Dienstag, 16. April 2024

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75. Jahrestag des Kriegsendes
"Ich habe hohen Respekt vor den russischen Befreiern"

Er könne nicht verstehen, warum Russlands Staatspräsident Wladimir Putin nicht zu Gedenkfeiern eingeladen werde, sagte Gerhart Baum, ehemaliger Bundesinnenminister, im Dlf. Das Erinnern müsse man von der heutigen Situation trennen. Die Russen hätten Berlin unter unglaublichen Menschenopfern befreit.

Gerhart Baum im Gespräch mit Martin Zagatta | 08.05.2020
Gerhart Baum, Bundesminister a. D.
Gerhart Baum mahnt zur Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg (imago/Felix Zahn)
Mehr als 60 Millionen Tote brachte der Zweite Weltkrieg, fast die Hälfte davon in und aus der damaligen Sowjetunion. Es war der größte Krieg der Menschheitsgeschichte, der heute vor 75 Jahren zu Ende gegangen ist. Ein Jahrestag, der eigentlich mit einem Staatsakt am Reichstagsgebäude begangen werden sollte. Stattdessen wegen der Coronakrise nur eine kleinere Zeremonie.
Der FDP-Politiker Gerhart Rudolf Baum war früher Bundesinnenminister und hat den Krieg erlebt. Im Dlf stellt er sich an die Seite von Bundespräsident Franz-Walter Steinmeier, der ein ständiges Erinnern an die Schrecken des Krieges und die Befreiung einforderte.
Martin Zagatta: Herr Baum, Sie waren beim Kriegsende zwölf oder 13 Jahre alt, haben die Bombardierung Ihrer Heimatstadt Dresden damals überlebt. Wie und wo haben Sie dann dieses Kriegsende erlebt?
Gerhart Baum: Ja, als Flüchtling. Man muss sich vorstellen, dass wir geworfen worden sind in eine Situation, die bedeutete Zerstörung, Tod, Flucht, Hunger, Tieffliegerangriffe. Es war eine Demoralisierung im Gange. Was ist noch eine Schulordnung, wenn alles zusammenbricht? Man nahm, was man brauchte. Es war ein Zusammenbruch der mir gewohnten Ordnung. Und ich habe das dann wirklich als eine riesen Erleichterung empfunden, als in meinem Fluchtort Tegernsee dann die amerikanischen Truppen einmarschiert sind.
Übrigens hatten wir vor denen große Angst. Das war uns eingeimpft worden, sie würden wer weiß was mit uns machen. Das alles ist ja nicht geschehen. Und wir waren wirklich froh, davon gekommen zu sein, mit dem Leben davon gekommen zu sein – mein Vater nicht, der im Krieg geblieben ist -, aber für uns begann wirklich ein neues Leben. Aber die Traumatisierung in meiner Generation und bei mir bleibt natürlich. Und ich kann wirklich nur sagen: Was wir heute erleben mit dem Lockdown, war im Grunde nichts gegen diesen damaligen völligen Zusammenbruch aller Ordnung. Das verbrecherische Regime, die Verbrecherclique, Hitler am Anfang, saß im Bunker und hat gewartet mit der Niederlage, mit dem Bekenntnis zur Niederlage, bis Berlin befreit war.
Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD)ume
Ende des Zweiten Weltkrieges - "Die Deutschen bedurften der Niederlage, um frei zu sein"
Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse hat sich dafür ausgesprochen, den 8. Mai in Deutschland zum Feiertag zu erklären. 75 Jahre nach Kriegsende bleibe es eine Aufgabe, die Erinnerung zu pflegen, sagte er im Dlf. Auch damit die Gefahr des Rechtsextremismus nicht zunehme.
Der eigentliche Anlass war ja die Befreiung Berlins. Das darf man nicht vergessen. Die Russen haben Berlin befreit unter unglaublichen Menschenopfern. Allein der Kampf um Berlin an der Oder hat 40.000 russischen Soldaten das Leben gekostet, in Berlin noch mal so vielen. Ein Häuserkampf, bis sie dann schließlich zum Reichstag vorgedrungen sind. Deshalb habe ich hohen Respekt vor den russischen Befreiern und vor den Familien. Fast jede russische Familie ist von diesen Opfern betroffen.
