Freitag, 19. April 2024

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300 Jahre Weihnachtsflut
Kampf um die Küste

Als am Weihnachtsmorgen 1717 eine verheerende Sturmflut auf die Nordseeküste zurollte, schliefen die meisten Bewohner hinter den Deichen noch. Die Flut ließ ganze Siedlungen verschwinden, Tausende Menschen starben. Es ist eine Katastrophe, die wir nicht vergessen sollten, warnen Klimaforscher und Küstenbauingenieure. Warum?

Von Tomma Schröder | 25.12.2017
Wellen schlagen am 05.12.2013 in Kampen auf Sylt (Schleswig-Holstein) an den Strand. Orkantief Xaver erreicht die deutsche Nordseeküste. Foto: Axel Heimken/dpa
Wenn die Wellen die Küste treffen (dpa / picture alliance / Axel Heimken)
"Opferzahlen und Verluste: Minsen: 255 Menschen, 69 Pferde, 273 Rinder, 104 Schweine, 206 Schafe, 55 weggetriebene Häuser"
Conrad Joachim von Ummen, Zeitzeuge und Chronist: "Ach eine Weyhnachts-Fluht hat unser Glück verhüllt / Von dieser Jammer-Nacht wird meine Feder schreiben / und dessen Bitterkeit soll mir der Führer bleiben"
Manfred Jakubowski-Tiessen, Historiker: "Die Leute meinten den Weihnachtsabend in aller Ruhe feiern zu können, und dann sahen sie plötzlich, dass gegen Mitternacht das Wasser in sehr kurzer Zeit enorm stieg. Es hieß in einigen Quellen, dass es innerhalb von einer halben Stunde um drei Meter gestiegen ist. Und erst gegen Mitternacht erkannten sie die Gefahr, bzw. manche lagen schon in den Betten und schliefen."
"Und siehe / ehe der Tag anbricht / hat sie die Macht der Wellen aus ihren Betten gehoben / daß sie in grosser Menge daher schwimmen kamen / und zwar so / daß sie mit ihren blossen Hembdern / oder ganz nacketen Leibern einen Beweis haben / sie waren im Schlaffe dem Todes-Schlaf übergeben worden"
Jakubowski: "Die Weihnachtsflut von 1717 ist die größte Flutkatastrophe der Neuzeit. Sie erstreckte sich von den Niederlanden bis nach Dänemark. Es gibt keine Flut, die so enorme Schäden verursacht hat und so viele Todesopfer gefordert hat wie diese Flut."
Hans von Storch, Helmholtz-Zentrum für Küstenforschung Geesthacht :"Und die Gefahr gegenüber früher ist die, dass die Menschen heutzutage gar nicht mehr wissen, dass da eine Gefahr ist."
Innerhalb weniger Stunden
Der Kampf des Menschen um die Küste war ein mühsamer. Mal entriss er mit Deichen und harter Arbeit dem Meer ein Stück seines Territoriums, mal holte das Meer sich das Seine innerhalb weniger Stunden zurück. So wie 1717, als 10.000 Menschen am frühen Weihnachtsmorgen in den meterhohen Fluten starben und viele Häuser für immer fortgespült wurden.
Doch der Mensch hat nie aufgegeben. Er hat weiter Deiche gebaut. Höher, stabiler, besser. Er hat tausend Arbeiterhände durch große Baumaschinen ersetzt und mit Spülschiffen riesige Mengen Sand umverteilt. Ist der Kampf also entschieden? Sind die Küsten von heute unverrückbar – uneinnehmbar für das Meer?
Fritz Schröder, Hobbyarchäologe und Stefan Krabath, Institut für historische Küstenforschung:
"Hier Scherbe, Herr Schröder, Herr Schröder!"
"Ja, aber das sieht nach Glasscherbe neuzeitlich aus."
"Ne, das ist alt."
"Stimmt, das ist Grauware."
