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450 Jahre Shakespeare
Shakespeares Menschenbild noch heute populär

Er zählt selbst 450 Jahre nach seiner Geburt zu den populärsten Schriftstellern: Denn William Shakespeare habe als erster Bühnendichter ein Menschenbild und Wertesystem geschaffen, das bis heute prägend sei, sagte die Shakespeare-Kennerin Hammerschmidt-Hummel im DLF.

Hildegard Hammerschmidt-Hummel im Gespräch mit Christoph Heinemann | 25.04.2014
    Die Anglistin Hildegard Hammerschmidt-Hummel und ein Porträt von Shakespeare
    Die Anglistin Hildegard Hammerschmidt-Hummel und ein Porträt von Shakespeare (picture-alliance / dpa / Daniel Reinhardt)
    Shakespeare habe "ein umfassendes Bild des Menschen gezeichnet hat, der von Unbewussten und auch von Träumen gesteuert wird und auch in seiner ganzen seelischen Verletzlichkeit und Zerrissenheit dargestellt wird", sagte die Anglistin und Literaturwissenschaftlerin Hildegard Hammerschmidt-Hummel im Deutschlandfunk. Diese Darstellungen waren bis dahin auf der Bühne eigentlich nicht üblich. Shakespeare habe so Traumtheorien vorweg genommen, die etwa Sigmund Freud erst viel später beschrieben habe. "In diesem Menschenbild, das Shakespeare konzipiert hat, erkennen wir uns eigentlich noch heute wieder und auch in dem ihm zugrunde liegenden Wertesystem."
    Bei deutschen Theatern und Lesern sei das Drama "Hamlet" das beliebteste Werk Shakespeares. "Mit der Titelfigur, ihrer Zerrissenheit, ihrer Handlungsunfähigkeit, hat man sich ganz besonders im 19. Jahrhundert identifiziert", sagte Hammerschmidt-Hummel. "Denn damals sehnten sich die deutschen Dichter, die unter der Kleinstaaterei und Unterdrückung ihres Landes und der Fürsten litten, nach Freiheit und nach nationaler Einheit. Das war das große Ziel der Freiheitsdichter des 19. Jahrhunderts."

    Das Interview mit Hildegard Hammerschmidt-Hummel in voller Länge:
    Christoph Heinemann: Die Karriere - wir reden jetzt über Shakespeare - ist ihm nicht an der Wiege gesungen worden. Die stand in Stratford-upon-Avon im Haus eines Handschuhmachers. Morgen vor 450 Jahren wurde in dieser Stadt in der Holy Trinity Church der gewisse William Shakespeare getauft. Die Shakespeares gehörten dem gehobeneren Bürgertum an, Vater John brachte es zum Bürgermeister der Stadt Stratford. Der kleine William besuchte die Lateinschule, Shakespeare wurde Schauspieldirektor, Theaterdirektor, Geschäftsmann und Dichter, und zwar was für einer! Er schuf Typen, denen wir bis heute begegnen: den Zauderer Hamlet, den Kraftprotz Othello und viele mehr. Fast 40 Dramen, die Sonette, und das alles in bewegter Zeit! Shakespeare erlebte den Übergang von Elisabeth zu Jakob, also von den Tudor- zu den Stuart-Königen, die Verfolgung der Katholiken - die wird im folgenden Gespräch eine große Rolle spielen -, die Hinrichtung von Elisabeths katholischer Rivalin Maria Stuart. Daraufhin rüstete der spanische König Philipp II. zur Invasion Englands und das hat nun überhaupt nicht geklappt, 1588 wurde die spanische "Armada" vernichtet und damit waren dann die Weichen zugunsten Englands gestellt im Ringen beider Nationen um die Weltherrschaft. So viel zum Großen und Ganzen. Die Anglistikprofessorin Hildegard Hammerschmidt-Hummel, die an der Universität Mainz gelehrt hat, gilt hierzulande als eine der besten Shakespeare-Kennerinnen. Sie war außerdem Leiterin des Shakespeare-Bildarchivs der Hochschule, kennt den Dichter deshalb geradezu von Angesicht zu Angesicht. Mit ihr habe ich - jetzt kommt es - vor dieser Sendung das folgende Gespräch geführt.
