Donnerstag, 28. März 2024

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800 Jahre Dresdner Kreuzchor
"Wir spüren eine Verantwortung für die Stadt"

Seit 800 Jahren singen Jungen und junge Männer gemeinsam in der Dresdner Kreuzkirche. Man habe eine Verantwortung für den Ruf der Stadt, sagte der Kreuzkantor Roderich Kreile im DLF. "Wir bemühen uns sehr, hier einmal andere Botschaften nach außen zu senden und auch hier im Inneren etwas zu bewegen." Man schäme sich für das, was in Dresden geschehe, sagte er mit Blick auf Pegida.

Roderich Kreile im Gespräch mit Christoph Heinemann | 04.03.2016
    Roderich Kreile, Kreuzkantor und Leiter des Dresdner Kreuzchors.
    Roderich Kreile, Kreuzkantor und Leiter des Dresdner Kreuzchors. (picture alliance / dpa / Marko Förster)
    Christoph Heinemann: Wir reden über das andere Sachsen. Wenn diese Jungs den Mund aufmachen, dann ist niemals Gebrüll oder Gejohle zu hören. Sie klingen vielmehr so:
    Heinemann: Den Kreuzchor muss man nicht vorstellen. 128 Jungen und junge Männer zwischen neun und 19 Jahren. Heute feiert der Kreuzchor in Dresden offiziell seinen 800. Geburtstag. Und ich habe vor dieser Sendung das folgende Gespräch mit dem Chorleiter, mit Kreuzkantor Roderich Kreile geführt: Professor Kreile, über die Jahreszahl wird immer wieder gestritten. Wurde der Kreuzchor tatsächlich 1216 gegründet?
    Roderich Kreile: Das verliert sich im Dunkel der Vergangenheit. Wir schätzen, dass es so sein kann. Der Chor kann aber auch einige Jahre früher angefangen haben. Wir machen das fest an dem Gründungsdatum der Stadt Dresden und der daraus beurkundeten Kirche. Wir sagen, dass eine Vorgängerkirche der heutigen Kreuzkirche, eine Nikolaikirche, um 1215 da war und natürlich dann die entsprechenden Gottesdienste stattfanden und natürlich zu dem Zeitpunkt eigentlich schon gesungen werden musste. Wir haben in der Vergangenheit - dieser Termin, dieses Datum ist überliefert - dann hochgerechnet und haben uns dann irgendwann in unserer Vergangenheit mal auf das Jahr 1216 als wahrscheinliches Gründungsdatum festgelegt.
    "Es sind oft nicht die Eltern, die sehr ehrgeizig sind, sondern die Jungs"
    Heinemann: Etwa seit damals gibt es die Kruzianer. Wie wird man Kruzianer?
    Kreile: Man sollte Lust am Singen haben als Junge. Ein Vorurteil möchte ich ausräumen: Es sind oft nicht die Eltern, die sehr ehrgeizig sind, sondern es sind die Jungs, die singen wollen und die hier natürlich in dem Umfeld der Städte Dresden und Leipzig es ja kennengelernt haben, dass es für Jungs ganz selbstverständlich sein mag zu singen, was nicht in allen Landstrichen Deutschlands so der Fall ist. Der Junge nimmt den Kreuzchor irgendwie wahr, sei es in den Medien oder er ist Dresdener, und dann hat er Lust und die Eltern unterstützen ihn dabei und dann hat er die Möglichkeit, bei uns schon in den Vorbereitungsklassen mitzuwirken.
    Heinemann: Was zeichnet die berühmten Kruzianer-Stimmen aus?
    Kreile: Ach wissen Sie, da wird natürlich viel hineingeheimst. Wenn wir einen Überblick haben über die hervorragenden Knabenchöre Deutschlands, unsere Freunde in Leipzig, die Thomaner, oder die Regensburger, die Hannoveraner, jeder dieser Chöre hat eine gewisse landschaftliche Prägung, und wie die Dialekte, wie die Sprachausformung und der Sprachklang ist, so schlägt sich das oft in der Singweise der Chöre nieder. Wir haben einen relativ obertonreichen Klang, einen transparenten Klang. Wir sind agil, weil wir sehr viel a capella singen. Das sind Dinge, die ich anführen würde, um die Kruzianer zu beschreiben.
    Heinemann: A capella heißt ohne Orchesterbegleitung.
    Kreile: Heißt ohne Orchesterbegleitung.
