Zukunftsversprechen

Man kann den Fesseln der Zeit nicht entkommen

Ausgelassen feiern Menschen am 31.12.1989 auf der Berliner Mauer vor dem Brandenburger Tor.
Voreilig wurde das "Ende der Geschichte" ausgerufen und das Party-Jahrzehnt eingeläutet. Und heute? © picture alliance / dpa / Wolfgang Kumm
08.12.2017
Ein großer Wunsch des Menschen schien Anfang der 90er-Jahre in Erfüllung zu gehen: Von der Last der Vergangenheit befreit zu werden, wie auch von der Ungewissheit der Zukunft. Doch von der einstigen Zuversicht ist wenig übrig geblieben, findet der Publizist Ofer Waldman.
Ach, waren die 90er schön! Die Vergangenheit war endlich vergangen, die Zukunft gewiss und strahlend klar.
Im frisch zusammengewendeten Deutschland der 90er redete man über blühende Landschaften. Die Vergangenheit wurde soweit aufgearbeitet, verdaulich gemacht, bis sie von einem lauernden Abgrund an jedem Familientisch zum ordentlich verwalteten Teil der deutschen Landschaft wurde. In jeder Region und in jedem Bezirk gab es Cafés, Krankenhäuser, Kitas, Wasserwerke und ein Mahnmal.
Mit dem Verschwinden der letzten hochrangigen NSDAP-Mitglieder – noch in den 70ern saßen einige von ihnen in Ost und West im öffentlichen Dienst, mind you – ließ sich das deutsche Schuldbekenntnis leichter aussprechen; es wurde im In- und Ausland vergebend zur Kenntnis genommen, während das wiedervereinigte Berlin sich anschickte, das neue Mekka der Technoszene und Immobilienfonds zu werden.

Welle der Vergebung

Eine Welle von Bitten um Vergebung schwappte über die Welt, und riss mit sich die Vergangenheit fort: In Südafrika wurden "Wahrheits- und Versöhnungskomitees" gegründet; in Australien und Neuseeland entschuldigte man sich bei den Ureinwohnern; sogar zwischen Palästinensern und Israelis schien der Frieden zum Greifen nah.
Der Pax Americana, der amerikanische Frieden, wurde auf den Flügeln des goldenen "M" von McDonalds in alle Welt getragen. In seinem entmündigenden Schatten konnten die Europäer sich endlich ihrer Lieblingsbeschäftigung widmen – sich selbst.
Die Polizei wurde freundlicher, die Flüsse sauberer, sogar die Musik wurde endlich wieder besser. Es sei das Ende der Geschichte, frohlockte ein amerikanischer Historiker.
Ein großer Wunsch des Menschen schien damals in Erfüllung zu gehen: Von der Last der Vergangenheit befreit zu werden, wie auch von der Ungewissheit der Zukunft. Den Fesseln der Zeit zu entkommen.
"Das Heilmittel dagegen, dass man Getanes nicht rückgängig machen kann," schreibt Hannah Arendt, "liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen. Und das Heilmittel gegen die chaotische Ungewissheit alles Zukünftigen," fährt sie fort, "liegt in dem Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten."
Von der einstigen Zuversicht ist allerdings wenig übriggeblieben. An beiden Enden dieser gewogenen Glückseligkeit toben heftige Stürme. Zum einen entpuppt sich die geregelte Vergangenheit als eine ziemlich westliche Geschichte: Fragen Sie mal in Warschau, Algier, Saigon oder Kabul nach.

Die deutsche Vergangenheit bricht aus ihrem Käfig aus

Und während bedrohliche Vergangenheiten sich durch globale Netzwerke und Migration den Weg in unser Bewusstsein bahnen, bricht die deutsche Vergangenheit durch neue politische Kräfte aus dem Käfig ihrer Mahnmäler aus, und kehrt in die Gegenwart zurück.
Auch die Zukunft sah schon mal besser aus. Während die drei Parteien des deutschen Bürgertums scheiterten, sich auf ein Zukunftsversprechen zu einigen, schleicht sich die Sorge ein, dass das deutsche Wohlstandsversprechen genauso manipuliert sein könnte, wie die Abgaswerte von VW.
Sind wir also wieder im Käfig der Zeit gefangen, auf einer Achterbahn, dessen Bremsen von Trump an Putin verkauft wurden? Sind wir, wie Arendt schreibt, "hilflos der Dunkelheit des menschlichen Herzens, seinen Zweideutigkeiten und Widersprüchen ausgeliefert"?
Neue Versprechen werden anstelle der alten kommen: Ob hoffnungsvoll oder bedrohlich, hängt von denjenigen ab, die es wagen, sie auszusprechen.

Ofer Waldman, in Jerusalem geboren, war Mitglied des arabisch-israelischen West-Eastern-Divan Orchesters. In Deutschland spielte er als Hornist unter anderem beim Rundfunk-Sinfonie-Orchester Berlin sowie den Nürnberger Philharmonikern. Neben einem Engagement an der Israelischen Oper absolvierte er ein Masterstudium in Deutschlandstudien an der Hebräischen Universität Jerusalem und promoviert im Fach deutsche Literaturgeschichte. Ofer Waldman ist ehrenamtlicher Vorsitzender der israelischen Menschenrechtsorganisation "New Israel Fund Deutschland".

Der Publizist und Musiker Ofer Waldmann
© Kai von Kotze
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