    Wie und wann erwachte Ihre Leidenschaft für William Shakespeare?
    Hildegard Hammerschmidt-Hummel: Meine große Leidenschaft für William Shakespeare begann, als ich im Alter von etwa 16 Jahren eine faszinierende Aufführung von "Hamlet" sah, und zwar mit Maximilian Schell in der Titelrolle.
    Heinemann: Wo war das?
    Hammerschmidt-Hummel: Das war, glaube ich, eine Fernsehaufzeichnung aus Hamburg, ich glaube, am Thalia-Theater in Hamburg.
    Heinemann: Und diese große Leidenschaft blieb seither.
    Hammerschmidt-Hummel: Die blieb. Es ging in der Schule weiter mit "Macbeth", den wir lasen, und da habe ich vollends Feuer gefangen.
    Heinemann: Was hat Sie an beiden Stücken, am "Hamlet" und am "Macbeth", so fasziniert?
    Hammerschmidt-Hummel: Am "Hamlet" natürlich diese Zerrissenheit der Gestalt. Bei "Macbeth" war es dann, dass dort eine Heldengestalt, eine Lichtgestalt sich im Laufe des Stückes wandelt ja zu einem Luzifer. Und bei Lady Macbeth war es eigentlich genau umgekehrt, die hat die Last der Schuld nicht ertragen und ist darüber wahnsinnig geworden.
    Heinemann: Wie kommen Shakespeares Dramen am besten zur Geltung? Wenn man sie liest oder, wie bei Ihrem ersten Eindruck, wenn man sie im Theater sieht?
    Hammerschmidt-Hummel: Also, die Stücke wurden ja für die Bühne geschrieben. Und dort auf der Bühne kommen sie sicherlich auch am besten zur Geltung.
    "Als erster Bühnendichter ein umfassendes Bild des Menschen gezeichnet"
    Heinemann: Der Mann ist vor 450 Jahren geboren worden, das heißt, heute vor 450 Jahren war er wenige Tage alt. Wieso gilt William Shakespeare als einer der größten Dramatiker der Weltliteratur?
    Hammerschmidt-Hummel: Man kann vielleicht sagen, dass er wohl als erster Bühnendichter ein umfassendes Bild des Menschen gezeichnet hat. Und dass er erstmals auch berücksichtigt hat, dass das Individuum vom Unbewussten und auch von Träumen gesteuert wird und auch in seiner ganzen seelischen Verletzlichkeit und Zerrissenheit dargestellt wird. Das war bis dahin auf der Bühne eigentlich nicht üblich. Und in diesem Menschenbild, das Shakespeare konzipiert hat, erkennen wir uns eigentlich heute noch wieder. Und auch in dem ihm zugrunde liegenden Wertesystem.
    Heinemann: Kann man sagen, ein Psychologe als Dramatiker?
    Hammerschmidt-Hummel: Ja. Sigmund Freud hat ja sehr stark auf Shakespeare zurückgegriffen. Und Shakespeare hat sozusagen auch was die Traumtheorien des 20. Jahrhunderts betrifft, alle schon vorweggenommen.
    Heinemann: Können Sie ein Beispiel geben?
    Hammerschmidt-Hummel: Die ganz banalen Träume, die Wunsch erfüllenden Träume, aber es gibt die großen prophetischen Träume. Hamlet hat ja auch Träume und er sagt, er könne in eine Nussschale eingesperrt werden und sich dennoch als König fühlen, hätte er nicht diese wahnsinnig schlechten Träume, die ihm zu schaffen machen und das Leben schwer machen.
    Heinemann: Wie konnte aus einem Jungen, der aus bürgerlichen, heute würde man vielleicht sagen: gutbürgerlichen Verhältnissen stammte, ein solches literarisches Schwergewicht werden?
    Hammerschmidt-Hummel: Der junge Shakespeare hat ganz offensichtlich eine akademische Ausbildung erhalten, davon zeugt das Werk. Aber er hat sie nicht in Cambridge oder in Oxford erhalten, sondern in dem damals einzigen katholischen englischen Kolleg auf dem Kontinent, und das war in Douai beziehungsweise Reims. Dort studierten Hunderte von jungen englischen Katholiken, die den Suprematseid nicht leisten wollten, der in England an den englischen Universitäten gefordert war.
