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50 Jahre WERGO

Im Mittelpunkt steht heute ein Label. Sein Name ist Synonym für ein Spezialrepertoire - für dessen Protagonisten ist es eine der besten Adressen, für die Anhänger bietet es Hochwertiges in großer Zahl. Wie kaum ein zweites Label verkörpert es auf dem deutschen Markt Seriosität, Strategie und Erfolg.

Von Frank Kämpfer | 27.05.2012
    Einst begann es mit Schallplatten, heute ist es auf wichtigen Download- und Streaming-Plattformen vertreten - in diesem Monat feiert es sein 50-jähriges Bestehen. Machen Sie sich auf ungewöhnliche Klänge gefasst.

    Luigi Nono: "Post-Prae-Ludium per Donau"
    Mike Svoboda (Tuba)
    LC 00846


    Kein Sirenengesang, kein Raketentriebwerk, kein Vulkan ist es, was sich artikuliert -eine Tuba spielt hier, getragen von Live-Elektronik. Komponist Luigi Nono experimentiert mit einem tiefstmöglichen Ton, zuvor und hernach muss der Solist, zugleich singend, in extreme Höhe hinauf. Gleichzeitigkeit von Divergentem, radikales Sowohl-als-auch - typisch für das Spätwerk des Komponisten. "Post-Prae-Ludium per Donau", so der Titel des Stücks, wurde vor 25 Jahren uraufgeführt - die hier vorliegende, brandneue Einspielung mit Mike Svoboda am Blasinstrument bringt das Mainzer Label WERGO demnächst auf den Markt. Eine Kopie des Masters liegt in Köln im Archiv - der Deutschlandfunk war der Koproduzent.

    Vor 50 Jahren begann alles mit Schönberg, Hindemith, Strawinsky und Bartók. WERGO-Firmengründer Werner Goldschmidt setzte sehr bewusst auf ein Minderheitenprogramm, das keine schnellen Erfolge verhieß. Goldschmidt, Kunsthistoriker und Sammler, und der Musikwissenschaftler Helmut Kirchmayer beabsichtigten, einerseits die im Nationalsozialismus verfemte Moderne verfügbar machen - zugleich aber auch die jüngste Komponistengeneration, die allenfalls auf Spezialfestivals oder zu nächtlicher Stunde im Hörfunk erklang. Das war ein klarer Gegenentwurf zum entpolitisierten Klassikgeschäft mit Karajan und anderen Opern- und Pultstars. Die Platten der "studio-reihe neuer musik" richteten sich an ein Spezialpublikum; auf wissenschaftlichem Niveau kommentiert, boten sie - auch aus heutiger Sicht - Tondokumente von Rang: Schlüsselwerke der frühen Moderne auf interpretatorisch maßgeblichem Niveau; dazu Ersteinspielungen heute unumstrittener Highlights der Avantgarde.

    Zum Beispiel: "Kontakte" von Karlheinz Stockhausen. 1964 veröffentliche Goldberg die berühmte Fassung des Westdeutschen Rundfunks von den Weltmusiktagen 1960 in Köln mit David Tudor (Klavier), Christoph Caskel am Schlagzeug, Gottfried Michael König und Stockhausen persönlich an den elektronischen Reglern.

    Stockhausen: "Kontakte"
    D. Tudor (Klavier), Chr. Caskel (Schlagzeug), Gottfried M. König / Kh. Stockhausen (Electronics)
    CD Wergo 6009-2 , LC 00846


    Instrumentalklänge, und elektronisch erzeugte Geräusche - einander ablösend, scheinbar einander entwachsend, zeitgleich präsent. Karlheinz Stockhausen wurde und blieb Referenz - obgleich nicht bei B. Schott's Söhne verlegt, die 1970 das Label komplett übernahmen. Schott's Verlagskomponisten oblag, das bisherige Repertoire zu erweitern, nicht zu verdrängen.

    Die Kunst der richtigen Auswahl resultierte aus der Konzentration auf das Wichtige. Mit heutigen Augen betrachtet, dokumentiert der WERGO-Katalog von früh an eine bestimmte, prägende Auswahl an Neuer Musik: Wer bzw. was hier erschien, musste auch morgen noch Bestand haben können, d.h. perspektivisch verkaufbar sein. Die US-Amerikaner etwa um Cage, Feldman, Riley, Nancarrow - daneben Ligeti, Henze, Kagel und Schnebel - später Hölszky, Gubaidulina, Ustwolskaja ...

    Spezielle Editionsreihen kamen hinzu, um der Ausdifferenzierung der Sparte besser Folge zu leisten: die Computermusik, radiophone Produktionen, Multimedialarbeiten aus dem Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Eine Sonderschiene: Platten mit Tier- und Naturlauten, sowie eine Reihe mit Weltmusik aus authentischen Quellen ...

    Echoes of Afrika Early Recordings
    Mamica: "Nwomboko"
    1.4.1947, Nairobi, Columbia EO 466
    CD SM 1624 2, LC 06356


    Der Weltmusikbegriff ist seit einiger Zeit höchst umstritten, weil: vielfältig zu verstehen. Die Subreihe von WERGO versammelt Musik der World Cultures, der Weltkulturen. Mehr als 50 CDs mit ausführlichen Booklets dokumentieren authentische Volksmusik aus Ländern Afrikas, Südamerikas, Mittel- und Südostasiens. Besonders anspruchsvoll: die Platten mit historischen Aufnahmen, deren Repertoire den Berliner Phonogramm Archiven entstammt. Wie hier beispielsweise eine traditionelle Formation aus Nairobi, aufgenommen 1947.