Stefan Krabath steht im Watt vor Langwarden, einem kleinen Örtchen an der niedersächsischen Küste. In dem schlickigen Boden hat der Archäologe vom Wilhemshavener Institut für historische Küstenforschung etwas entdeckt. Er hebt es auf und wischt mit dem Finger den Schlick weg. Es ist eine von unzähligen Keramikscherben, die hier gefunden wurden.
"Das ist von einem Kugelpott oder einer Kanne. 600 Jahre alt."
"Ja, ich habe das schon gesagt, wir sind hier wesentlich älter als da, wo das mit der glasierten Ware ist."
Interessante Spuren aus der Vergangenheit
Wo Fritz Schröder und Stefan Krabath sich gerade über eine Keramikscherbe beugen, wird schon wenige Stunden später die Flut alles überspült haben. Doch im Moment ist Ebbe, in dem Priel steht das Wasser höchstens knietief, viele Bereiche liegen ganz trocken. Es ist die beste Zeit, um nachzuschauen, ob die Nordsee interessante Spuren aus der Vergangenheit freigespült hat. Fritz Schröder deutet auf eine relativ steile Kante, in der sich ganz deutlich unterschiedliche Schichten abzeichnen.
"Da hinten sind sieben Pfähle, die hintereinander jetzt aus dem Ufer aufgetaucht sind. Und da gibt es so eine Ecke, da ist so sehr festgelegt eine Mistschicht, ob das nun ein Stall gewesen ist oder so etwas, und da ist auch gehäuft Knochen von Schlachtvieh – meist konnte man sehen, dass die mit dem Messer bearbeitet worden waren."
Mann im Watt.
Fritz Schröder auf dem Weg zur Fundstelle (Niedersächsisches Institut für historische Küstenforschung, Stefan Krabath)
Knochen finden sich hier zuhauf: Zähne, Rippen, halbe Schädel und Kiefer schauen überall aus dem Watt. Es sind wohl die Überreste von Vieh, das hier vor einigen hundert Jahren auf die Schlachtbank geführt wurde.
Der gelernte Elektroniker Fritz Schröder wohnt gleich hinter dem Deich. Einmal pro Woche geht er hinaus und sammelt alles, was auf frühere Siedlungsspuren hindeutet. Kein einziger Fund datiert auf die Zeit nach 1717. Nach der großen Weihnachtsflut, so ist anzunehmen, kamen die Bewohner niemals hierher zurück. Die Häuser und mit ihnen alle Spuren des Lebens gingen in den Fluten unter.
"Dieser Teller hier, der ist auch inschriftlich datiert, 1609, und das wird dann jünger, also die Stücke gehören ins 17. Jahrhundert. Diese Fayence-Scherbe, die ist Ende des 17. Jahrhunderts entstanden. Das ist auch der Punkt, weshalb ich meine, das ist das Stück, das direkt vor der Flut hierher gekommen sein könnte."
Für Trinkspiele und gesellige Abende
Fritz Schröder hat seinen Scherben zu Hause ein ganzes Zimmer gewidmet. Zahlreiche Schüsseln und Teller konnte er schon wieder zusammenpuzzeln. Es sind Bruchstücke aus der Vergangenheit, die sich hier langsam wieder zu einem ganzen Bild zusammenfügen.
"Tettens: 30 Menschen, 81 Pferde, 213 Rinder, 56 Schweine, 45 Schafe, 22 weggetriebene Häuser"
Wunderhübsche Tonkrüge mit weißen Punkten, feinste Gläser mit dünnen blauen Glasbändern herum – für Trinkspiele und gesellige Abende – ob all dies auch am 24. Dezember 1717 auf dem Tisch stand?
Es hat lange und heftig gestürmt an jenem Heiligabend. Viele Menschen werden sorgenvoll auf die Deiche und die schäumende Nordsee geschaut haben. Doch am Abend flaut der Wind plötzlich ab, die Flut ist vorüber, das Wasser beginnt wieder abzulaufen. Erleichterung macht sich breit. Die nächste Flut wird erst gut zwölf Stunden später, am Weihnachtsmorgen, erwartet.
