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300 Jahre Daniel Defoe: "Robinson Crusoe"
Der erste Bestseller der Weltliteratur

Ein Mann, der Schiffbruch erleidet, auf einer einsamen Insel strandet und sich dort ein neues Leben aufbaut: Aus "Robinson Crusoe" schuf der englische Schriftsteller Daniel Defoe 1719 Weltliteratur. Jetzt feiert der Roman sein 300-jähriges Jubiläum. Reich geworden ist Defoe mit seinem Bestseller jedoch nicht.

Von Claudia Kramatschek | 25.04.2019
Buchcover: Daniel Defoe: "Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe"
Am 25. April 1719 veröffentlichte Daniel Defoe "Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe" (Buchcover: S.Fischer Verlag, Foto: picture-alliance / dpa / Bernd Weißbrod)
"Bahia Cumberland, Archipel Juan Fernandez, im Oktober 1704: Der schottische Segelmeister Alexander Selkirk wird auf der kleinen Bucht der 93 Quadratkilometer großen Insel, die 670 Kilometer vom nächsten Festland entfernt ist, zurück gelassen – auf eigenen Wunsch. Nach einem Streit mit seinem Kapitän über den Zustand des Schiffes, auf dem er angeheuert hatte, weigerte Selkirk sich, noch länger auf dem Schiff zu fahren."
Wahrscheinlich würde sich niemand an das Schicksal von Alexander Selkirk erinnern, wäre Selkirk nicht zum Vorbild für Robinson Crusoe geworden: jenen Schiffbrüchigen, mit dem Daniel Defoe 1719 Weltliteratur schuf – und eine Figur, die bis heute in jedem Lexikon zu finden ist.
"Das Schicksal hat mir, Robinson Crusoe, übel mitgespielt. Während eines schweren Sturms auf hoher See habe ich Schiffbruch erlitten und bin auf diese trostlose, unglückselige Insel verschlagen worden, für welche die Bezeichnung Insel der Verdammten gerade recht wäre."
Nach nur drei Wochen vergriffen
Kein anderer Roman ist bis heute so häufig gedruckt, übersetzt – und auch bearbeitet und verstümmelt worden. Die erste Auflage erschien am 25. April 1719 und war nach nur drei Wochen vergriffen. Drei weitere Auflagen folgten, rasch waren Raubdrucke im Umlauf, bald auch die ersten Übersetzungen. Der Roman gilt als erster Bestseller der Weltliteratur. Dieser Erfolg hatte – so Ada Bieber, Literaturwissenschaftlerin und Robinsonaden-Forscherin an der Berliner Humboldt-Universität – auch mit Daniel Defoes literarischer Herangehensweise zu tun:
"Er war ein Vielschreiber und hat mit seinem Stil relativ viele Leute erreicht. Er hat so einen leichten lockeren unterhaltenden Stil gehabt, was sehr gut ankam beim Publikum. Ich glaube aber auch, dass er verschiedene Themen angesprochen hat, die in der Zeit wichtig waren: das Religionsthema zum Beispiel."
Tatsächlich ist "Robinson Crusoe" weniger ein Abenteuerroman als ein Erbauungsbuch: Auf den Schiffbruch des anfänglich recht verstockten Robinson folgt die wundersame Rettung, dann Reue, Erleuchtung und Gottvertrauen:
"Welche Macht verbarg sich hinter der Schöpfung? Ich zog den nahe liegenden Schluss, dass Gott dies alles geschaffen habe, und fuhr dann mit meiner Überlegung fort, dass Gott dieses Geschaffene und alles, was damit zusammen hängt, auch lenken und regieren musste. Dies wiederum aber bedeutete, dass nichts in seiner Schöpfung ohne seinen Willen und ohne sein Wissen geschehen konnte."
Fakten mit exotischem Reiz
Defoes vorwiegend mittelständisches, aber durch und durch puritanisches Publikum mochte und erwartete wahre Geschichten, die moralischen Mehrwert versprachen. Deshalb kündigte Defoe im Vorwort Tatsachen an – Fakten statt Erfindungen. Das erlaubte ihm, seinen Roman mit allerlei Exotischem aufzumischen: nicht zuletzt mit Seeräubern und Kannibalen. Diese exotische Note entsprach, so Ada Bieber, zugleich Defoes Zeit. Es war die Epoche, in der vor allem die Kolonialmächte England und Spanien eifersüchtig um die Vorherrschaft auf den Weltmeeren rangen.
"Es war eben keine Geschichte aus Europa, sondern es hat weit weg in der Neuen Welt stattgefunden. Weltweiter Handel, unterwegs sein, die Welt bereisen waren neue Themen, die dazu kamen."
