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40 Jahre Moskauer Helsinki Gruppe
Russlands älteste Menschenrechtsaktivisten

In Russland haben es regierungskritische Menschen und Organisationen schwer. Optimistisch bleiben nur diejenigen, die schon zu Sowjetzeiten für Menschenrechte kämpften, dafür jahrelang in Lagern saßen. Zu ihnen zählen die Gründer der Moskauer Helsinki-Gruppe, der ältesten Menschenrechtsorganisation Russlands. In diesem Monat feiert sie ihr 40-jähriges Bestehen.

Von Gesine Dornblüth | 17.05.2016
    Aktivisten der Moskauer Helsinki-Gruppe demonstrieren mit dem Slogan "Stoppt Gewalt" auf einem Plakat, um russische Journalisten zu unterstützen.
    Aktivisten der Moskauer Helsinki-Gruppe während einer Kundgebung zur Unterstützung russischer Journalisten (dpa / Artyom Korotayev)
    Kristallleuchter, lange Vorhänge vor den Fenstern, Schnittchen. Die Feierstunde in der Residenz des deutschen Botschafters in Moskau gilt der Moskauer Helsinki-Gruppe. Vierzig Jahre ist es her, da beriefen elf Dissidenten in der Wohnung von Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow eine Pressekonferenz ein und gaben die Gründung der Menschenrechtsgruppe bekannt. Das war gefährlich.
    Natan Scharanskij war damals in der Wohnung Sacharows dabei. Die Idee war folgende: "Wir sammeln Fakten über Verletzungen der KSZE- Schlussakte von Helsinki durch die Sowjetunion und machen sie öffentlich. Wir werden natürlich verhaftet werden, aber die Debatte über Menschenrechtsverletzungen wird das Regime nicht mehr verhindern können."
    Sie wurden verhaftet, als Hochverräter und Spione verurteilt. Natan Scharanski bekam 13 Jahre Lagerhaft. Er emigrierte anschließend nach Israel, ging dort in die Politik. Die Moskauer Helsinki-Gruppe wurde aufgelöst und erst 1989 in Folge der Perestroika wieder gegründet.
    1976 regierte Leonid Breschnjew, es war die Phase einer pragmatischen Annäherung zwischen Ost und West. Kurz zuvor hatten 35 Staaten - europäische, die Sowjetunion, die USA und Kanada - die KSZE-Schlussakte unterzeichnet und sich darin dazu bekannt, Grenzen anzuerkennen, auf Gewalt zu verzichten, Menschenrechte zu achten. Aus der KSZE wurde später die OSZE. Deren Vorsitz hat derzeit Deutschland inne, deshalb die Feierstunde in der deutschen Botschaft.
    Die sowjetischen Dissidenten hatten die Schlussakte von Helsinki zunächst als Verrat betrachtet, als Kapitulation des Westens vor dem Osten, erzählt Natan Scharanskij: "Unsere Logik sagte uns: Die Sowjetunion hat bekommen, was sie wollte: Die Besetzung von Teilen Osteuropas im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes wurde quasi legalisiert; das Baltikum wurde legaler Teil der Sowjetunion. Obendrein bekam sie noch wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen. Und das ganze für die üblichen Versprechungen, für ein paar schöne Worte über Menschenrechte."
    Gruppe schmuggelte Dokumente in den Westen
    Versprechungen, die die Sowjetunion nicht einhalten würde, davon waren Scharanskij und seine Freunde überzeugt. Das aber wollten sie dem Regime nicht durchgehen lassen. "Wir Dissidenten waren damals fast alle arbeitslos. Ich habe den anderen Englischstunden gegeben. Wir haben ein bisschen Englisch gemacht und dabei ständig diskutiert: Wie kriegen wir es hin, dass die Sowjetunion die Helsinki-Schlussakte nicht in ein Feigenblatt verwandelt."
    In den wenigen Monaten ihrer Existenz schaffte es die Gruppe, Dokumente über mehr als ein Dutzend Fälle von Menschenrechtsverletzungen durch den Eisernen Vorhang hindurch in den Westen zu schmuggeln.
    Die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ludmila Alexejewa
    Die Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe, Ludmila Alexejewa (picture alliance / dpa / Krasilnikov Stanislav)
    Ein Stuhl wird auf die Bühne gerückt. Eine kleine zerbrechlich wirkende Frau nimmt Platz. Ljudmila Alexejewa, 88 Jahre alt. Sie war damals der Motor der Helsinki-Gruppe, wurde zur Ausreise in die USA gezwungen. Seit 1993 lebt sie wieder in Moskau, und seit 1996 ist sie Vorsitzende der Helsinki-Gruppe. Alexejewa hat in den 1990er Jahren die Hochzeit der demokratischen Reformen miterlebt. Sie baute ein Netzwerk in ganz Russland auf. Russlands erster Präsident Boris Jelzin wies den Moskauer Bürgermeister sogar an, der Helsinki-Gruppe Büroräume zur Verfügung zu stellen.
    Jetzt erlebt Alexejewa, wie Menschenrechtler wieder zu Volksfeinden erklärt werden. Das Büro der Helsinki-Gruppe wurde von Behörden durchsucht. Sie sah sich gezwungen, auf ausländische Fördergelder zu verzichten, um nicht als "ausländischer Agent" zu gelten.
    Alexejewa mischt sich noch immer ein
    "Wir rutschen offensichtlich zurück, und seit einiger Zeit rutschen wir immer mehr. Aber langfristig bin ich trotzdem Optimistin. Vielleicht, weil ich auch schon den ungebremsten Terror gegen die Gesellschaft unter Stalin erlebt habe. Wenn mir damals oder auch noch später in der Sowjetunion jemand gesagt hätte, dass mich eine deutsche Radioreporterin interviewt, und dass ich deshalb nicht nur nicht verhaftet werde, sondern mir gar nichts droht... Hören Sie, wer sein ganzes Leben im Wohlstand in einem anderen Land verbracht hat, weiß das vielleicht nicht zu schätzen, aber mir zeigt es, dass unser Land einen riesigen Weg in die richtige Richtung zurückgelegt hat."
    Alexejewa mischt sich noch immer aktiv in die Politik ein. Mitunter subversiv. Als die Duma vor vier Jahren das Versammlungsrecht einschränkte und Demonstrationen der Opposition nahezu unmöglich machte, lud sie kurzerhand 200 Oppositionelle zu ihrem 85. Geburtstag in ein Café ein. Fertig war die Versammlung.
    Um weiterhin arbeiten zu können, geht die Helsinki-Gruppe mit ihren rund zehn Angestellten aber auch Kompromisse ein. Sie akzeptiert Geld aus dem sogenannten Präsidentenfond. Und Ljudmila Alexejewa sitzt in Wladimir Putins Menschenrechtsrat. Dieser Kurs ist innerhalb der Gruppe umstritten. Einige empfinden ihn als Anbiederung. Genri Reznik sieht das anders. Der Staranwalt hat die Helsinki-Gruppe 1989 wieder mit aufgebaut. Heute ist er 78 Jahre alt und steht immer noch regelmäßig im Gericht:
    "Wir sind ziemlich bissig. Jeder muss in seinem Umfeld tun, was er kann. Wir kämpfen noch ein bisschen weiter. Ich führe Prozesse. Und ich glaube fest, dass unsere Tätigkeit Spuren hinterlässt."