    Ein Gegenstück im Archipel des Labelgefüges: die "Wergo Concept"-Reihe, die besondere, grenzüberschreitende Projekte dokumentiert; die gegenüberstellt und somit verbindet, was an sich nicht zusammen gehört und deshalb aufhorchen lässt: wo Interpreten sich zugleich in verschiedenen Stilen, Genres oder Zeiten bewegen, um das Unerledigte im einen auch im anderen hörbar, d.h. bewusster zu machen. Drei Beispiele: die Kombinationen Bach'scher Cellosuiten mit Akkordeonwerken Adriana Hölszkys - die legendäre CD "anarchic Harmonies" mit Frescobaldi und Cage, oder Mike Svobodas "Do you love Wagner?"-Programm, eingespielt vom "Adult Entertainment"-Quartett: Wagner als deutscher Mythos wird hier persifliert, von Verehrern und Verächtern betrachtet und mit Funkgrooves, Rockgriffs, Jazzimprovisationen und Avantgardeklängen durchwoben und auf Akkordeon, Melodica und Mundharmonika vorgeführt.

    Mike Svoboda: "Overweight baggage (Tannhäuser)"
    Scott Roller, Wolfgang Fernow, Michael Kiedaisch, Mike Svoboda
    CD WER 6802 2, LC 00846


    Rolf W. Stoll, bei Schott Music & Media seit nunmehr zwölf Jahren verantwortlich für die Repertoirepolitik von WERGO, verweist in einem Interview zum Labeljubiläum auf den Zusammenhang zwischen den Leistungen der Labelkünstler und den Bedingungen der Produktion. Sprich, seriösen Aufnahmeorten, hochkarätigen Tonmeistern, moderner Aufnahmetechnik. Viele WERGO-Produkte mit avancierter Musik tragen gestern wie heute die Logos öffentlich-rechtlicher Medienpartner, die als Ko-Produzenten eben genau dies garantieren.

    Ein weiterer Partner betreibt (und finanziert) eine weitere Subreihe: die Edition Zeitgenössische Musik des Deutschen Musikrats. Sinn und Zweck ist es, den kompositorischen Nachwuchs zu fördern - also die Produktion von Debut-CDs mit Ensembles von Rang und in Studios der Rundfunkanstalten. Eine Fachjury wählt Jahr für Jahr vier zu Fördernde aus, Jahr um Jahr erscheinen vier neue CDs - wobei das Repertoire vom Klaviermusik bis zum Musiktheater hin reicht, von Ensembles verschiedenster Besetzung bis zu elektronisch produzierter Musik. 26 Jahre existiert die Edition, etwa 80 Titel sind bisher erschienen. Darunter die im letzten Jahr von SWR 2, WDR und Deutschlandradio Kultur gemeinsam zusammengestellte Porträt-CD Samir Odeh-Tamimi. Der Berliner Komponist stammt aus einem palästinensischen Dorf in Israel und reflektiert Elemente und Sujets arabischer Musikkultur in seinem Komponieren:

    Samir Odeh-Tamimi: "Madjnun II"
    Jeremias Schwarzer (Blockflöten), WDR Rundfunkchor (Herren)
    CD WER 6582 2, LC 00846


    Eine klare, leicht zu ortende visuelle Gestaltung und eine eindeutige Repertoirepolitik sind charakteristisch für die Hauptschiene von WERGO: die neue Musik.

    Urheber, Werke und Interpreten von Rang, d.h. auch von Interesse im Ausland, in der USA und auf dem asiatischen Markt, prägen den nach 50 Jahren opulenten CD-Katalog. Diese Fallhöhe wird vorausgesetzt, will man zu den Labelkünstlern gehören. Gebot Nummer zwei - im Regelfall gibt es auf einer CD nur einen Komponisten, mitunter auch nur ein einziges Werk. Ausnahmen bilden die "edition musikFabrik" oder Earle Browns "Contemporary Sound Series", die kürzlich in sechs CD-Boxen neu aufgelegt erschienen.

    Immer willkommen bei WERGO, so scheint es, ist das kaum überschaubare Oeuvre von Cage, den Labelchef Stoll zu seinen erfolgreichsten Urhebern zählt. Im Jahr des 100sten Geburtstags von Cage allerdings erscheint bei WERGO beinahe gar nichts - im Vorfeld indes hatte es eine Veröffentlichung von größerem Ausmaß gegeben, die aufzunehmen dreizehn Monate brauchte: Cages "32 Etudes Australes" - 260 Minuten Klaviermusik auf vier CDs, von Sabine Liebner im Deutschlandfunk eingespielt:

    John Cage: "Etudes australes" - dar.: "Etude XXX"
    Sabine Liebner (Klavier)
    CD WER 6740 2, LC 00846


    50 Jahre WERGO. In der heutigen Sendung habe ich Sie hineinhören lassen in frühe, aktuelle und künftige Produktionen des Mainzer Labels für Neue Musik.

    News, Katalog und diverse Details finden sich im Internet unter www.wergo.de. Auch die beim Schott Musikverlag angesiedelte Neue Zeitschrift für Musik informiert regelmäßig und aktuell, mit Hinweisen, Rezensionen und Gesprächen über die neuesten Veröffentlichungen und Produktionen.