Bild zeigt das zerstörte Nürnberg, Text: 8. Mai 1945, Als stünde die Zeit still
Als stünde die Zeit still - Erinnerungen an das Kriegsende (imago images / Everett Collection)
"Der Schlussstrich würde uns der demokratischen Legitimation berauben"
Zagatta: Dennoch, Herr Baum, hat man sich ja mit der Deutung dieses 8. Mai 1945 erst einmal sehr schwer getan in der Nachkriegszeit. War das für Sie auch eine Zäsur, diese berühmt gewordene Rede 1985 zum 40. Jahrestag, als der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker so ausdrücklich von einer Befreiung gesprochen hat, von einer Befreiung vom Nationalsozialismus?
Baum: Ja, das war natürlich eine ganz wichtige Zäsur. Und unsere Demokratie bleibt ja nur glaubwürdig, wenn wir uns immer erinnern. Dem Bundespräsidenten Steinmeier ist da wirklich nur zuzustimmen. Ich habe aber schon Thomas Mann gehört und gelesen, seine berühmte Rede 1947 in Washington. Mir war klar, was da passierte, dass im Grunde wir nicht besiegt worden sind, sondern befreit worden sind, obwohl in der Schule meine Lehrer das anders sahen. Da gab es immer noch den Eid auf den Führer und die Nürnberger Prozesse waren nicht in Ordnung und der 20. Juli, das waren Kriegsverräter. Es hat lange gedauert, bis wir diese Denkweise überwunden haben. Und in der Tat: Es darf keinen Schlussstrich geben. Der Schlussstrich würde uns der demokratischen Legitimation heute berauben.
"Der Rechtsextremismus ist so stark wie nie zuvor"
Zagatta: Dass es sich da um einen Tag der Befreiung gehandelt hat, das relativiert im politischen Spektrum ja eigentlich auch nur die AfD und ihr Umfeld. Sie sagen, es darf keinen Schlussstrich geben. Das sind ja sonst die einzigen, aus diesem Umfeld wird das gefordert. Sind das Meinungen von ewig Gestrigen, denen man keine große Bedeutung mehr schenken muss, oder sind die so relevant, dass man sie ernst nehmen muss, dass Sie sich Sorgen machen?
Baum: Ich mache mir in der Tag Sorgen. Der Rechtsextremismus in Deutschland ist so stark wie nie zuvor. Er durchdringt auch gesellschaftliche Bereiche, auch außerhalb der rechtsextremistischen Partei. Es geht nicht nur um rechtsextremistische Gewalttaten, sondern es schleicht sich ein Denken ein, das ich für hoch gefährlich halte – ein Denken nämlich, dass das alles nicht so schlimm war, bis hin zu der Denke, dass wir die eigentlichen Opfer sind. Schrecklich!
Man muss sich doch vor Augen führen, dass der große vaterländische Krieg für die Russen eine Legitimation dann des Schreckensregimes von Stalin war, das dazu geführt hat, dass die osteuropäischen Länder über Jahrzehnte unterdrückt waren. Die hatten keine Befreiung; wir hatten sie.
"Es geht nicht um Putin, sondern um die russische Bevölkerung"
Zagatta: Darauf wollte ich Sie ansprechen. Sie haben gleich am Anfang diese Opfer erwähnt. Die meisten Todesopfer hat die damalige Sowjetunion erlitten. Aber die Länder wie Ukraine oder Polen, die weisen mit Blick auf die Unterdrückung durch Moskau dann auch darauf hin, dass das Kriegsende für sie noch keine Befreiung war. Ganz aktuell, angesichts des Krieges in der Ostukraine und der Annektierung der Krim durch Russland, da gibt es ja auch heftigen Protest. Wir haben den ukrainischen Botschafter heute bei uns im Deutschlandfunk gehört. Können Sie das an einem solchen Tag, wo es jetzt um diese Erinnerung geht, auch nachvollziehen?
