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31 Songs

Wenn man heute Dylan oder die Beatles in ihrem unverwechselbar eigenen Sound und auf dem Höhepunkt ihres Schaffens hört (...), dann erlebt man ein kurzes, aber elektrisierendes Aufblitzen ihres Genies, und näher kommen wir Spätgeborenen der Erfahrung nicht, wie es gewesen sein muß, als diese tollen Songs einem plötzlich aus dem Radio entgegenschallten, und das zu einer Zeit, in der man derartiges nicht erwartete.

Klaus Modick | 23.06.2003
    Der gegenkulturelle Impuls jugendlichen Protests, Begleitmusik der Revolte und antibürgerlicher Affekte, die der Rockmusik in den sechziger Jahren noch eine gewisse politische Sprengkraft gaben, ist dem Genre allerdings längst abhanden gekommen. Sie ist einerseits zu einem kulturindustriellen Serienprodukt, andererseits aber auch zu einem sehr vielfältigen, in diverse Richtungen aufgefächerten, ästhetischen Ausdrucksmittel geworden. Und nur sehr hartleibige, kulturpessimistische Snobs kämen heute noch auf die Idee, der Rock- und Popmusik ihren Kunstcharakter abzusprechen und sie pauschal als Trivialkultur abzumeiern. Die Texte von Rocksongs stehen gelegentlich auf hohem, literarischen Niveau – daß Bob Dylan als ernstzunehmender Kandidat für den Literatur-Nobel-Preis gilt, ist kein Wunschdenken hagiographischer Fanclubs. Umgekehrt sind Strukturelemente des Rocksongs inzwischen in die Literatur eingewandert, als Motiv, aber auch als stilbildender Impuls.

    Nachdem der englische Schriftsteller Nick Hornby 1996 die generationsprägende, identifikationsstiftende Funktion der Rock- und Popmusik ins Zentrum seines international erfolgreichen Debütromans High Fidelity gestellt hatte, fand er in Deutschland schnell einige Epigonen, die unter dem Marketing-Label "Pop-Literatur" allerlei trivialen Zeitgeistschaum schlugen. Doch ist Hornby alles andere als ein trendiger Pop-Literat, sondern ein von Popmusik sozialisierter und begeisterter Schriftsteller, den der Zusammenhang zwischen Musik und Wort interessiert. Indem er sich auf einen Satz des viktorianischen Kritikers Walter Pater bezieht, dass alle Kunst den Zustand von Musik anstrebe, umreißt Hornby sein literarisches Programm und Credo: "Songschreiber wie Romanschrifteller suchen nach Material, das eine vielschichtigere Bedeutung hat, etwas, das Widerhall und ironische Brechungen und Substanz und Verwicklung beinhaltet, etwas, das sowohl zeitgebunden wie zeitlos ist."

    Das ist natürlich keine neue Erkenntnis. Musik hat Schriftsteller immer schon fasziniert, inspiriert und wegen der emotionalen Unmittelbarkeit ihrer Wirkung eifersüchtig gemacht. Aber mit den 31 Kurzessays dieses Buchs gelingt es Hornby, Gründe für die emotionale Durchschlagskraft guter Popsongs zu benennen. Es geht keineswegs darum, die Popmusik zu sperriger Hochkultur zu adeln. "Musik ist", schreibt Hornby, "wie Farbe oder eine Wolke, weder intelligent noch unintelligent – sie ist einfach. (...) Obwohl es so krude und einfach klingt, ist ‚Twist and Shout‘ gut – jeder Versuch, es zu verfeinern, würde ihm nur abträglich sein -, und ich widerspreche jedem, der musikalische Kompliziertheit und Intelligenz mit überlegener Qualität gleichsetzt." Im Gegenteil sieht Hornby in der Unempfindlichkeit der Popmusik gegen Motivation und innere Überzeugung, ihrer Eingängigkeit und Leichtfertigkeit, das zündende Element ihrer Wirkung. Und schon gar nicht geht es um die unfruchtbare Gegenüberstellung von U- und E-Kultur. Es geht Hornby vielmehr darum, gerade die scheinbare Unernsthaftigkeit des Pop ernst zu nehmen und für die Kritik ein Vokabular zu entwickeln, das es uns ermöglicht, das Gute vom Schlechten zu unterscheiden, das Banale vom Durchdachten, das Frische vom Abgestandenen.

    Hornbys 31 Auseinandersetzungen mit teils bekannten, teils eher exotischen Songs – dieser Autor ist auch eine Art musikalisches Trüffelschwein - stellen keinen Kanon bester Songs auf und verstehen sich ausdrücklich nicht als Musikkritik, machen jedoch autobiografisch geladene, sehr subjektive, manchmal etwas banale, alles in allem jedoch anregende Vorschläge für solch einen Diskurs. Die Spannbreite reicht von Klassikern wie Bob Dylan und den Beatles über Bruce Springsteen bis zu Pattie Smith und Aimee Mann. Es sind die Vorschläge eines Schriftstellers, der ohne Musik nicht schreiben, nicht existieren könnte. Er liebt die Beziehung jedes Menschen zur Musik: "Weil wir etwas in uns haben, das jenseits aller Worte liegt, etwas, das sich unseren Versuchen, es rauszulassen, entzieht und widersetzt. Es ist wahrscheinlich der beste Teil von uns, der reichste und befremdlichste."