Stefan Krabath und Fritz Schröder mit Fundstücken
Stefan Krabath und Fritz Schröder mit Fundstücken (Tomma Schröder / Deutschlandradio)
Ummen: "Viele hatten sich nieder geleget / in Hoffnung / des anderen Tages in der Versammlung die Stimme eines Engels aus dem Bethlehemitischen Gefilde zu hören aus Luc. II V.10. "Siehe ich verkündige euch grosse Freude"
Die zarten Seelen legen sich insgemein zu der Zeit mit Freuden nieder / in Hoffnung / bey anbrechendem Tage ein Christ-Geschenck zu geniessen"
Flucht auf die Dächer
Conrad Joachim von Ummen ist Zeitzeuge und Chronist des Geschehens vor 300 Jahren. Als einer von vielen beschreibt der Geistliche aus Jever auch die genaue Wetterlage: Wie ein Südwest-Wind zunächst enorme Wassermengen in die Nordsee drückt und wie später – nach einem kurzen trügerischen Abflauen des Windes – ein Orkan aus Nord-West eben diese Wassermassen gegen die Küsten drückt. Vor allem an der niedersächsischen Küste und im südwestlichen Schleswig-Holstein kommt es in der Nacht zum 25.12. zu unzähligen Deichbrüchen. Innerhalb kürzester Zeit läuft das Wasser in die Häuser und steigt, obwohl die Flut erst Stunden später erwartet wird. Die meisten Menschen finden nur noch einen Fluchtweg: nach oben, erzählt der Göttinger Historiker Manfred Jakubowski-Tiessen.
"Dann haben die Leute, wenn sie merkten, dass das Wasser an ihre Tür spülte und schon in die Räume hineintrat, dann sind sie auf den Dachboden gegangen. Aber die Wellen sind teilweise so hoch gewesen, dass sie auch den Dachboden noch erreicht haben. Und dann saßen Familien oben auf dem Dachboden, und dann sahen sie, wie ein Teil des Dachbodens von den Wellen weggespült wurde. Also es spielten sich dramatische Szenen ab in dieser Nacht."
Der Pastor Johann Christian Hekelius aus Resterhafe schreibt über das Schicksal seiner Nachbarn:
"Es sitzen zwar diese Elenden noch auf dem Heu, aber dieses ist gar nicht vermögend des Wassers Gewalt zu widerstehen, dahero indem es zu fallen beginnet, diese arme Eltern sehen müssen, wie immer eines von ihren Kindern nach dem andern herab fällt und ertrincket. Die Frau hat das kleinste Kind in ihren Armen und vermeynet der Mann diese beyde noch eine Weile zu halten: Allein die Mutter und diß kleine Kind fallen auch herab und müssen das Leben lassen."
Die Identität der Küstengebiete
Am Ende hat die Flut in einigen Küstenregionen 30 Prozent der Bevölkerung dahingerafft: Die Menschen sind ertrunken, verhungert oder der grimmigen Kälte erlegen, die nach dem Orkan einsetzte und viele glücklich gestrandete Menschen erfrieren ließ.
"Kirchspiel Funnix: 243 Menschen, 137 Pferde, 412 Rinder, 95 Schweine, 78 Schafe, 65 weggetriebene Häuser"
Vor gut 1000 Jahren haben die Menschen begonnen, sich auch jenes Land zu erobern, das durch die Gezeiten eigentlich zwei Mal am Tag überflutet wird. Der Deich gehört seitdem zum Landschaftsbild, zum Kulturgut, Sturmfluten und Deichbrüche zur Geschichte und Identität der Küstengebiete. Doch im Vergleich zu früheren Jahrhunderten hat sich Entscheidendes verändert: Küstenbauingenieur Jürgen Jensen von der Universität Siegen:
"Der Deich hat natürlich eine lange Geschichte und ist in Deutschland über 1000 Jahre verbessert worden. Also die Außenneigung ist angepasst worden, die Binnenneigung ist angepasst worden, die Materialien sind optimiert worden -also vom Sandkern bis zur Kleiabdeckung. Also der Deich ist schon ein modernes Ingenieurbauwerk heute, aber natürlich auch ein Objekt weiterer Entwicklung. Wir sind in einem Forschungsvorhaben mit anderen Institutionen dabei den Deich intelligenter zu machen, insofern als dass man Sensorik verbaut, um bestimmte Prozesse im Deich zu überprüfen, um die Deichsicherheit über Messsensoren zu verfolgen."
