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50 Jahre Numerus Clausus
Die dauerhafte Notlösung

"Bildung für alle" war eine Maxime bundesdeutscher Nachkriegspolitik. Als tatsächlich immer mehr junge Menschen studieren wollten, führten die Universitäten am 27. März 1968 Zulassungsbeschränkungen ein. Doch mit dem Numerus clausus waren die Probleme nicht gelöst - im Gegenteil.

Von Andrea Westhoff | 27.03.2018
    Ein Schild weist den Weg zu einem Immatrikulationsbüro bzw. zur Zulassungsstelle einer Universität.
    Beim Medizinstudium müssen Bewerber bisweilen sieben Jahre auf den Studienplatz warten (dpa / picture alliance / Jens Kalaene)
    1968 – die Hoch-Zeit der Studentenunruhen, auch in Deutschland. Der Unmut der ersten Nachkriegsgeneration ist vielschichtig: Sie protestiert gegen den Vietnamkrieg, für mehr Bürgerrechte und sexuelle Freiheiten, aber auch wegen der Situation an den Universitäten:
    "Liebe Kollegen, Kommilitonen, Genossen: Die rote Fahne tragen die, die sich entschlossen haben, über Missstände nicht nur zu reden, sondern sie abzuschaffen."
    Denn die sind durchaus gravierend: Nach 1945 war es das Ziel der deutschen Bildungspolitik, dass möglichst viele junge Menschen Abitur machen und studieren. Tatsächlich verdoppelt sich die Studentenzahl von 1952 bis 1967. Doch darauf sind die Hochschulen gar nicht vorbereitet: Es fehlen Lehrkräfte, Laborplätze, Seminarräume. Vor allem die Fächer Medizin und Pharmazie sind total überlaufen. Deshalb beschließen Vertreter aller Universitäten in der Westdeutschen Rektorenkonferenz am 27. März 1968 einen Notmaßnahmenkatalog. Wichtigstes Element: die Einführung eines "Numerus clausus".
    "Solange eine Bildungspolitik nicht die erstrebte Entlastung zeitigt, (…) sind die Universitäten zur Aufrechterhaltung ihrer Funktionsfähigkeit zu Zulassungsbeschränkungen gezwungen."
    Plötzlich gab es viele unbesetzte Studienplätze
    Denn das heißt "Numerus clausus" eigentlich: Es gibt nur noch eine "begrenzte Zahl" von Studienplätzen pro Semester. Umgangssprachlich wird allerdings die Abiturnote, die dem Zensurendurchschnitt auf dem Abgangszeugnis entspricht, mit dem "NC" gleichgesetzt, weil sie das wichtigste Zulassungskriterium ist.
    Doch mit der Einführung eines Numerus clausus sind die Probleme nicht gelöst, im Gegenteil. Jetzt gibt es plötzlich viele unbesetzte Studienplätze, gerade in den begehrten Fächern, weil sich die Abiturienten wegen der NC-Hürde gleichzeitig bei mehreren Universitäten bewerben. 1970 berichtet ein Reporter des RIAS Berlin:
    "Die Lage an den Universitäten spitzt sich zu, Sie brauchen heute nur die Zeitungen zu lesen: In Münster gibt es heute einen Streik von mehr als 20.000 Studenten, angeführt vom Rektor selbst, um damit die Öffentlichkeit auf den schlechten Ausbau, die unzulängliche Ausstattung an Personal- und Sachmitteln usw. hinzuweisen, und in Frankfurt gibt es seit gestern wieder neue, heftige Proteste gegen den Numerus clausus."
    Letztlich, so meinen die protestierenden Studenten, sei ein Numerus clausus nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Denn dort heißt es in Artikel 12:
    "Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen."
    Die Abiturnote hat zentrale Bedeutung als NC-Größe
    Mehrfach wird das Bundesverfassungsgericht angerufen: 1972, 1978 und 2017. Aber jedes Mal haben die Karlsruher Richter entschieden, dass ein Numerus clausus an sich nicht verfassungswidrig ist, so zuletzt Vizepräsident Ferdinand Kirchhof:
    "Das knappe Angebot macht die Zuteilung der Studienplätze unausweichlich. Wenn der Staat aus diesem Grund Berufschancen zuteilt, ist er zumindest dann aber verpflichtet, die Ausbildungsplätze chancengerecht zu vergeben."
    So verpflichtete etwa das erste Urteil von 1972 die Universitäten, ihre Studienplatzkapazitäten wirklich auszuschöpfen. Wenig später kam eine verbindliche Wartezeitquote von 20 Prozent hinzu. Die Abiturnote behielt über all die Jahre ihre zentrale Bedeutung als NC-Größe, obwohl selbst konservative Politiker schon Anfang der 70er-Jahre zugaben:
    "Es haben Lebensprofile von bedeutenden Ärzten ergeben, dass gerade für den Erfolg als Arzt die Abiturnote weiß Gott nicht entscheidend ist."
    Not und Maßnahme sind inzwischen gemeinsam alt geworden
    Immerhin verfügten die Verfassungsrichter 2017, dass die Universitäten nun gesetzlich verpflichtet werden sollen, noch mindestens ein weiteres Auswahlkriterium festzuschreiben. Außerdem müssen ihre internen Vergabeverfahren transparenter werden und föderale Abitur-Unterschiede berücksichtigen.
    "Die Einführung des Numerus clausus ist eine Notmaßnahme. (…) Jede Zulassungsbeschränkung muss zeitlich befristet sein."
    Das hatte die Westdeutsche Rektorenkonferenz 1968 ausdrücklich festgestellt. Doch Not und Maßnahme sind inzwischen gemeinsam alt geworden. Heute kommen zum Beispiel im Fach Medizin fünf Bewerber auf einen Studienplatz, der NC liegt bei mindestens 1,2. Wer eine schlechtere Abiturnote hat, muss mehr als sieben Jahre warten. Oder ins Ausland gehen.