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50:50 zwischen Befürwortern und Gegnern einer Unabhängigkeit Kataloniens

Die Eurokrise befördere das Verlangen vieler Katalanen nach Unabhängigkeit von Spanien, sagt Paul Ingendaay, FAZ-Kulturkorrespondent in Madrid. Am 25. November werde sich entscheiden, ob durch die Wiederwahl von Kataloniens Ministerpräsident Artur Mas der Weg für ein Referendum frei werde.

Fragen von Stefan Koldehoff an Paul Ingendaay | 06.11.2012
    Stefan Koldehoff: Man sieht sie als Aufkleber auch auf vielen Autos, die aus dem Urlaub im Nordosten Spaniens zurückkehren: die "Senyera", die goldgelbe Fahne Kataloniens mit den vier roten Streifen – manchmal noch ergänzt um Sterne, das Symbol der Unabhängigkeitsbewegung. Seit Jahren und Jahrzehnten fordern inzwischen Millionen von Katalanen die Separation vom spanischen Staat. Das wurde im übrigen Europa bislang überwiegend als Nationalfolklore abgetan. Jetzt aber sagt Regionalpräsident Artur Mas in Barcelona, es könne nicht mehr alles beim Alten bleiben: Es gebe neue Argumente. Und die sind offenbar nicht mehr in erster Linie kulturelle Argumente, wie in der Vergangenheit zum Beispiel die Sprachenfrage. Paul Ingendaay, FAZ-Kulturkorrespondent in Spanien, ist jetzt auf dem Weg ins Stadion – Real gegen Dortmund. Deshalb habe ich ihn vor dieser Sendung gefragt, wie denn nun in Sachen Katalonien neu argumentiert wird.

    Paul Ingendaay: Die Eurokrise hat das Thema sehr befördert und verschärft geradezu. Immer wenn es um Geld geht, erwachen ja die Eigensüchte, aber auch natürlich legitime Bedürfnisse, und das mischt sich auf Parteienebene, auf Volksebene. Es gab eben im September diesen großen, großen Zug für die Unabhängigkeit, der eigentlich ein Nationalfeiertag in Katalonien war und sich dann verwandelt hat in einen Schrei nach Unabhängigkeit nur eines Teiles der Bevölkerung, denn ungefähr 50:50 schätzt man die Befürworter und Gegner einer katalanischen Unabhängigkeit ein, sodass also hier es sehr auf Messers Schneide steht.

    Koldehoff: Nun wird, wenn wir das hier richtig mitbekommen, viel argumentiert mit den Transferleistungen, die das auch nicht gerade reiche Katalonien nach Madrid zahlen muss – sechs bis acht Milliarden Euro, davon ist die Rede. Früher wurde mal kultureller argumentiert, oder? Beispielsweise mit dem Recht auf eine eigene katalanische Sprache und anderem. Hat sich da was geändert? Spielt die Kultur keine Rolle mehr?

    Ingendaay: Ich neige ja auch dazu, eher mit den kulturell Interessierten zu sprechen, und bin vor Kurzem in Katalonien im Zusammenhang mit dem Spiel Real Madrid gegen Barca im Stadion vorher mit Schriftstellern zusammengetroffen. Und der eine, Sergi Pàmies, der auch in Deutschland gelesen wird, der erzählte, er sei gegen die Unabhängigkeit. Er schreibt auf Katalanisch, sagt aber, es müsse ein Referendum jetzt geben, weil die Welle schon zu weit gerollt sei. Wenn jetzt der Zentralstaat den Katalanen selbst das verwehrt, nämlich zu fragen, wie es denn stünde, wäre er sehr dafür, dass dann zurückgeschlagen wird. – Also sie haben ganz komplexe und auch innerlich widersprüchliche Meinungen, auch von Autoren, auch von Intellektuellen, vom Volk sowieso, und die katalanische Gesellschaft ist tief gespalten. Das kann man nicht anders sagen.

    Koldehoff: Wenn dann also der spanische König von Madrid aus verkündet, jeder Gedanke an Unabhängigkeit sei ein Hirngespinst, dann wird er damit ein Feuer eher anfachen, wenn die Minimalforderung die ist, wenigstens diskutieren zu dürfen, oder?

    Ingendaay: Ja, ich glaube das auch. Es ist für Deutsche schwierig, sich vorzustellen, wie in einem Zentralstaat gedacht wird. Dieser Zentralstaat Spanien war ja nicht immer gut beraten mit sehr kategorischen, brüsken Entscheidungen, oder auch mit autoritären Gesten. Und da kommen aus Madrid auch von der jetzigen Regierung, nicht jetzt vom Ministerpräsidenten Rajoy, sondern eher von seinen Mitarbeitern, einfach sehr scharfe Signale und die stoßen auf Unmut. Das heißt, ganz normale Leute, die sagen, bitte respektiert doch erst mal das, was wir hier empfinden und denken, fühlen sich auch schon auf die Barrikaden getrieben, die sie selber gar nicht bauen wollten, sodass der Ton von beiden Seiten scharf geworden ist. Und mit der Wahl am 25. November wird sich zumindest entscheiden, ob der politische Antriebsmotor, nämlich Artur Mas, ob der eine Mehrheit bekommt für ein Referendum, was dann in zwei Jahren abgehalten werden sollte, und ob es dann auf einen eigenen Staat zulaufen kann.

    Koldehoff: Jetzt könnte ich mich entscheiden, ob ich Sie eher nach dem Ergebnis des Fußballspiels frage, das Sie sich heute Abend im Stadion angucken werden, wie Sie mir erzählt haben, oder nach dem Ergebnis des Referendums. Ich entscheide mich fürs Referendum. Was glauben Sie?

    Ingendaay: Beides ganz, ganz schwierig. Ich glaube eher, dass Real Madrid heute Abend gewinnt, als dass das Referendum jetzt klar zu erkennen wäre. Es gibt noch einige Fallstricke, denn die EU hat eigentlich inzwischen gesagt, es versteht sich gar nicht von selbst, im Gegenteil, dass ein unabhängiger Staat, der sich selber gelöst hat, gegen den Willen des großen Landes, dass der zur EU gehört. Wenn das der Fall wäre, dann wären die Katalanen nicht gut dran, und zurzeit, in den letzten Tagen, verliert auch dieser große Schwung etwas an Kraft, muss man sagen, und es dauert jetzt noch mal drei Wochen bis zur Wahl. Es könnte gut sein, dass die Zweifler die Oberhand bekommen. Das alles ist komplett offen. Es ist wirklich wie Lesen im Kaffeesatz. Aber ich fürchte, uns wird das Thema noch eine Weile beschäftigen.

    Koldehoff: Und dann melden wir uns mit Sicherheit wieder bei Paul Ingendaay in Madrid, der berichtet hat über neue Argumente der katalanischen, katalonischen, je nachdem wie man es sagen möchte, Unabhängigkeitsbewegung.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.