Prognosen für die fernere Zukunft
Weit verzweigte Mäusegänge im Deich, wie sie einst der Stormsche Schimmelreiter voller Schrecken gewahrte, könnten so frühzeitig entdeckt werden. Und neben den Deichen, die heute wesentlich höher und stabiler sind, gibt es komplexe Modelle, die Wind und Fluten gut vorausberechnen können. Sie liefern Prognosen für die fernere Zukunft, und Warnungen, die rechtzeitig über viele verschiedene Kanäle ausgegeben werden können.
Es muss sich heute in Deutschland auch kein Bürger mehr um den Deichbau kümmern. Ob nun der Deich erhöht, verstärkt oder versetzt wird – immer rücken Baufirmen an, die von öffentlichen Geldern bezahlt werden.
Jürgen Jensen, Küstenbauingenieur: "Jeder wird in Norddeutschland die Aussage kennen "Wer nicht will dieken, der muss wieken", was nichts anderes heißt, als wer sich nicht um den Deich kümmert, der muss sich wieder verziehen. Das ist heute nicht mehr so. Also insofern ist nicht so viel Kreativität in den letzten Jahren erforderlich gewesen wie in anderen Ländern. Also wenn Sie sich in Amerika die flach gelegenen Küstenbereiche anschauen, dann werden Sie ganz andere Bauwerke sehen als in Deutschland. Also man baut Häuser auf Stelzen, lax gesprochen. In der ersten Ebene bringt man dann möglicherweise nicht die wertvollen Möbelstücke unter. Also natürlich gibt es viele Lösungen, bis hin zu schwimmenden Konstruktionen. Auch da sind wir Ingenieure sehr kreativ und könnten uns Vieles vorstellen. Da ist allerdings in Deutschland eine gewisse Umkehr von tradierten Konzepten, Strategien erforderlich."
Das immer höher wachsende Wattenmeer
Die Vorstellung von der festen Küstenlinie, von dem Deich als Bollwerk gegen die See hat sich in den vergangenen Jahrhunderten tief verankert. Während es zu Zeiten der Weihnachtsflut noch Häuser gab, die sogenannte Driftdächer – schwimmende Dächer – für den Notfall hatten, ist die Bereitschaft für Kompromisse und Alternativen heute äußerst gering. Damit ist der Erfolg des Küstenschutzes in den vergangenen Jahrzehnten auch zu seinem größten Problem geworden: Touristische Argumente wiegen ähnlich schwer wie Schutzaspekte. Vor allem aber hat man mit den Deichen auch die Sedimente ferngehalten, die das Wasser mitspült. Diese lagern sich nun vor den Deichen ab und führen mancherorts dazu, dass das Wattenmeer immer höher wächst. Das Land hinter den Deichen ist gleichzeitig abgesunken. So wie im Kreis Dithmarschen
Matthias Reimer: "Wir stehen hier jetzt am Schöpfwerk Hillgroven. Das Schöpfwerk Hillgroven war bis vor 15 Jahren noch ein Sielbauwerk. "
Matthias Reimers, Geschäftsführer des Marschenverbandes Schleswig-Holstein, steht vor einem kleinen zweistöckigen Gebäude, das direkt an den Deich gebaut ist. Hierhin fließt das Regenwasser aus der umliegenden Region und wird dann abgeleitet in die Nordsee. Früher mussten dafür bei Ebbe lediglich die Sieltore – eine Art Durchlass im Deich – geöffnet werden und schon konnte das Wasser abfließen. Mittlerweile muss eine große elektrische Pumpe nachhelfen. Es gibt schlichtweg kein Gefälle mehr vom Land zum Meer.
