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30 Jahre nach dem Mega-Erdbeben
Mexikos Lehren aus der Katastrophe

Heute vor 30 Jahren bebte die Erde in Mexiko-Stadt. Wie durch ein Wunder wurden fast eine Woche nach der Katastrophe 16 Säuglinge lebend aus den Trümmern geboren. Etwa 7.000 Menschen starben aber durch das Beben. Damit so etwas nie wieder geschieht, hat Mexiko ein ausgeklügeltes Frühwarnsystem entwickelt.

Von Michael Castritius | 19.09.2015
    Die "Babies des Wunders", treffen sich noch regelmäßig. Auch heute, zu ihrem 30. Geburtstag. Bei dem Erdbeben vor 30 Jahren war auch das Hauptklinikum von Mexiko-Stadt eingestürzt - mitsamt der Geburtsstation. Dort hatte der Homöopath Luis Olgín mitgegraben.
    "Diese Verzweiflung wegen der verschütteten Neugeborenen, wegen der Frauen, die gerade entbunden hatten, wegen der Ärzte und Schwestern."
    "Ich musste zusehen, wie eine Tote geborgen wurde, die während des Bebens ihr Kind bekommen hatte. Sie lag unter einem Stahlträger begraben."
    Mütter konnten nur wenige gerettet werden, aber fast eine Woche nach der Katastrophe entdeckte man Neugeborene in einem Hohlraum unter Betonplatten. Es wurde ganz still, erzählt Olgín, als das Erste ans Tageslicht kam. Lebt es etwa? Alle hielten den Atem an:
    Der erlösende Schrei. Insgesamt 16 Neugeborene konnten lebend aus ihren Bettchen befreit werden, hatten ohne Nahrung und Trinken, ohne Fürsorge und menschliche Wärme überlebt. So sind sie als "bebés del milagro", als "Babies des Wunders" in die Geschichte dieser Tragödie eingegangen.
    Erdbeben. Stärke 8,1. Mehr als zwei ewig lange Minuten lang.
    Der Boden hatte sich erst noch in sanften Wellen bewegt, das kennt man in Mexiko. Aber dann wurden aus den Wellen eckige, harte Zick-Zack-Stöße, wechselten ständig die Richtung. Das hielten 30.000, vor allem höhere Gebäude nicht mehr aus: sie krachten in sich zusammen. Weitere 68.000 wurden schwer beschädigt.
    Beeindruckende Szenen im Nachrichten-Studio
    Im Studio des Fernsehsenders Televisa präsentierte Lourdes Guerrero gerade live das Morgenmagazin "Hoy Mismo".
    07.19 Uhr - die exakte Uhrzeit, als das Beben begann.
    Die Schwarz-Weiß-Bilder aus dem oberen Stockwerk des Televisa-Hochhauses zeigen schwingende Scheinwerfer, Nachrichtensprecher, die sich erschrocken an der Tischplatte festkrallen. Moderatorin Lourdes Guerrero dagegen lächelt: "Es bebt noch ein kleines bisschen, wir bleiben ruhig, warten noch eine Sekunde ..."
    Die Übertragung reißt ab, nur noch Rauschen, schwarze Bildschirme.Die Sendeantenne und große Teile des Televisa-Gebäude-Komplexes sind eingestürzt. 87 Redakteure, Techniker, Bürokräfte und Reporter sterben. Einsam ragt nur das Hochhaus mit dem Sendestudio aus dem Schutt: Lourdes Guerrero überlebt - und moderiert schon wenige Stunden später aus anderen Studios weiter. Da zeigen Luftaufnahmen bereits eine Stadt wie nach einem Bombenangriff. Live-Reporter berichten atemlos.
    Berichten etwa aus dem Plattenbau-Viertel Tlatelolco, etwas nördlich vom Zentrum. Gerade erst ein Jahrzehnt zuvor waren dort die größten Wohnhäuser der Stadt hochgezogen worden, graue Türme, 21 Stockwerke.
    Das Gebäude "Nuevo Leon", in dem 3600 Familien lebten, sackte in Sekundenschnelle in sich zusammen, erzählt der Nachbar Roberto Cobo, den das Beben in seiner Wohnung überraschte.
    "Plötzlich sah ich, wie sich die Wände drehten. Da, wo immer das Fenster gewesen war, war keins mehr. Dann öffnete sich der Fußboden, etwas fiel auf mich drauf - und ich fing an zu schreien, schreien, schreien. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit hörte ich durch den Schutt den Ruf: "Da ist Einer". Und sie holten mich raus.
    Seine Retter waren Anwohner, Freiwillige, kaum Profis.
    Offizielle Zahl der Todesopfer wohl deutlich niedriger als in Wirklichkeit
    Der autokratische mexikanische Präsident lehnte internationale Hilfe zunächst ab: sein Land werde es schon alleine schaffen. Schließlich wollte er ein Jahr später die Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten - auch deshalb wurde verharmlost.
    Schnell aufräumende Bulldozer statt menschliche Retter: viele Tote verschwanden unentdeckt. So gab es offiziell nur 6000 bis 7000 Todesopfer, Experten gehen heute von bis zu 45.000 aus. Wissen werden wir es nie.
    Die Helden der Trümmerwüste von Tlatelolco zogen ihre Konsequenzen: wenn die Behörden nicht helfen, tun wir es. Aber ausgebildet. Als "Topos", "Maulwürfe" von Tlatelolco, sind sie weltbekannt geworden.
    Wöchentlich trainieren sie sich und ihre Hunde.Ihre Rettungsstaffel ist begehrt: immer, wenn irgendwo Menschen verschüttet sind, rückt sie an. Türkei, Iran, Haiti oder Tsunami-Gebiete: die Mexikaner und ihre Tiere helfen erfolgreich. Aber auch bei ihnen zuhause hat sich einiges verbessert: es wird erdbebensicher gebaut - falls Korruption oder Betrug die Gesetze nicht aushöhlen. Landesweit wurde ein Frühalarm-System installiert, wobei "früh" bei Erdbeben heißt: bestenfalls eine Minute vorher kann etwa in Mexiko-Stadt Alarm ausgelöst werden.
    Was dann in Sekundenschnelle zu geschehen hat, das wird in öffentlichen Gebäuden, vor allem in Schulen, mehrmals im Jahr geübt. Grüne Kreise auf Straßen, Höfen und Plätzen markieren einigermaßen sichere Flächen. So wissen alle Kinder, was zu tun ist. Denn es bleiben ihnen nur 45 bis 60 Sekunden.