    Heinemann: Und der was abverlangte?
    Hammerschmidt-Hummel: Der Suprematseid bedeutete, dass man schwor, dass die Königin das Oberhaupt der Kirche sei. Und diesen Eid konnte kein Katholik schwören. Gelehrt wurde nach jesuitischem Prinzip und nach jesuitischem Curriculum und dort wurde sehr viel Theater gespielt und dort konnte eben Shakespeare auch das Rüstzeug als Bühnenautor erwerben, denn es fällt kein Dramatiker vom Himmel. Er kam 1592 nach London und war ein ausgebildeter Dramatiker, der die Bühne Londons, der Hauptstadt, im Sturm eroberte.
    Spiegelung der Zeitgeschichte im Werk
    Heinemann: Und einer, der politisch bewegte Zeiten erlebt hat. Hat er diese Zeitgeschichte in seinen Werken aufgegriffen?
    Hammerschmidt-Hummel: Shakespeare hat in der Tat politisch bewegte Zeiten erlebt. Er hat als Anhänger des alten Glaubens sogar hoch gefährlich gelebt. 1563, genau ein Jahr vor seiner Geburt, trat die neue protestantische Grundordnung in Kraft. Das waren die sogenannten 39 Articles. Die englischen Katholiken wurden bei Strafe gezwungen, den protestantischen Glauben anzunehmen. Und Elisabeth I. wollte nachweislich den Katholizismus noch zu ihren Lebzeiten ausrotten. 1580 wurde es besonders gefährlich, weil in diesem Jahr eine erfolgreiche jesuitische Missionsbewegung einsetzte, und zwar zur Rückgewinnung Englands für Rom. Und da diese Bewegung sehr erfolgreich war, reagierte das Parlament, reagierte die Regierung, und erließ drakonische antikatholische Strafgesetze. Es war ganz unerträglich, was sich da in England abgespielt hat: Das Lesen und Hören der Messe beispielsweise oder der Besitz katholischer Gegenstände wie Marienbildnisse, Kruzifixe, Rosenkränze oder auch das Verstecken von Priestern und Ordensgeistlichen, das waren schwere Straftatbestände, die eine Anklage wegen Hochverrats nach sich zogen und auch die grausamen Hinrichtungen.
    Heinemann: Und spiegelt er das in seinem Werk?
    Hammerschmidt-Hummel: Es wird in seinem Werk gespiegelt, aber er musste natürlich vorsichtig sein. Er hat es immer verdeckt gemacht. Und diese Stücke, das ist so die Hälfte seines Werks, wurden erst sieben Jahre nach seinem Tod veröffentlicht. Denn vorher war es viel zu gefährlich.
    Heinemann: Ein Beispiel vielleicht?
    Hammerschmidt-Hummel: "Wie es euch gefällt", eine harmlos scheinende Komödie, die aber nicht so harmlos ist, wie sie scheint. Man muss dazu sagen, dass viele Anhänger des alten Glaubens unter den Verhältnissen und der rigorosen Verfolgung nach Flandern, in das katholische Flandern geflohen sind, und in den Ardennen - und zwar ganz in der Nähe des englischen Kollegs, das ich eben schon erwähnte - lebte eine große Kolonie englischer Exilkatholiken, und zwar in sehr elenden Verhältnissen. Und genau darauf scheint Shakespeare in "Wie es euch gefällt" anzuspielen: Er skizziert sozusagen in dieser Komödie eine notleidende, aber gleichwohl auch innerlich glückliche Exilgemeinschaft, und die Menschen sind vor der Willkür eines tyrannischen Usurpators geflohen, und zwar in den - und das ist bezeichnend, der Terminus -, in den Ardenner Wald, the Forest of Arden. Die Ardennen waren genau der Originalschauplatz, an dem diese Kolonie gelebt hat. Das Stück endet, als der Tyrann die Exilgemeinschaft mit militärischer Gewalt vernichten will. Er zieht also mit einem Heer aus und sein Ziel ist, alles auszurotten. Dann wird er von einem Mönch angesprochen und zur Umkehr bewegt, und alles nimmt einen glücklichen Ausgang. Das ist also etwas, von dem man sagen kann, dass Shakespeare hier offenbar einen Lösungsweg anbieten wollte für den großen Religionskonflikt in seinem Heimatland.
