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50 Kilometer Stasi-Akten

Der Spaziergang des begehbaren Hörspiels beginnt im Pavillon des Fernsehturms am Berliner Alex. Mit einem GPS-Handy erfährt man an bestimmten Stellen durch Telefonmitschnitten über die Zensur der Stasi. 120 kleine Geschichten auf 50 Kilometern.

Von Eberhard Spreng | 18.05.2011
    Polizisten in Einsatzuniform säumen ein Absperrgitter, Polizeifahrzeuge stehen dicht um den Alexanderplatz. Man hört von einer Demonstration, von Plakaten und was auf ihnen steht. Aber was man sieht und was man hört, passt nicht zusammen. Denn die Bilder stammen aus der Alltagswirklichkeit heute und der Ton aus der Vergangenheit in der DDR und von dem Telefonat zwischen zwei Stasi-Beamten, die sich über eine verbotene Demo am Alex unterhalten. Es sind solche Kollisionen von Bild und Ton, Alltag heute und akustischem Zeugnis aus der Vergangenheit, die die neue Arbeit von Rimini-Protokoll ausmacht. "50 Aktenkilometer - ein begehbares Stasi-Hörspiel" ist ein völlig individuell zu gestaltender Stadtspaziergang, der im Pavillon des Fernsehturms am Berliner Alex beginnt. Man erhält ein GPS-fähiges Smartphone mit einem Kopfhörer und immer wenn man eine bestimmte Zone in der Stadt betritt, wird über das ausgeklügelte Computersystem ein oft mehrminütiges Audio hörbar. Über 120 kleine Geschichten legen sich so über das Weichbild der Berliner Innenstadt, viele von ihnen entstammen internen Telefonmitschnitten zwischen Stasi-Mitarbeitern.

    Ja, Dieter, grüß Dich alter Freund
    Wo drückt denn der Schuh?
    Ich soll Dir wieder so eine Hilfsbotschaft von so einem IM von uns mitteilen. Pass auf, in der Alexanderstraße ist so eine Horde Jugendlicher, die haben vor, vor den Zentralrat der FDJ zu ziehen ...
    Da drückt der Schuh hier ...
    Echt, wa ... vielleicht sind die ja auch alle von uns, Dieter, vielleicht wollen die ihr Essenspäckchen abholen ...
    Mit hartem Ein drinne, wa
    (Lachen ...)
    (Lachen ...)


    Der Parcours, der in Gänze etwa acht Stunden in Anspruch nehmen kann, wenn man ihn komplett absolviert, führt von den Telefonmitschnitten über Erinnerungen von Schauspielern beim Umgang mit der Zensur, über die Erinnerungen einer jüdischen Mitarbeiterin der Stasi bis hin zu persönlich zum Teil per SMS an den Geschichtsflaneur gerichteten Aufforderungen: Zum Beispiel in der Sophienstraße: "Sehen Sie die Kirche? Bleiben Sie auf Distanz!" Diese persönlichen, in die Situation des Hier und Jetzt gerichteten Befehle, lösen dann doch ein kleines Unwohlsein aus. Das System ist eben über den Standort des Smartphone-Trägers jederzeit bestens informiert. Plötzlich wird deutlich, dass die Stasi, die nur über ein Netz konspirativer Wohnungen und primitive Verfahren des Abhörens und Kommunizierens verfügte, von den neuen digitalen Funknetzen in den Schatten gestellt wird.

    Überwachung ist heute jederzeit, umfassend und automatisch möglich, und sie ist quasi freiwillig, denn wer will denn heute noch auf sein Handy verzichten? Die jüngsten Datenskandal um Apples iPhone, Googles Android, ungeschützte W-LAN-Netze, verkaufte Facebook-Profile und vieles mehr stellen wohl nur die Spitze des Eisbergs dar. Dass manches Protokoll, das über die Telefonzentrale des zentralen Operativstabs des Ministerium für Staatssicherheit lief, in etwa so blödsinnig ist wie das, was in den Foren von heute getwittert wird und dass beide Epochen vor allem eine Riesenwolke von Datenschrott produzieren, lässt Rimini-Protokoll in ihrer Stadtinstallation irgendwie auch spüren.
    Berichte von früher und der parallele Blick aufs Heute machen Zeitsprünge deutlich,

    Aber über etwas anderes kann der Erkunder in der Installation "50 Aktenkilometer" auch noch nachdenken: Die Spuren der DDR-Geschichte sind in der aufgehübschten deutschen Hauptstadt fast völlig getilgt: Das Ehrenmal für Marx und Engels? Verloren und versteckt unter Bäumen. Die Reinhardtstraße 8 mit der konspirativen Wohnung in der einst der Grenzverkehr überwacht wurde? Eine unscheinbare Fassade. Das Palasthotel, ebenso wie der Palast der Republik abgerissen und durch eine modernes Luxushotel ersetzt. Eine Stimme im Kopfhörer lädt ein, es zu betreten. Die Berichte von früher und der parallele Blick aufs Heute machen Zeitsprünge deutlich, blenden auseinanderdriftende Epochen übereinander. Das einzige, was sie zusammenhält, sind individuelle Biografien und vor allem Leidensgeschichten der Stasi-Opfer.