"Wenn wir jetzt reingehen ins Gebäude, kann man sehen, dass eben das Sielgebäude zu einem Schöpfwerk umgebaut wurde. Wir sehen vor uns eine sehr leistungsstarke Pumpe, mit einer Leistung von 1200 Litern pro Sekunde, die dafür sorgt, dass der Wasserstand im Binnenland entsprechend abgesenkt wird."
Tendenz steigend
Etwa die Hälfte der Niederungen Schleswig-Holsteins wird mittlerweile durch elektrische Pumpen entwässert. Tendenz steigend. Schätzungen des Marschenverbandes zufolge werden in vierzig Jahren bereits knapp 70 Prozent nur mit technischer Hilfe entwässert werden können. Die Kosten für den Strom, heute ca. vier Millionen Euro, werden sich im gleichen Zeitraum verdreifachen.
"Westeraccumer Vogtei: 397 Menschen, 136 Pferde, 414 Rinder, 39 Schweine, 109 Schafe, 104,5 weggetriebene Häuser"
"Was ist denn das Linke hier?"
"Das ist vom Wagenrad"
"Wir haben hier eindeutig die Speichen und die Eintiefung auch hier Holzdübel"
Fritz Schröder hat in den letzten Wochen ein Viertel eines Wagenrades und einen hölzernen Spaten im Watt gefunden. Sie lagern in Wassertrögen, bis er sie Stefan Krabath zur Konservierung ins Wilhelmshavener Küstenforschungs-Institut mitgeben wird.
"Und der Spaten?"
"Ja, der steckte so, also etwas schräg in der Erde."
So viele hölzerne Werkzeuge wie vor dem Langwardener Hauptdeich entdecke man sonst bei alten Siedlungsresten eher selten, erklärt Krabath.
"Weil sie, nachdem sie zerstört worden waren oder unbrauchbar geworden waren, einfach verbrannt werden konnten. Und das ist vielleicht auch ein Hinweis, dass wir hier ein Siedlungsende durch eine Sturmflut haben, weil viel Holz im Umfeld liegen geblieben ist, das Herr Schröder jetzt aufhebt. Eine der schönsten Sachen liegt bei uns in der Konservierung. Herr Schröder hat so ein kleines Boot gefunden, also ein Kinderspielzeug, ein ausgehöhlter Stamm in Schiffsform, wo eine kleine Bank eingesetzt worden ist, ursprünglich hatte es einen kleinen Mast gehabt, da sieht man, wo das festgemacht wurde. Und zusammen mit einer hölzernen Kugel. Und möglicherweise hat das Kind das ganz bewusst irgendwo vergraben oder versteckt, weil die Sachen lagen zusammen."
Eine ganze Gegend für Jahre im Elend
"Wie groß diese Noht gewesen / stehet daraus zu schliessen / daß man an einigen Orten zarte Kinder / die das salze Wasser nicht trincken können / mit Urin und Speichel gestillet. Ja die Säuglinge haben so starck mit Saugen angehalten / daß an statt Milch zuletzt Blut hervor gekommen"
Die Flut nimmt nicht nur 10.000 Menschen das Leben. Sie stürzt auch eine ganze Gegend für Jahre ins Elend, erzählt der Historiker Jakubowski-Tiessen.
"Die Auswirkungen dieser Sturmflut waren verheerend, weil zunächst mal das Wasser ein- und auslief, in manchen Gebieten über mehrere Jahre. Dazu kam, dass im Februar 1718 eine weitere Flut die Küstenregion traf, und zwar die sogenannte Eisflut, und die hatte weitere starke Wirkung, weil vielerorts die Deiche noch gar nicht repariert waren, und das Wasser sehr leicht ins Land hineineinfließen konnte. Das hat dazu geführt, dass die Landwirtschaft in diesen Regionen in manchen Stellen über Jahre nicht betrieben werden konnten."
