Freitag, 29. März 2024

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68 - Europa auf den Barrikaden (2/5)
Italien - wie gewonnen so zerronnen

Die Studenten- und Arbeiterbewegung Italiens hat Rechte erkämpft. Wenn wir nicht aufpassen, sagt die Frauenrechtlerin Ketty Carraffa, ist bald alles wieder dahin. Die Rechte am Arbeitsplatz genauso wie die Rechte der Frauen.

Von Kirstin Hausen | 06.03.2018
    Schüler demonstrieren am 03.12.1968 in Rom für gleiche Bildungschancen und protestieren gleichzeitig wegen des Todes von zwei Landarbeitern, die während eines Streiks bei Auseinandersetzungen mit der Polizei am 02.12.1968 in Sizilien erschossen worden waren.
    Schüler- und Studentenproteste in Rom 1968 (dpa / UPI)
    Zwei Frauen, ein Mischpult, jede Menge Kabel. Ketty Carraffa schließt ihr Handy an, sie wird ihre Veranstaltung gleich live auf Facebook übertragen. Sie ist 51 Jahre alt, nicht verheiratet und hat einen 12-jährigen Sohn, den sie allein aufzieht.
    Die 1968er-Bewegung habe ihr Freiheiten gebracht, die Frauen vor ihr nicht hatten, sagt sie. Vieles, worüber damals diskutiert wurde, sei heute erreicht, aber vieles liege auch noch im Argen.
    "Weil das Thema der Frauenrechte heute aktueller denn je ist. Wir sind in Europa eines der Länder mit den meisten Morden an Frauen. Alle zwei Tage kommt hier eine Frau durch die Hand eines Mannes gewaltsam zu Tode und die Öffentlichkeit scheint sich daran zu gewöhnen. Ich kann das nicht hinnehmen."
    Die überwiegende Mehrheit der Täter stammt aus dem unmittelbaren Umfeld der Opfer. Meist sind es die Ehemänner oder Lebenspartner, die die Frauen zu verlassen drohen oder bereits verlassen haben. Sie empfänden die Frau als ihren Besitz und ihren Verlust als Affront, meint Ketty Carraffa. Als Medienexpertin kritisiert sie die Art der Berichterstattung über Gewaltverbrechen an Frauen.
    Die Frauenrechtlerin Ketty Carraffa trägt bei einer Veranstaltung eine gelbe Bluse, die Farbe steht in Italien für die Rechte der Frauen.
    Die Frauenrechtlerin Ketty Carraffa (Deutschlandradio / Kirstin Hausen)
    "Das Fernsehen berichtet über die Frauen, die umgebracht werden, zu Tode geprügelt oder erstochen, aber nicht über diejenigen, die ihre gewalttätigen Ehemänner oder Ex-Ehemänner anzeigen. Und das birgt zwei Risiken. Zum einen gibt es einen Nachahnungseffekt bei den Männern und dann macht es den Frauen Angst, ständig zu sehen, wie viele Frauen getötet werden und sie trauen sich nicht, sich gegen übergriffige Männer zu wehren. Wir politisch engagierten Frauen müssen Gewalt gegen Frauen zum Thema machen und öffentlich anklagen."
    Der 68er-Kampf dauert an
    Auch heute Abend geht es um Frauen. Die ersten Gäste treffen ein.
    "Francesca ist Künstlerin, sie macht Installationen mit LED-Lampen, das Licht steht für etwas Positives. Ich versuche immer, auf meinen Veranstaltungen positive Energie zu verbreiten. Heute geht es um Frauen und ihre Diskriminierung am Arbeitsplatz. Darüber habe ich auch ein Buch geschrieben. Dieser Kampf ist nämlich noch nicht zu Ende, wir sind noch mittendrin."
    Zehn Prozent weniger als die Männer verdienen Frauen im Durchschnitt – für exakt die gleiche Arbeit. Unter den Arbeitskräften mit akademischem Abschluss liegt der Unterschied sogar bei 36 Prozent. Von den Italienerinnen im erwerbsfähigen Alter ist nur die Hälfte berufstätig. Es gibt noch viel zu tun, meint Ketty Carraffa.
    Das 68er-Erbe verteidigen
    "Wir haben Rechte, für die andere vor uns gekämpft haben, und die für uns eine Selbstverständlichkeit geworden sind. Dass sie nicht selbstverständlich sind, merken wir jetzt, weil wir dabei sind, einen Teil von ihnen wieder zu verlieren."
    Ketty Carraffa spielt auf den Artikel 18 des Arbeiterstatuts an, eine Klausel im Kündigungsschutz. Er wurde von Matteo Renzi abgeschafft, zugunsten eines flexibleren Arbeitsmarktes.
    "Beim Gedanken daran, dass es den Artikel 18 nicht mehr gibt, wird mir schwindelig. Erst jetzt dämmert es vielen, dass das ein negativer Einschnitt war, weil die Leute heute schneller ihren Arbeitsplatz verlieren. In den Fabriken haben die Gewerkschaften an Macht verloren. Das heißt, wir sind dabei, die Rechte, die unsere Mütter und Väter erobert hatten, wieder zu verlieren."
    Matteo Renzi bei einer Veranstaltung der Demokratischen Partei in Rom (19.02.17)
    Italiens Ex-Premier Matteo Renzi setzte eine umstrittene Arbeitsmarktreform durch (imago / Samantha Zucchi)
    Mikrofonprobe, dann streift sich Ketty Carraffa eine gelbe Bluse über. Gelb ist in Italien die Farbe der Frauen und ihrer Rechte.
    Faschismus droht, zur Normalität zu werden
    In Italien verschmolzen Studenten- und Arbeiterbewegung schnell zu einem politischen Sujet, das eine radikale Systemwende anstrebte. Es kam zu Anschlägen linker Terroristen und zu Anschlägen rechter Extremisten, die mit dem Geheimdienst zusammenarbeiteten. Ein Bombenleger von damals ist heute Anführer einer neofaschistischen Splitterpartei. Ketty Carraffa vermeidet die Vorsilbe neo, neu.
    "Neu ist daran allein die Art und Weise, wie der Faschismus bewertet wird. Er wird verharmlost. Auch weil viele Menschen heute kein politisches Bewusstsein haben. Das Wort hat seinen Schrecken verloren, klingt fast schon normal. Normal ist das aber nicht. Wer den Faschismus erlebt hat, wer ihn bekämpft hat, der weiß um die furchtbaren Auswirkungen bis hin zum Zweiten Weltkrieg."
    Der Raum füllt sich. Frauen jeden Alters, auch Männer sind gekommen. Ketty Carraffa drückt auf Play – die Live-Übertragung beginnt.