    "Wir haben seit vielen Jahren einen konstanten Zulauf"
    Heinemann: Ist es schwieriger geworden, junge Menschen im digitalen Zeitalter mit all den Ablenkungsmöglichkeiten, die es gibt, zum Singen zu bewegen und für das Singen zu begeistern?
    Kreile: Nein. Die Antwort mag vielleicht überraschen. Wir haben seit vielen, vielen Jahren einen konstanten Zulauf, der es uns ermöglicht, sowohl Quantität als auch Qualität des Chores zu halten. Natürlich: Die Ablenkungen durch digitale Medien sind natürlich da. Unsere Jungs hören in ihrer Freizeit und sehen über die Pads und über ihre Smartphones natürlich alles, was auch Jugendkultur ist. Trotzdem bleibt dieses ernste Bestreben, sich auch einer Sache wie dem Dresdener Kreuzchor hinzugeben, ganz stark und eine ganz starke Motivation bei Jungs und bei Eltern. Ich sehe hier keine Gefährdungen. Wir müssen nur achtsam sein, wie wir mit diesen Medien dann umgehen, auch im Alltag umgehen.
    Heinemann: Sie haben eben die Freunde in Leipzig schon erwähnt. Worin unterscheidet sich der Kreuzchor von den Thomanern?
    Kreile: Na ja. Wir haben eine andere Kirche mit einer anderen Akustik. Wir haben eine riesengroße Kirche, die größte in Sachsen. Von daher ist schon aus der Tradition der letzten Jahrzehnte der Kreuzchor größer als der Thomanerchor. Und nachdem die Leipziger ihren Johann Sebastian Bach haben, dem sie sehr verpflichtet sind und dessen Werk sie ganz intensiv pflegen, haben wir einen solchen Übervater, einen musikalischen Übervater nicht. Wir pflegen eine ganz breite Varietät von Stilen, von Komponisten, von Epochen in unserer Literaturauswahl.
    Heinemann: Und man muss noch dringend dazu sagen: Die Dresdener sind erfolgreicher im Fußball. Das heißt, das traditionelle Fußballspiel hat der Kreuzchor im vergangenen Jahr gegen die Thomaner gewonnen.
    Kreile: Im vergangenen Jahr. Aber man muss auch sagen, es gab eine Phase, da war der Pokal eine Zeit lang bei den Thomanern. Das ist wie mit Oxford und Cambridge im Rudern, mal die, mal die, und es ist schön zu sehen, wie ernst die Jungs das noch nehmen und mit welcher Hingabe sie dann auch Fußball spielen.
    "Es gab zu DDR-Zeiten Versuche des Staates, Einfluss zu nehmen"
    Heinemann: Lange Tradition, lange Geschichte. Wie hat der Kreuzchor die DDR überstanden?
    Kreile: Wir hatten zwei sehr starke Persönlichkeiten als Kreuzkantoren in dieser Phase. Zum einen Mauersberger, wo man auch sagen muss, der hat ja die vorhergehende politische Situation, das vorhergehende Regime, die Diktatur mit dem Chor gut überstanden. Er hat da geschickt agiert. Und wir hatten dann zu DDR-Zeiten in Martin Flämig auch eine ganz starke Persönlichkeit. Natürlich gab es Versuche des Staates, Einfluss zu nehmen, aber durch kraftvolles und geschicktes Agieren hat der Dresdener Kreuzchor auch in diesen Zeiten seinen Grundcharakter behalten können.
    Heinemann: Welche Rolle spielt dabei der Glaube?
    Kreile: Der Glaube spielte eine ganz starke Rolle dabei. Sowohl die Kruzianer als auch die Thomaner waren natürlich auch ein Zufluchtsort für Kinder aus Pfarrersfamilien, aus Kantorenfamilien und der Glaube war auch etwas, was wie eine innere Kraft uns Festigkeit gab, um nach außen bestehen zu können. Also wichtig, ja unbedingt!
    Heinemann: Wobei man dazu sagen muss, es geht auch durchaus handfest zu. Das sind jetzt keine besonders in sich gekehrte Jungs.
    Kreile: Nein, sind sie nicht. Auch ein Junge, der vor 3000 Leuten ein Solo singen sollte, muss eine gewisse persönliche Kraft und Stabilität haben. Nein, das wäre ja ein Unding. Wir arbeiten intensiv, ringen um die Musik, und das geht auch nur mit starken Persönlichkeiten.