Die Kirche von Langwarden im Hintergrund. Vorne Watt
Die Kirche Langwarden war bei Weihnachtsflut vollständig von Wasser umgeben. (Niedersächsisches Institut für historische Küstenforschung, Stefan Krabath)
Aus heutiger Sicht ist das kaum vorstellbar: Viele Menschen sind gleichermaßen ihres Zuhauses und ihrer Lebensgrundlage beraubt, sie haben vielleicht einen Teil ihrer Familie verloren, und sie sollen nebenbei auch noch Geld oder Arbeitskraft für den Deichbau aufbringen.
"Und manche, deren Häuser von den Fluten weggespült worden war, die sahen gar keinen anderen Ausweg als das Land zu verlassen. Dieses wiederum lag aber nicht im Interesse der Obrigkeit. Die brauchte alle Leute im Lande, um die Deiche wiederherzustellen. Und deshalb hat es in verschiedenen Ländern der Nordseeküste in jenen Jahren Auswanderungsverbote gegeben. Und es wurden drastische Strafen angedroht, wer das Land mit seiner Familie verlassen wollte."
Auf Hilfe durch die Landesherrschaft angewiesen
Auch gesellschaftlich sind die Auswirkungen der Flut ernorm: Die bis vor 1717 teilautonomen Gesellschaften Ostfrieslands sind durch die Weihnachtsflut plötzlich auf Hilfe durch die Landesherrschaft angewiesen, die im Gegenzug für ihre Hilfe die Autonomie der Gebiete abschafft. Die Kredite, die für den Wiederaufbau der Deiche aufgenommen werden, müssen von der Bevölkerung noch bis ins 19. Jahrhundert abbezahlt werden.
"Lieferungen für ausländische Deich-Arbeiter für den Bauabschnitt Tettens-Waddens: 561,75 Tonnen Bier, je 2 Thaler, 15 Grt. / 15,5 Anker Branntwein, je 4 Thaler 12 Grt / 13967 Pfund Butter, je 9,5 Pfund 1 Thaler / 16822, 25 Pfund Speck, je 9,5 Pfund 1 Thaler / 7074 Pfund Käse, je 100 Pfund 5 Thaler 48 Grt. / 3379 Pfund Brot, je 66 Pfund 1 Thaler / 1287 Pfund Tabak, je 9,5 Pfund 1 Thaler"
Die großen Fluten der Vergangenheit kennen an der Küste die meisten: Die beiden sogenannten großen Mandränken 1362 und 1634, die nicht nur mit unzähligen Opfern, sondern auch mit riesigen Landverlusten einhergingen. Die Weihnachtsflut 1717, die Februarflut 1825, die Ostseeflut 1872 und die Sturmflut von 1962, die in Hamburg viele Tote forderte. Schon 14 Jahre später, bei der ersten Januarflut 1976, wurden an fast allen Pegeln der Nordseeküste Rekordwerte gemessen. Die Schäden waren dennoch vergleichsweise gering. Heute könnten solche Pegel den Küstenbauwerken nichts mehr anhaben, sagen Experten einstimmig. In allzu großer Sicherheit sollte man sich trotzdem nicht wiegen, meint der Ingenieur Jürgen Jensen. Er warnt vor dem sogenannten "schwarzen Schwan" - dem Unvorhersehbaren.
"Wenn es zu einem Ereignis kommt wie 1717, dann passt eben die gesamte Erfahrung nicht mehr, sondern man erlebt ein Sturmflutereignis mit bis dahin ungeahnten Wasserständen und auch Wellenwirkungen, die dann eine große Belastung für die Bauwerke darstellen, die Deiche zerstören können und Siedlungsräume zerstören können. Die mit Windgeschwindigkeiten einhergehen, die wir dann vermutlich auch noch nicht gesehen haben."
