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'68 für Anfänger

Regisseur Clemens Bechtel führt mit seinem Projekt "68" an einen der Orte, der den Mythos '68 mit geprägt hat: die Tübinger Universität. Hier lernten sich Gudrun Ensslin und Bernward Vesper kennen, hier kommt es zur Begegnung von alten Protestformen mit den heutigen Protestlern. Zeitzeugen kommen zu Wort und die heutigen Studierenden fragen: Was bringt es, sich zu engagieren?

Von Cornelie Ueding | 20.02.2010
    Flugblätter für alle, die ins Foyer der Neuen Aula, des Hauptgebäudes der Tübinger Universität, gekommen sind, Flugblätter mit den studentischen Forderungen des aktuellen Protests. Und dann hagelt es aus allen Ecken Anklagen gegen die autoritären Väter der Nachkriegsgeneration: Gegen sie richtete sich die Empörung der 68er-Studentenbewegung.

    Dass streunende Katzen erschossen gehören und Kinder bei Tische zu schweigen haben und überhaupt eigene Vorstellungen vom Leben auf einen Mangel an Respekt schließen lassen und als Unbotmäßigkeiten bestraft werden - die Verhaltensmaßregeln und Strafandrohungen nehmen kein Ende. Was Wunder, dass der Junior, noch brav gescheitelt und in Anzug und Krawatte, in die Uni flüchtet. Und dass ihm dort erste Zweifel an der Gültigkeit des väterlichen Überlegenheitsanspruchs kommen.

    Da gibt's die gleichen Typen noch mal – in Gestalt von Professoren. Nur eben ohne familiäre und emotionale Bindung, dafür mit eindeutig nachweisbarer Nazivergangenheit. Empörung flammt auf, als laut über die berufliche Wiedereingliederung der belasteten Herren nachgedacht wird. Ja, diese längst vollzogen ist.

    Inzwischen sind wir im Festsaal der Uni, der zweiten Station des 68er-Projekts von Clemens Bechtel. Studienträume werden nicht wahr, aber die Emanzipation vom Elternhaus ist lautstark im Gange. Momentaufnahmen aus dem Leben von Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, die in ihrer Tübinger Studentenzeit ein Paar waren, zeigen exemplarisch, wie aus dressierten Kindern in Erwachsenenkluft flippige junge Pärchen mit befreiter Sexualmoral werden. Sie wechseln immerzu den Standort, erobern schmusend und tobend die Bühne, bislang eher eine Art dezenter bürgerlicher Musik-Salon, derweil Zeitzeugen über die riesige Projektionsfläche an der Seitenwand flimmern und erzählen, halb nostalgisch, halb relativierend, wie sie diesen zunächst privat motivierten, immer politischer werdenden Aufbruch erlebt haben.

    3. Station: Das Audimax. Aus dem Basisgruppenlager mit Schlafsack, Gitarre und Politdiskussionen wird erst ein Hörsaal mit einer "gestörten" Vorlesung, das heißt die Studenten wollen diskutieren, statt mitzuschreiben und nachzubeten; dann ein Gerichtssaal, in dem es hoch hergeht bei der Diskussion um die Rechtmäßigkeit des Vietnamkrieges. Drei Tübinger SDS-Mitglieder wurden als Rädelsführer angeklagt.

    Die Radikalisierung der Studentenbewegung ergibt sich geradezu zwangsläufig aus dem Gegeneinander unterschiedlicher Denkweisen, denn man findet keine gemeinsame Sprache – und ab geht's zur letzten Station des theatralischen Projekts: ins Clubhaus, in einen kleinen Raum zur Diskussion und Positionsbestimmung. Hier können die Zuschauer verfolgen, wie das Sich-Nicht-Verstehen auch die protestierenden Studenten spaltet. Das Paar Ensslin-Vesper wechselt nur noch monologisch zitierte Textblöcke, entzweit, sowohl privat wie über die Haltung zur Radikalisierung.

    Außer einigen Zeitzeugen kommen nun auch wieder die heute Jungen zu Wort. Tübinger Schüler und Studenten. Und sie stellen Fragen, ihre Fragen: Was es bringt, sich zu engagieren? Wo sie doch in friedlichen Zeiten und in Sicherheit leben. Ja, doch, da ist die Sorge, keinen Studienplatz zu bekommen, da ist schon auch die Angst, nach dem Studium keine Arbeit zu finden. Auch sie sorgen sich um ihr Fortkommen. Zu Recht. In politischen Zusammenhängen, die über den konkreten Anlass hinausweisen, denken sie nicht. Sie sind pragmatisch, haben überschaubare Ziele in einer immer komplexer werdenden Welt.

    Aber auch die Zeitzeugen von einst haben ganz unterschiedliche Erinnerungen an die studentenbewegten Jahre – die sie relativieren und ironisieren. Der utopische Furor der 68er liegt inzwischen allen fern; ist eher zum Lachen. Aber das beantwortet Bechtels Frage nicht, wo die Energie von damals geblieben ist? Und das ist Programm: Seine szenische Spiegelung der neuen an den alten Studentenprotesten ist ein Appell. An uns: Ist es Bequemlichkeit oder die Macht des Systems, die uns lähmt? Blockiert die Wahrnehmungslenkung durch die Medien das Denken, Mitdenken, Für-andere-Mitdenken? Oder ist es die lähmende Angst vor dem bösen Erwachen?