto mehr nimmt man ihm sozusagen den globalen Spielraum. Und das war ein großer Fehler, den MTV begangen haben - zu denken: Wenn wir als globales Produkt so erfolgreich sind, wenn wir als globales Fernsehen so erfolgreich sind - was sie auch waren, weil Popkultur ist wesentlich angloamerikanisch geprägt - und wenn man das nimmt und es stärker regionalisiert, spezifiziert, dann nimmt man diesen großen Wurf. Dann nimmt man auch diese große Orientierungsfunktion, indem man eben klein, klein denkt.
    Das andere war, dass MTV einen großen Fehler gemacht hat, dass man gesagt hat: Wir sind sozusagen als Musikfernsehen gestartet - als erstes Musikfernsehen der Welt - und dann haben wir gemerkt, dass Popmusik für die Jugendlichen so ab Mitte der Nullerjahre gar nicht mehr der wesentliche Orientierungsmaßstab ist, wie sie in die Welt kommen, wie sie zur Welt kommen und wie sie sich selbst verstehen. Sondern man hat sich an unterschiedlichen Formaten orientiert. Ob das nun Shows sind, ob das nun Serien sind, auch immer mehr in digitale Medienkulturen abgewandert sind…
    "Linearität ist nichts mehr, was Jugendliche heutzutage erreicht"
    Reil: Genau. Das ist ja eigentlich das Problem: digitale Medienformen. Dass man das Internet hat und eigentlich selbst sich die Musik aussuchen kann. Man braucht nicht mehr einen Musiksender, der einem das Programm macht.
    Kleiner: Genau. Weil das lineare Musikfernsehen entspricht nicht mehr dem Medienkonsum und der Mediennutzung der Jugendlichen, die sind sehr unbeständig, sehr schnell in ihrer Wahrnehmung von dem, was sie interessiert. Und dafür sind Netzangebote viel geeigneter, indem man in dieser Dauer-Skip-Mentalität vom einen zum nächsten geht und sich selbstbestimmt aussucht, was mich jetzt genau in dem Moment, in dem ich im Internet bin, interessiert. Und das geht beim linearen Fernsehen nicht. Und das geht auch nicht, wenn man, wie MTV das jetzt versucht hat, einen Livestream versucht hat fürs Internet, weil das dann immer noch linearen Medienkonsum erfordert. Linearität ist nichts mehr, was Jugendliche heutzutage erreicht.
    Reil: Sagt Markus S. Kleiner. Danke Ihnen für das Gespräch. Heute vor 30 Jahren ging MTV Europe von London aus zum ersten Mal auf Sendung.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.