Dienstag, 23. April 2024

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75 Jahre Kapitulation des NS-Regimes
Der Mythos der „Stunde Null"

8. Mai 1945, Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa, Ende des NS-Regimes, Stunde Null: Eine ungeheure Chance für Deutschland, sich aus der Schuld der Vergangenheit zu lösen. Doch es vergingen Jahrzehnte, bis sich das Land wirklich mit den Verstrickungen des Nationalsozialismus auseinandersetzte.

Von Otto Langels | 07.05.2020
Trümmer in einer Straße in Berlin im August 1945.
Zwischen Trümmern, Schuld und vor dem Weg in eine Zukunft: Deutschland nach dem Kriegsende im Mai 1945 (Picture Alliance / AP Images)
"Wir, die hier Unterzeichneten, die wir im Auftrage der Oberkommandos der Deutschen Wehrmacht handeln, übergeben hiermit bedingungslos dem Obersten Befehlshaber der Alliierten Expeditionsstreitkräfte und gleichzeitig dem Oberkommando der Roten Armee alle gegenwärtig unter deutschem Befehl stehenden Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft."
Mit ihren Unterschriften unter die Kapitulationsurkunde besiegelten die Vertreter der Wehrmacht am 7. Mai 1945 im französischen Reims und noch einmal einen Tag später in Berlin-Karlshorst den Untergang des NS-Regimes und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.
Kein Nachdenken, keine Reue
Nach sechs Jahren Krieg und zwölf Jahren nationalsozialistischer Herrschaft stand Deutschland fortan unter alliierter Besatzung. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg trauten die Siegermächte den Deutschen einen radikalen politischen und gesellschaftlichen Neubeginn in eigener Verantwortung nicht zu. Zu Recht, wie später der Schriftsteller Heinrich Böll befand.
"Bis Kriegsende hat eigentlich in der größeren Menge der Bevölkerung ein Nachdenken, das Reue möglich gemacht hätte, gar nicht stattgefunden. Immerhin hatten ja doch die meisten Deutschen an Hitler geglaubt, auch nach Stalingrad noch."
Historisches Foto: Passanten lesen in Berlin im Mai 1945 nach Kriegsende Zeitungen an einem Aushang an der Wiender Straße vor dem Goerlitzer Bahnhof.
Stunde Null - ein Neuanfang? Immerhin gibt es im Mai 1945 in Berlin Zeitungsaushänge (picture alliance / Georgi Lipskerow)
Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll hat sich in vielen seiner Werke kritisch mit der deutschen Nachkriegszeit auseinandergesetzt. 1985, kurz vor seinem Tod, blickte er auf den Zusammenbruch des Deutschen Reiches zurück. Der Begriff der "Stunde Null", wonach die Deutschen ihre Sympathien für Hitler und den Nationalsozialismus gewissermaßen über Nacht abgestreift und sich in aufrechte Demokraten verwandelt hätten, war nach Ansicht Bölls ein Mythos.
"Die Deutschen fingen gleich wieder an zu klagen. Und sie haben eigentlich bis heute nicht darüber nachgedacht, wie das Ganze angefangen hat, wer diese Leiden denn verursacht hat. Hitler ist ja nicht vom Himmel gefallen."
Die Nazis waren "immer die anderen"
Die Entnazifizierung, die Abrechnung mit dem NS-Regime, überließen die meisten Deutschen zunächst den Alliierten. Nach den Selbstmorden von Hitler, Goebbels und Himmler mussten sich Hauptschuldige wie Göring, Hess, Speer und von Ribbentrop wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten, ein Meilenstein des Völkerstrafrechts. Im Oktober 1945 eröffnete der amerikanische Chefankläger Robert Jackson den Prozess vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg:
Die Untaten, die wir zu verurteilen und zu strafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, weil sie eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben würde.
Doch auf der Anklagebank wollte sich niemand zu den nationalsozialistischen Verbrechen bekennen, von Schuld, Verantwortung oder Reue keine Spur.
"Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig." "Ich bekenne mich nicht schuldig." "Ich bin in keiner Weise schuldig." "Was ich getan habe oder tun musste, kann ich reinen Gewissens vor Gott, vor der Geschichte und vor meinem Volke verantworten."
Blick auf die Anklagebank beim Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg, 18.03.1946. Die Angeklagten schauen interessiert zum Zeugenstand (nicht im Bild) in dem im Moment dieser Aufnahme gerade Hermann Göring saß und seine Aussage machte.
Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher 1946 (picture-alliance / dpa)
Am 1. Oktober 1946 verurteilte der Internationale Militärgerichtshof zwölf Angeklagte zum Tode, er verhängte mehrere langjährige Haftstrafen und sprach drei Angeklagte frei. Obwohl das Verfahren rechtsstaatlichen Prinzipien folgte, wurde in Teilen der deutschen Bevölkerung der Vorwurf der Siegerjustiz laut.
"Haupttäter waren Hitler, Himmler, Heydrich, alle anderen haben nur sozusagen Beihilfe zum Mord geleistet. Und in der Rechtsprechung hat sich da ein Rechtssubjekt durchgesetzt, nämlich der Gehilfe, das waren Gehilfen."
Die Hauptangeklagten (L-R) Hermann Göring, Rudolf Heß und Joachim von Ribbentrop auf der Anklagebank während der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesse am 13.02.1946 in Nürnberg.
Nürnberger Prozess - Im Namen des Volkes
Es war ein Medienspektakel allerersten Ranges, aber kein Tribunal: Im Winter 1945 wurde in Nürnberg die Grundlage der deutschen Nachkriegsrepublik gelegt. An der Fürther Straße, im Schwurgerichtssaal 600, wurden die ersten Umrisse von Rassenwahn und Völkermord sichtbar.
Erklärt der Heidelberger Zeithistoriker Edgar Wolfrum. "Die Nazis", das waren so gut wie immer "die anderen". Wenn überhaupt, galten SS und Gestapo als verantwortlich für die nationalsozialistischen Verbrechen. Fast alle übrigen Deutschen, darunter acht Millionen NSDAP-Mitglieder, stellten sich als harmlos, unpolitisch und ahnungslos dar, mit den Worten Emmy Görings, der Ehefrau Hermann Görings: "Ich habe versucht zu helfen, wo ich konnte."
Ein Beispiel unter vielen: die Justiz.
In einem Verfahren vor dem amerikanischen Militärgerichtshof mussten sich 1947 führende Vertreter des Justizapparates verantworten. Der Erlanger Rechtswissenschaftler Christoph Safferling:
"Der Nürnberger Juristenprozess hat ja diesen Ausspruch geprägt, dass der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen verborgen war. Und das ist, denke ich, ein ganz gutes Bild dafür, was Juristen tatsächlich tun und wofür sie auch verantwortlich sind."
Statt Recht und Gesetzlichkeit während der NS-Zeit zu verteidigen, zerstörten die Juristen den Rechtsstaat und stellten sich in den Dienst eines mörderischen Systems. Doch nach 1945 verbreiteten ehemalige Mitarbeiter des NS-Justizapparates erfolgreich die Legende, sie hätten im Dritten Reich allenfalls eine unbedeutende Nebenrolle gespielt oder gar Schlimmeres verhütet. So konnten sie ihre Karriere fortsetzen.
NS-Juristen blieben an den Gerichten
Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 waren im Justizministerium mehr als die Hälfte der leitenden Beamten ehemalige NSDAP-Mitglieder.
Der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker:
"Wenn man jetzt die einzelnen Phasen sich anschaut, dann stellt man fest, dass die Belastung in den 50er Jahren noch gewachsen ist und bis Ende der 50er oder Anfang der 60er Jahre noch zum Teil weit über 70 Prozent lag, bis zu 76 Prozent. Und in einzelnen Abteilungen betrug die Belastung zeitweilig sogar praktisch 100 Prozent."
Nicht nur im Justizministerium verzichtete man auf einen personellen Neuanfang. An den Landgerichten lag der Anteil der Juristen, die schon im Dritten Reich tätig gewesen waren, in den 1950er Jahren bei knapp 70 Prozent, an den Oberlandesgerichten bei fast 90 Prozent und am Bundesgerichtshof bei 75 Prozent.
"Die Kriterien für die Einstellung waren ganz eindeutig Kompetenz und Erfahrung, Viele von ihnen waren promoviert. Sie verfügten auch über große Erfahrung in der Gesetzgebungsarbeit."
"Sie können schmutziges Wasser nicht wegschütten, wenn Sie noch kein neues haben."
Antwortete Bundeskanzler Konrad Adenauer auf die Frage nach der Wiederverwendung ehemaliger Nazis in den Amtsstuben der jungen Bundesrepublik.