    "Wir sind einem christlich-humanistischen Wertesystem verpflichtet"
    Heinemann: Welches ist - Stichwort starke Persönlichkeiten - Ihr Erziehungsziel?
    Kreile: Unser Erziehungsziel ist die rundum gebildete Persönlichkeit. Wir sind einem christlich-humanistischen Wertesystem verpflichtet, obwohl - das betone ich auch - wir als städtischer Chor ja weltanschaulich offen sind. Wir nehmen alle, die die musikalischen und charakterlichen Vorbedingungen und vor allen Dingen auch schulischen Vorbedingungen mitbringen. Und dann versuchen wir, in Zusammenarbeit mit dem evangelischen Kreuzgymnasium, in Zusammenarbeit mit der Kreuzkirche in Dresden einen rundum von diesem Wertesystem geprägten, aber auch rundum gebildeten Menschen aus unseren Instituten zu entlassen. Wichtig ist bei uns auch bei aller musikalischen Arbeit: Die Jungs müssen ein gutes Abitur erreichen können, trotz aller Belastungen.
    Heinemann: Belastung heißt Proben und Konzerte.
    Kreile: Proben und Konzerte natürlich. Ein Kruzianer hat auch durch Tourneen im Jahr vier Wochen bestimmt Schulausfall und das muss durch Fleiß und Intelligenz schon kompensiert werden.
    "Nicht anstecken bei dem, was hier auf den Straßen geschieht"
    Heinemann: Professor Kreile, hässliche Bilder waren zuletzt aus Sachsen zu sehen, nicht nur in Clausnitz oder Bautzen. Können die Kruzianer im übertragenen Sinne jetzt des Satzes dieses Hassgebrüll übertönen?
    Kreile: Wir hoffen, dass zumindest viele von uns hier in Dresden, wir schämen uns ja für das, was hier alles geschieht, aber dass es zumindest gemildert wird, wenn wir - und das war eine sehr erfolgreiche Aktion - in einem Oktoberkonzert Flüchtlinge einladen zu uns in unser Konzert, oder wenn wir im Stadion vor 18.000 Leuten singen, mit denen auch Weihnachtslieder singen und ich Gelegenheit habe, den Leuten zu sagen, was es wirklich bedeutet, wenn man Weihnachtslieder singt. Wir, jetzt sowohl der Kreuzchor, wobei ich die Jungs natürlich nicht für politische Demonstrationen einsetze - das verbietet sich mit Minderjährigen -, aber wir, die wir auch in der Intendantenrunde in Dresden zusammengefasst sind, wir, die wir eine Verantwortung für die Stadt und den Ruf der Stadt spüren, wir bemühen uns sehr, hier einmal andere Botschaften nach außen zu senden und auch hier im Inneren etwas zu bewegen.
    Heinemann: Und Sie reden auch mit den Jungen über zum Beispiel Pegida?
    Kreile: Ja, und die Jungs kennen meine Positionierung. Das ist ganz klar. Und ich gehe auch davon aus, nachdem wir alle einem wirklich humanistischen und christlichen Wertesystem verpflichtet sind, dass wir uns nicht anstecken bei dem, was hier auf den Straßen geschieht.
    "Ich mache mir keine wirklichen Sorgen um die Zukunft des Kreuzchores"
    Heinemann: Professor Kreile, Sie sind der 28. Kreuzkantor. Vieles ändert sich. Wir haben schon über einiges gesprochen, Kommunikation, Mobilität, Globalisierung. Was bedeutet das mit Blick auf die Zukunft für den Kreuzchor?
    Kreile: Nun, erst mal mache ich mir keine wirklichen Sorgen um die Zukunft des Kreuzchores. Wir sehen, dass dieser Bildungsweg, diese umfassende Ausbildung und auch Herzensbildung, um die wir uns bemühen, dass die ein hohes Maß an Attraktivität hat. Und ich denke, auch eine Gesellschaft, die auch in Umbrüchen ist, kann froh sein, wenn sie solche Anker und solche Traditionen hat, die vielleicht auch in dem einen oder anderen Bereich eine Leuchtturmfunktion haben.
    Heinemann: Professor Roderich Kreile, der Kreuzkantor, der Leiter des berühmten Dresdener Kreuzchores. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Kreile: Ich danke Ihnen, Herr Heinemann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.