Freitag, 29. März 2024

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30 Jahre World Wide Web
"Das Internet ist gut und böse gleichzeitig"

Datenskandale, Fake News, Hasspostings: Im 30. Jahr seines Bestehens hat das Word Wide Web einen schlechten Ruf. "Jeder kann ins Internet, und damit auch die bösen Buben", sagte der Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen im Dlf. Es gebe aber Möglichkeiten, gegen die Internetschattenseiten vorzugehen.

Wolfgang Hagen im Gespräch mit Karin Fischer | 21.04.2019
Wolfgang Hagen, der ehemalige Leiter der Kultur- und Musikabteilungen im Deutschlandradio-Kultur, aufgenommen am 08.05.2007
Der Medienwissenschaftler und Internethistoriker Wolfgang Hagen (dpa / Steffen Kugler )
Das Internet vollziehe einen Epochenwechsel, vergleichbar nur mit der Erfindung des Buchdrucks, meint Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen. Hauptmerkmal dieses Epochenwechsels sei der Zerfall der klassischen Öffentlichkeit: "Es schafft eine völlig andere Öffentlichkeit, die wir noch gar nicht kennen. Die klassischen Strukturen der Formalisierung von Öffentlichkeit - abgesetzt zum informellen Bereich des Privaten - die brechen zusammen. Und dadurch partialisiert sich das Ganze."
Früher, in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts, gab es in Deutschland rund 4.000 Zeitungen. Und jeder konnte diese Meinungsvielfalt am Kiosk sehen. Das Internet habe heute vor allem bei Medienleuten und Journalisten einen schlechten Ruf, "weil es dabei ist, diese Öffentlichkeit zu unterminieren, ganz materiell, und auch ökonomisch auszuhöhlen." Etwa indem das Internet alle Werbung auf sich ziehe.
Die verhaltensbasierte Ökonomie des Internets
Das Internet, das wir heute kennen, entwickelte sich ab 1981 frei, die entsprechenden Protokolle wurden weiterentwickelt und genutzt - und zu Geld gemacht. "Dass Google und Facebook heute an der Werbung verdienen, das sind neue Modelle, die aus der Technologie des Internets heraus zugeschnitten sind auf das, was der User gerade will."
Dabei sei das Internet immer gut und böse zugleich, so Wolfgang Hagen im Dlf. Gerade für ihn als Wissenschaftler gelte: "Innerhalb weniger Minuten weiß ich, wo ein völlig seltenes Buch vergraben ist, für das ich früher drei Monate brauchte, um herauszufinden, ob es überhaupt noch existiert. Dieser Vorteil wird bezahlt mit dem Nachteil, dass man alles über mich weiß und dass diese Datenspuren ökonomisierbar sind. Das ist eine völlig neue verhaltensbasierte Ökonomie, und da wird das große Geld verdient."
Um dem Herr zu werden, müssten die großen Monopole infrage gestellt werden. "Ich glaube nicht, dass das Internet in Bezug auf seine Schattenseiten regulierbar ist, wenn man nicht die großen Monopole angeht und eine Entflechtung ihrer Tätigkeiten forciert", so Wolfgang Hagen. Vorbild dafür könne beispielsweise die Zerschlagung von Standard Oil im Jahre 1919 in den USA sein.
Im Netz reagieren wir vollkommen affektiv
Die Kommerzialisierung stehe aber nur am Beginn einer kulturellen, tiefen Evolution, deren Entwicklung noch keiner vorhersagen könne. "Wir sind alle kleine Unternehmer. Wenn wir in facebook unsere Seite aufhübschen, ist das eine Art Anpreisung dessen was wir "unternehmen" im ganz buchstäblichen Sinn." In Zeiten des Neoliberalismus, so Hagen, gebe es einen ökonomischen und einen technologischen Treiber, und beide arbeiteten an dem, was man das Konzept des Subjekts nennen könne. "Ich habe das Gefühl, dass es jetzt zu einer völlig neuen Art von Subjektivität kommt, die viel schwächer in Bezug auf ihre rationale, und viel stärker in Bezug auf ihre affektive Seite dargestellt ist.
Wir reagieren nahezu vollkommen - und ich schließe mich da ein - affektiv auf das, was in dieser Computer- und Internetwelt passiert, und danach erst reflektieren wir, was tun wir da eigentlich gerade. Und diese Umkehrung hat sozial große Folgen."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.