Baum: Zunächst einmal muss man die Erinnerung trennen von der heutigen politischen Situation. Es geht jetzt nicht um Putin, sondern es geht um die russische Bevölkerung. Ich war in meinem Leben sehr oft, zum ersten Mal 1966, in Russland und jetzt immer wieder. Ich habe kaum Ressentiments gegen die Deutschen gespürt. Und das müssen wir ernst nehmen. Es geht nicht jetzt darum, ob man das Putin-Regime bekämpft oder nicht, sondern es geht um das Gedenken. Und da verstehe ich es nicht, dass man zu bestimmten Ereignissen auch den jetzigen Staatschef Putin nicht eingeladen hat.
Andrij Melnyk, ukrainischer Botschafter in Deutschland
Zweiter Weltkrieg in der Ukraine - "Ein riesiger blinder Fleck im historischen Gedächtnis Deutschlands"
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, kritisiert, sein Volk werde beim Gedenken an den Zweiten Weltkrieg kaum berücksichtigt. Deutschland müsse sich seiner historischen Verantwortung gegenüber der Ukraine stellen, sagte er im Dlf. Es habe dort acht Millionen Kriegsopfer gegeben.
Es ist mir vollkommen klar, dass wir nicht unbefangen jetzt deutsch-russische Beziehungen entwickeln können. Ich bin übrigens der Sohn einer Russin und spüre, wie die Russen denken. Die russische Situation ist gekennzeichnet durch Unterdrückung nach innen und Aggression nach außen. Das können wir nicht verschweigen. Aber wir sollten unsere Sympathien mit dem russischen Volk zeigen, gerade an einem Tag wie heute. Die Befreiung Berlins war dann das Ende des Krieges. Und für mich ist das Ehrenmal heute, das russische Ehrenmal in Berlin zum Gedenken an die russischen Toten, die im Häuserkampf um Berlin ums Leben gekommen sind.
"Es hilft die Erinnerung"
Zagatta: In diesem Zusammenhang noch einmal ganz grundsätzlich, Herr Baum. Welchen Sinn machen solche Gedenktage, wenn laut einer Umfrage fast die Hälfte der Jugendlichen in Deutschland mit Auschwitz nicht anfangen kann, nicht weiß, was dort passiert ist? Helfen da solche Gedenktage?
Baum: Es hilft zunächst einmal die Erinnerung, so wie wir sie heute besprechen – auch unter uns. Wir müssen den Jungen die Erinnerung weitergeben. Wir müssen ihnen weitergeben, was wirklich geschehen ist. Ob man dazu eine Menge von Gedenktagen braucht, das kann man bezweifeln. Es gibt ja übrigens Leute, die sagen, der 9. November wäre ein besserer Gedenktag. Aber dass wir uns heute des Kriegsendes so erinnern, wie das geschieht, ist absolut notwendig. Und wir müssen den jungen Menschen auch vermitteln, dass wir auf einem dünnen Eis stehen. Die Befreiung ist kein dauerhafter Zustand. Den müssen wir verteidigen. Wir müssen unser Grundgesetz verteidigen. Da hat Steinmeier völlig recht, wenn er das heute betont. Wir sind nicht aus dem Schneider. Wir werden immer wieder gefordert, unsere Freiheit zu verteidigen.
Zagatta: Würde da ein nationaler Feiertag helfen? Darüber wird ja im Moment diskutiert.
Baum: Warum nicht! Ich würde sagen, das Kriegsende war eine solche einschneidende Zäsur, dass man das doch in besonderer Weise im Gedenken halten muss. Und es sind ja wirklich nicht nur die Russen, sondern viele andere. Gehen Sie über einen Soldatenfriedhof in den Ardennen. Da liegen junge Männer aus Ohio oder Missouri, die für unsere Freiheit gekämpft haben. Das darf man nicht vergessen. Natürlich gibt es auch viele deutsche Opfer und viele deutsche Kriegstoten. Alles unbestritten. Aber befreit haben sie uns nicht, das waren die anderen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.