In Ostdeutschland ging man einen anderen Weg. 80 Prozent der Richter wurden entlassen, weil sie Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Ersetzt wurden sie allerdings häufig von sogenannten ‚Volksrichtern‘, die dann im Namen der "sozialistischen Gerechtigkeit" viele Unrechtsurteile fällten.
Alte Seilschaften funktionierten weiter
Ein zweites Beispiel für den Mythos der "Stunde Null" der westdeutschen Nachkriegszeit: das Auswärtige Amt.
"Wenn wir also in diesem Jahr der 150-jährigen Geschichte des AA gedenken, dann nicht, um nach ungebrochenen, geraden Traditionslinien zu suchen."
Niels Annen, heutiger Staatsminister im Auswärtigen Amt, Anfang des Jahres bei einer Ausstellungseröffnung.
"Eine solche Suche würde in gefährliche Abwege führen. Es geht deswegen um Verantwortung für und vor unserer Geschichte."
Das Auswärtige Amt, kurz AA, blickt heute auf "150 Jahre deutsche Diplomatie" zurück, kein Anlass für Jubelfeiern, gehört dazu doch auch die Mitwisser- und Mittäterschaft an den Menschheitsverbrechen der Nazis. 2010 räumte eine Unabhängige Historikerkommission mit der Legende auf, das AA sei eine unpolitische, im Grunde widerständige Behörde gewesen.
Der Marburger Historiker Eckart Conze war Mitglied der Kommission.
"Das Auswärtige Amt war von 1933 an aktiv in die Gewaltpolitik des Nationalsozialismus eingebunden, und es war dann in den Kriegsjahren auch an der Verfolgung der Juden beteiligt, in einem erschreckenden Ausmaß."
Von 120 höheren Beamten des AA gehörten 1940 knapp zwei Drittel der NSDAP an. Sie kooperierten bereitwillig mit der Gestapo, sammelten Informationen über Emigranten, nahmen an der berüchtigten Wannsee-Konferenz teil und unterstützen die Deportation von Juden.
Nach 1945 kamen die Beamten aus dem AA relativ ungeschoren davon, bei der Entnazifizierung landeten sie fast doppelt so häufig in der Gruppe der "Entlasteten" wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Die alten Seilschaften funktionierten noch bestens, die Mitarbeiter des Amts stellten sich wechselseitig sogenannte "Persilscheine" aus.
"Eigentlich ist es ja komisch: Früher wollten immer alle von mir bescheinigt haben, dass sie für die Partei waren; heute soll ich allen bestätigen, dass sie immer dagegen waren! Ich habe keinen abgewiesen."
Kommentierte der langjährige Personalchef des AA, NSDAP-Mitglied seit 1933, die gängige Praxis, sich vom Verdacht einer nationalsozialistischen Vergangenheit reinzuwaschen.
Zudem existierte im Auswärtigen Amt von 1953 bis 1970 eine Zentrale Rechtsstelle, die aktiven Täterschutz betrieb, so der Jenaer Historiker Norbert Frei.
"Man hat sogenannte Warnlisten herausgegeben, um etwaigen gesuchten NS-Verbrechern oder mutmaßlichen NS-Verbrechern, im Ausland gesucht, rechtzeitig mitzuteilen, dass sie besser nicht nach Frankreich in Urlaub fahren, weil sie dort möglicherweise verhaftet werden."
Persilscheine für ehemalige NS-Täter
Ein weiteres Beispiel für einen fragwürdigen Umgang mit der NS-Vergangenheit: der Bundesnachrichtendienst.
Schwarz-weiß Foto von Reinhard Gehlen, Leiter des BND von 1956 bis 1968, mit Sonnenbrille und Hut am 7. April 1972 am Ausgang eines Müncher Friedhofes.
Reinhard Gehlen, Leiter des BND von 1956 bis 1968, ehemaliger Chef der Spionageabwehr im Dritten Reich (picture alliance / Dieter Endlicher)
Vorläufer des BND war die sogenannte Organisation Gehlen, aufgebaut 1946 von dem ehemaligen Generalmajor Reinhard Gehlen (*), Chef der Spionageabwehr im sogenannten "Dritten Reich". Auf sein Geheimwissen insbesondere über die Sowjetunion wollten im aufkommenden Kalten Krieg vor allem die Amerikaner nicht verzichten. Ob sich in der Organisation Gehlen ehemalige Nazis tummelten, geriet zur Nebensache, so der Berliner Historiker Gerhard Sälter, früheres Mitglied der Kommission zur Erforschung der Geschichte des BND.