Die Nordsee rüstet auf
Nicht nur der Küstenschutz hat sich in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten verbessert. Auch jenseits des Deiches tut sich einiges: Die Nordsee rüstet auf. In den nächsten zwanzig, dreißig Jahren rechnen die meisten Wissenschaftler noch mit einem relativ moderaten Ansteigen des Meeresspiegels von einigen Millimetern pro Jahr. Danach aber steigt er den Prognosen zufolge deutlich schneller. Die Schätzungen reichen von 40 Zentimetern bis 2,50 Meter. Und ganz genau wisse es niemand, meint der Klimaforscher und Metereologe Hans von Storch:
"Man würde sich naiverweise denken, ich gucke mir die Pegeldaten an, und dann sehe ich ja, wie sich der Meeresspiegel verändert hat, und dann extrapoliere ich das. Aber das Problem ist, dass die Veränderung des Meeresspiegels durch verschiedene Faktoren geht. Der folgenreichste Faktor, das ist die Minderung des Volumens von Grönland und der Antarktis, aber davon wissen wir wenig. Das heißt, wir reden über einen Vorgang, der bisher noch nicht beobachtet worden ist. Das heißt, hier zu analysieren, wie sich das auswirken wird, ist schon ziemlich kompliziert, und die empirische Datenlage ist schwach, und das ist immer ein Hinweis darauf: na, da sind Überraschungen drin!"
Mit Überraschungen lässt sich nur schwer kalkulieren. Genau das aber müssen Küstenschutzbehörden tun und setzen auf den sogenannten Klimadeich. Er berücksichtigt für die nächsten 100 Jahre zunächst einmal einen Anstieg um 50 Zentimeter, kann aber jederzeit um eine Kappe erweitert werden. Haben wir damit auf lange Sicht ausreichend vorgesorgt? Der Küstenbauingenieur Jürgen Jensen warnt davor, sich in allzu großer Sicherheit zu wiegen.
"Wir haben genügend Hinweise, dass das, was wir bisher beobachtet haben, nicht die Obergrenze ist, und dass durchaus das Risiko besteht, dass etwas passiert. Als Küstenwasserbauer muss ich warnen, dass das jederzeit auftreten kann, dass auch Hamburg, auch Bremen heute einer solchen Gefahr ausgesetzt ist. Insofern sehe ich die große Herausforderung in der Vermittlung dieses Risikobewusstseins. Wer ist heute noch auf eine Evakuierung eingestellt? Wer weiß, wo die sieben Sachen sind, die man unbedingt mitnehmen möchte?"
Sandbänke, Priele und tiefe Rinnen immer in Bewegung
Jürgen Jensen glaubt: Von der Vorstellung starrer und unverrückbarer Küsten müssen wir uns auf Dauer wieder verabschieden. Das Wattenmeer ist und war ohnehin schon immer ein sehr dynamisches System. Sandbänke, Priele und tiefe Rinnen verändern und verlagern sich fortwährend. Und auch wenn bisher sehr schwer zu modellieren ist, wie sich die Küsten zukünftig verändern – dass sie es tun, steht außer Zweifel.
"Dazu reicht eigentlich in der Regel auch ein Blick auf historische Karten, daraus kann man erkennen, dass sich die Küstenlinie, die Größe der Inseln, der Halligen auch stetig verändert hat. Und das ist auch nicht auszuschließen, dass wir deutliche Änderungen – auch mit Landverlusten – einkalkulieren müssen."
Auf der Insel Sylt ist das heute schon zu beobachten. Jedes Jahr müssen hier eine Million Kubikmeter Sand aufgespült werden, damit die Nordsee die Insel nicht Stück für Stück verschlingt.
"Der Aufwand wird vermutlich immer größer werden. Da jeder Zentimeter Meeresspiegelanstieg eben auch Wellenangriff auf einem höheren Niveau bedeutet. Eine einzelne große Sturmflut könnte Sylt sehr stark belasten und möglicherweise auch mal kurzfristig in zwei Teile zerschlagen, technisch können wir das sicherlich relativ kurzfristig beheben, aber dass wir langfristig Änderung des Küstenvorfeldes, der Form und der Gestalt der Insel Sylt akzeptieren müssen, ist aus meiner Sicht keine Frage."