Crusoe ist deshalb, als ihn der Schiffbruch ereilt, gerade auf dem Weg, um Sklaven zu erwerben. Seine Insel wiederum, auf der er wie im Zeitraffer noch einmal vom Jagen bis zum Töpfern die menschliche Kulturentwicklung nachvollzieht, kolonisiert er wie ein imperialer Herrscher: Man denke nur an Freitag – jenen Eingeborenen, den er zu seinem Diener macht.
"Er hatte überhaupt nichts Heimtückisches oder Bösartiges an sich und war ohne jeden Fehl und Tadel. Seine Liebe zu mir glich der eines Kindes zu seinem Vater."
Ein Klassiker – aber kein zeitloser
Eben diese Grundzüge – Rückzug aus der Welt, Zivilisationskritik, aber auch der Verweis auf den sogenannten edlen oder weniger edlen Wilden – machten den Roman zum Urtext einer ganzen Gattung: der sogenannten Robinsonade. Und sie erhoben den Text schon zu Defoes Lebzeiten in den Rang eines Klassikers. Doch angesichts der fragwürdigen Rassenideologie ist "Robinson Crusoe" eben kein zeitloser und "unschuldiger" Klassiker. Genau das, so Ada Bieber, thematisieren jüngere Adaptionen der Robinsonade:
"Eine der bekanntesten ist von dem südafrikanischen Nobelpreisträger Coetzee, der in seinem Roman ,Foe' nicht nur eine Frau stranden lässt, sondern eben auch Fragen der Rassen-Hierarchien zur Debatte stellt. Und es haben das auch Filme gemacht: 1975 ,Man Friday'; ein Film von 1987, ,Crusoe' heißt der, wo auch danach gefragt wird, welche indigenen Kulturen eigentlich auf der Insel da sind und dass Robinson eigentlich gar nicht alleine überleben kann. Und das Wissen eigentlich bei denjenigen liegt, die schon lange Zeit auf dieser Insel und in dem Kulturraum leben."
Die Frage, unter welchen Bedingungen der Mensch überhaupt leben und wie er mit anderen zusammen leben kann, bildet dabei den Kern der Robinsonade – und zugleich ihr utopisches Moment:
"Inseln stehen ja in Literatur, aber auch im allgemeinen Bewusstsein für vieles andere, nicht nur die Südseeinsel, die uns Entspannung verspricht, sondern auch eine neue Chance, wie wir es aus ,Utopia' kennen von Thomas Morus."
"Robinson Crusoe" hatte deshalb entscheidenden Einfluss auf die Science-Fiction. Zugleich fand der Stoff schon Ende des 18. Jahrhunderts Eingang in die Kinder- und Jugendliteratur. Ging es, so Ada Bieber, anfangs noch um Erbauung und Erziehung der jungen Leserschaft, so wandelte sich der Zugriff auf den Stoff spätestens im 20. Jahrhundert; man denke nur an William Goldings berühmte Robinsonade "Herr der Fliegen" von 1954.
"Davor hat die deutsche Schriftstellerin Lisa Tetzner – die '33 mit ihrem Mann Kurt Kleber in die Schweiz gegangen ist – in ihrem neunbändigen Kinderbuch-Zyklus ,Die Kinder aus der Nr. 67' einen Roman der Robinsonade gewidmet, wo überprüft wird, wie das Gute eigentlich siegen kann in der Zeit von Faschismus und des Krieges."
Robinson Crusoe und die Schiffbrüchigen von heute
Wie also steht es um die Robinsonade heute angesichts der zahlreichen Flüchtlinge, die tagtäglich im Mittelmeer Schiffbruch erleiden und jämmerlich ertrinken? Ada Bieber:
"Die Robinsonade ist natürlich konzentriert auf die Insel. Und das, was wir beim heutigen Schiffbruch besprechen, sind die Bedingungen, die dem vorweg stehen: Warum fliehen Menschen, unter welchen Bedingungen können sie fliehen? Und natürlich die Frage: Wo wird man aufgenommen und wo darf man auf welche Weise auch ankommen? Insofern gibt es mögliche Verbindungen zwischen Schiffbruch-Fragen, die uns heute beschäftigen, und der Robinsonade. Aber die müssen hergestellt werden, die sind nicht ganz auf der Hand liegend, würde ich sagen."
Offensichtlich scheint nur eins: die Aktualität des Schiffbruch-Topos. Doch wo der einstige Self-Made-Man Robinson noch stolz verkündete "Not macht erfinderisch", blickt er heute betrübt aufs Meer. Er weiß: Der Schiffbruch, dem er einst seine Berühmtheit verdankte, ist zu einer Krisenmetapher verkommen.
Daniel Defoe: "Das Leben und die seltsamen Abenteuer des Robinson Crusoe"
Aus dem Englischen übersetzt von Martin Schoske
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main. 352 Seiten, 9 Euro.