"Es fängt an bei einer einfachen Mitgliedschaft in NSDAP, SA, SS. Es geht über Funktionen in der Partei, über höhere Dienstränge bei SA und SS, bis hin zu Mitwirkung an der Ermordung der Juden oder Verantwortung für bestimmte Massaker."
Als 1956 die Organisation Gehlen in den Bundesnachrichtendienst überführt wurde, mussten sich die Mitarbeiter einer Entnazifizierung unterziehen. Es reichten zwei Referenzen aus Institutionen, in denen sie vor 1945 gearbeitet hatten. Kollegen und Vorgesetzte konnten ungeprüft einen sogenannten Persilschein ausstellen.
"Da sind ja Leute, die wir heute als NS-Täter identifizieren können und wo wir genau wissen, dass die an Verbrechen beteiligt waren, sind ja in dieser Zeit als Mitläufer oder gar nicht belastet entnazifiziert worden. Auf dem Papier hatten sie dann eine weiße Weste."
"Geheime Dienste" - Die dunklen Seiten des Bundesnachrichtendienstes
Der Vorläufer des BND, die sogenannte Organisation Gehlen, betrieb in den Anfangsjahren der Bundesrepublik systematisch gesetzwidrig politische Inlandsspionage. Das hat eine Historikerkommission nun eindeutig belegt. Ihre Erkenntnis legt sie in dem Buch "Geheime Dienste" dar.
Zudem waren untergetauchte NS-Verbrecher für den Bundesnachrichtendienst tätig: Klaus Barbie, ehemaliger Gestapochef von Lyon, bekannt geworden als "Schlächter von Lyon", war Informant für den BND in Bolivien. Der frühere SS-Offizier Walther Rauff, Erfinder der sogenannten "mobilen Gaskammern", spionierte in Lateinamerika.
Nationalsozialistisches Gedankengut lebte weiter
Das Vorgehen des BND habe der allgemeinen Stimmung in Deutschland in den 1950er Jahren entsprochen, meint der Historiker Norbert Frei.
"Es war ganz klar, dass die Entnazifizierung mit den Alliierten verbunden war, dass es zu einer abgeschlossenen Periode gehört, dass man damit nichts mehr zu tun haben wollte, und es war fast unabhängig davon, welcher Partei man sich zugehörig fühlte."
Bereits in den 1950er Jahren hatte der deutsche Geheimdienst Kenntnis vom Aufenthaltsort Adolf Eichmanns in Argentinien. Doch er gab sein Wissen nicht an die Ermittlungsbehörden weiter. Als der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, später Initiator der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, von einem KZ-Überlebenden Hinweise auf Eichmanns Verbleib erhielt, gab er diese nicht an deutsche Dienststellen weiter, weil er diesen – wohl zu Recht - misstraute. Stattdessen informierte Bauer den israelischen Geheimdienst Mossad, der Eichmann 1960 aus Argentinien entführte und nach Jerusalem brachte.
"In diesen Tagen beginnt in Israel der Eichmann-Prozess."
Erklärte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer im April 1961.
"Wir wünschen, dass in diesem Prozess die volle Wahrheit ans Licht kommt und dass Gerechtigkeit geübt wird. Im deutschen Volkskörper, im moralischen Leben des deutschen Volkes gibt es heute keinen Nationalsozialismus mehr, kein nationalsozialistisches Empfinden. Wir sind ein Rechtsstaat geworden."
Dass entgegen der Beteuerung Adenauers auch in einem Rechtsstaat sehr wohl noch nationalsozialistisches Gedankengut unter den Deutschen verbreitet sein konnte, zeigt sich daran, dass der damalige Kanzler selbst den Begriff "deutscher Volkskörper" verwendete; ein Ausdruck aus der NS-Zeit, den kürzlich der AfD-Politiker Alexander Gauland wieder gebraucht hat.
Die Bundesregierung war damals beunruhigt, dass im Eichmann-Prozess belastendes Material gegen deutsche Beamte bekannt werden könnte, vor allem gegen Hans Globke, Staatssekretär im Kanzleramt und Adenauers wichtigster Mitarbeiter. Der Jurist hatte 1936 einen Kommentar zu den "Nürnberger Gesetzen" verfasst und war verantwortlich für judenfeindliche Verordnungen.
Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer und Staatssekretär Dr. Hans Globke im Gespräch. Aufgenommen im September 1963 in der italienischen Hauptstadt Rom.