    Heinemann: Stichwort konfessionelle Zerrissenheit: Shakespeare ist in Deutschland einer der meistgespielten Bühnenautoren. Wieso ist er hierzulande so beliebt?
    Hammerschmidt-Hummel: Das beliebteste Stück in Deutschland und der Deutschen ist "Hamlet". Mit der Titelfigur, ihrer Zerrissenheit, ihrer Handlungsunfähigkeit, hat man sich ganz besonders im 19. Jahrhundert identifiziert, denn damals sehnten sich die deutschen Dichter, die unter der Kleinstaaterei und der Unterdrückung ihres Landes und der Fürsten litten, sehnten sich nach Freiheit und vor allen Dingen nach nationaler Einheit, das war das große Ziel der Freiheitsdichter des 19. Jahrhunderts. Und der Revolutionär - heute ist er gar nicht mehr so bekannt - und Dichter Ferdinand Freiligrath hat das in ein Gedicht gekleidet und das beginnt, das darf ich vielleicht mal zitieren, die zwei Zeilen: "Deutschland ist Hamlet! Ernst und stumm/In seinen Toren jede Nacht/Geht die begrabne Freiheit um".
    "Hamlet" am engsten mit seiner Gegenwartsgeschichte verwoben
    Heinemann: Im 19. Jahrhundert wurde bezweifelt, dass Shakespeare überhaupt gelebt hat. Seine Werke wurden anderen Autoren zugeordnet...
    Hammerschmidt-Hummel: Absolut haltlos. Denn es gibt unzählige historische Text- und Bildquellen, die belegen, dass Shakespeare, William Shakespeare aus Stratford, die weltberühmten Dramen verfasst hat. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel.
    Heinemann: Welches seiner Werke ist für Sie, die Fachfrau, das für Shakespeare typischste?
    Hammerschmidt-Hummel: Ich würde die Frage eigentlich etwas erweitern und...
    Heinemann: Aber nicht zeitlich!
    Hammerschmidt-Hummel: ... hinzufügen - nein, nein! -, welches seiner Werke ist das typischste und am engsten mit Shakespeares Gegenwartsgeschichte verwoben!
    Heinemann: Okay!
    Hammerschmidt-Hummel: Wenn man die Frage so stellt, muss man wohl "Hamlet" nennen, denn mit diesem Stück setzte der damals ja traumatisierte Shakespeare - anders kann man das nicht ausdrücken - ganz offenbar dem Grafen von Essex, seinem 1601 hingerichteten politischen Hoffnungsträger, ein ganz einzigartiges literarisches Denkmal. Denn Essex war zuvor der mächtigste Mann des englischen Königreichs, direkt nach der Königin, und er hat den unterdrückten und verfolgten Katholiken Toleranz nicht nur signalisiert, sondern auch versprochen, indem er einen Thronfolger aufbaute, der alles ändern wollte nach der Thronbesteigung. Aber Essex wurde von seinen Feinden zu Fall gebracht und da brach für Shakespeare eine Welt zusammen. Er hat ihm ganz offensichtlich "Hamlet" gewidmet, denn interessanterweise ist das katholische Gebet, was Essex auf dem Schafott dreimal spricht, - er spricht es einmal und wiederholt es zweimal -, das ist identisch mit dem Gebet, was Horatio für den toten Prinzen spricht. Und das hat ein englischer Shakespeare-Forscher in den 30er-Jahren als peinlich betrachtet, weil er es nicht wahrhaben wollte, dass Shakespeare, den er für einen protestantischen Dichter hielt, seinem Helden ein katholisches Gebet auf die Lippen legt.
    Heinemann: So kann man sich irren. Die Shakespeare-Forscherin und Anglistikprofessorin Hildegard Hammerschmidt-Hummel.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.