Doch wie gestaltet man einen solchen Wandel? Lassen sich Deiche einfach immer höher bauen? Schon jetzt fließen allein in Schleswig-Holstein für Küstenschutzbauwerke oder Sandaufspülungen circa 60 Millionen Euro pro Jahr. Laut Küstenschutzplan werden in den Niederungen so gut 350.000 Menschen und Sachwerte in Höhe von 50 Milliarden Euro geschützt. Doch ob diese Kosten-Nutzen-Rechnung auf Dauer aufgeht, ist fraglich. Vielleicht wäre es klüger, die Küstenlinie an der ein oder anderen Stelle aufzugeben.
"Also da denke ich an meine Heimat in Nordfriesland, da kann man durchaus überlegen, bestimmte Bereiche mit zwei, drei Deichlinien zu schützen, dass man eine Deichlinie hat, die bei Extremereignissen überflutet wird, aber eine weitere Richtung Hinterland gelegene Deichlinie dann schützen würde gegen das Hochwasser. Das ist im Prinzip der Rückbau von Deichen, aber das ist sicherlich noch etwas, was sich in den nächsten Jahren entwickeln muss. "
"Man braucht dazu Energie, man braucht redundante Systeme"
Durch gelegentliche Überflutungen würde auch wieder etwas mehr Sediment in den Küstengebieten abgelagert. Dem absinkenden Land und dem gleichzeitig steigenden Meeresspiegel könnte dadurch zumindest etwas entgegengehalten werden. Denn wenn etwa eine Sturmflut mit sehr großen Niederschlagsmengen auf dem Festland einhergeht – was für die Zukunft kein so unwahrscheinliches Szenario ist – könnte es für unsere Pumpsysteme eng werden. Dann wäre es gar nicht unbedingt die Nordsee, die eine Bedrohung darstellte, sondern das Regenwasser, das bei den hohen Sturmflutpegeln nicht mehr in die Nordsee abgeleitet werden kann. In einem solchen Fall wäre es wichtig, auch im Binnenland genügend Speicherkapazitäten für Regenwasser zu haben.
"Als Ingenieur muss ich das sagen: Wir können technisch fast alles lösen. Die Frage ist manchmal die der Sinnhaftigkeit. Aus einem Sielbauwerk können wir ein Schöpfwerk bauen und das Wasser mit Pumpen ins Meer zurückführen. Das machen wir natürlich in Teilen an der Nordseeküste ohnehin schon. Aber andererseits wird ein solches System auch immer anfälliger. Man braucht dazu Energie, man braucht redundante Systeme, Stromausfall wird ein Problem werden. Darauf müssen wir uns eben auch einstellen."
Es sind Risiken wie diese, die nicht nur in den Küstenschutzbehörden oder Deich- und Sielverbänden präsent sein sollten, sondern auch in der Bevölkerung und der Politik. Denn was ein Ernstfall für die betroffenen Gebiete bedeutet, gerät allzu schnell in Vergessenheit.
"Früher war das allen klar. Heutzutage würde ja kein Mensch damit rechnen, dass sowas geschieht, und die Menschen würden ja völlig davon überrascht werden und zwar erst in dem Moment, dass das Wasser bei ihnen im Haus steht. Wenn etwas geschieht, wären die Folgen intensiver, schlimmer. Die Möglichkeit eines Küstenschutzversagens besteht immer."
"Drum matte Feder schreib / getunckt in heisse Zähren / Der Jammer gibt dir gnug / noch mehr der Anblick ein / Ach möchte diese Schrift auf späte Zeiten währen! / Ach möchte dieses Blatt doch gleich dem Marmor seyn! / So würde Kindes Kind hieraus mit Thränen lesen / Wie groß dein Angst-Geschrey / mein Vaterland / gewesen."
"In Langwarden: 260 Menschen, 73 Häuser"
Kampf um die Küste. 300 Jahre nach der Weihnachtsflut.
Ein Feature von Tomma Schröder.

Es sprachen: Gabriele Blum, Wolfgang Condrus, Maximilian Held
Ton: Frank Klein
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Christiane Knoll
Eine Produktion des Deutschlandfunks 2017