Vom NS-Jurist zum Staatssekretär: Hans Globke mit Bundeskanzler Konrad Adenauer 1963 in Rom (picture-alliance / dpa)
Der Historiker Edgar Wolfrum nennt es einen Skandal, dass Globke in der Bonner Republik eine Schlüsselfunktion einnehmen konnte und ungeschoren davonkam.
"Aber man muss sagen, das war eine Strategie Adenauers. Es war sozusagen ein Signal an die ehemaligen Nazis, wenn ihr in dieser Demokratie mitmacht, dann wird es euch gutgehen."
Auch in der DDR fand - unter anderen Vorzeichen – ein entsprechender Anpassungsprozess an den SED-Staat statt. Die Staats- und Parteiführung erklärte die DDR kurzerhand zum Land der Antifaschisten, das NS-Erbe überließ man den Westdeutschen. Aber auch im Osten lebten ehemalige Nazis. Im heutigen Land Thüringen zum Beispiel war von den hohen SED-Funktionären jeder siebte Mitglied der NSDAP gewesen, was die SED-Führung stillschweigend akzeptierte.
Eine verlorene Niederlage
Der Autor Niklas Frank hat von den über drei Millionen Entnazifizierungs-Akten, die in west- und ostdeutschen Archiven liegen, zahllose Fälle untersucht. Sein Fazit:
"Es ist teilweise eine unglaubliche Groteske, die da stattgefunden hat. Das Grundmuster war, dass sie eigentlich dagegen waren. Es gibt nur zwei, drei Fälle, wo einer sagt, ich gebe zu, ich war bis zum Schluss ein idealistischer Parteigänger. Einer, der sagte, obwohl er selber Nazi war, um seinen öffentlichen Widerstand gegen die Nazis zu dokumentieren, sagt er: Ich bin wiederholt in Seitenstraßen eingebogen, um die SA nicht grüßen zu müssen."
Historiker haben diese Vorgänge als "Mitläuferfabrik", "Sehnsucht nach dem großen Vergessen" und "Amnesiebedürfnis" beschrieben.
Winifred Wagner (l) neben ihrem Verteidiger Dr. Fritz Meyer während der Verlesung der Anklage vor der Spruchkammer II in Bayreuth am 25. Juni 1947.
Entnazifizierung nach 1945 - Blütenweiß ins Wirtschaftswunder
Rette sich, wer kann in die neue Zeit – das war 1945 die Devise von Millionen Deutschen, die vor "Spruchkammern" Rechenschaft ablegen mussten über ihr Verhalten in der NS-Zeit. In welch großem Stil dabei beschönigt und gelogen wurde, zeigt Niklas Frank in seinem Buch "Dunkle Seele, feiges Maul".
Der Schriftsteller Heinrich Böll sprach 1985 von der "verlorenen Niederlage":
"Es gibt einen Ausdruck, der heißt verlorene Niederlage: Wir haben unsere Niederlage verloren, die Chance, die ungeheure Chance, die 45 geboten hätte, die haben wir verloren."
Während ehemalige Nazis rasch wieder zu Amt und Würden kamen, mussten Homosexuelle, Kommunisten, Zwangsarbeiter, Sinti und Roma, Deserteure und andere NS-Opfer oft jahrzehntelang um eine Anerkennung als Verfolgte des Nationalsozialismus und eine bescheidene Entschädigung kämpfen. Erst mit den Eichmann- und Auschwitz-Prozessen in den 1960er Jahren, den Protesten der Studentenbewegung gegen das bedrückende Schweigen der Elterngeneration sowie mit der Fernsehserie "Holocaust" ein Jahrzehnt später begann ein allmähliches Umdenken. Es entstand ein Bewusstsein für die Fehler und Versäumnisse im Umgang mit der NS-Vergangenheit, die Erkenntnis setzte sich durch, dass die "Stunde Null" nur ein Mythos war.
Den Wandel markierte 40 Jahre nach Kriegsende am 8. Mai 1985 eine Ansprache Richard von Weizsäckers im Deutschen Bundestag.
"Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfesten zu beteiligen, aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrwegs deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg."
Die Rede des Bundespräidenten war damals umstritten, heute wird sie als historisch gerühmt. Aber noch einmal vergingen Jahrzehnte, bis Ämter und Behörden wie das Außen- und Justizministerium oder der BND unabhängige Historiker beauftragten, die Vergangenheit ihrer Institutionen und die Verstrickungen mit dem Nationalsozialismus zu untersuchen.
(*) Vorname korrigiert.